Kapitel 9

Die Daimler-Limousine kroch durch die Tast völlig verstopfte Straße in Mongkok, ein Ballungszentrum, das nicht darum zu beneiden ist, daß es der am dichtesten besiedelte Stadtteil in der Menschheitsgeschichte ist. Besiedelt fast ausschließlich von Chinesen. Ein westliches Gesicht war hier so selten, daß es neugierige Blicke auf sich zog, gleichermaßen feindselig wie belustigt. Weiße wurden nicht dazu animiert, sich nach Einbruch der Dunkelheit in Mongkok blicken zu lassen. Es gab hier kein asiatisches Gegenstück zum Cotton-Club in Harlem. Das hatte nichts mit Rassismus zu tun, sondern war nur realistisch gedacht. Schon für die eigenen Leute war zu wenig Platz - und das Eigene beschützten sie, wie das die Chinesen seit den frühesten Dynastien jahrtausendelang getan hatten. Die Familie war ihr ein und alles, und zu viele Familien lebten, wo nicht im Elend, so doch in einen einzigen Raum eingepfercht, in dem nichts war außer einem Bett und Matten auf den rohen, sauberen Böden. Überall zeugten die vielen kleinen Balkons von einem ausgeprägten Reinlichkeitssinn, denn niemand hielt sich je dort auf, dort wurde immerzu nur Wäsche aufgehängt. Die offenen Balkons überzogen die Fassaden und schienen ständig in Bewegung zu sein, denn die riesigen Wände aus Stoff blähten sich im Wind, und alle nur erdenklichen Kleidungsstücke tanzten zu Zehntausenden auf der Stelle, noch ein Beweis für die ungeheuer große Zahl von Einwohnern in diesem Viertel.

Arm war Mongkok auch nicht. Überall war dick aufgetragene Farbe, am auffälligsten ein leuchtendes Rot, das wie ein Magnet wirkte. Und wo immer der Blick über die Menschenmenge hinwegschweifte, fiel er auf riesengroße, kunstvoll bemalte Tafeln; Werbewände, die sich drei Stockwerke hoch auftürmten, säumten die Straßen und Gassen, und die chinesischen Schriftzeichen gaben sich alle Mühe, die Verbraucher zu verführen. Es gab Geld in Mongkok, von dem nicht geredet wurde, und Geld, mit dem geprotzt wurde, aber nicht nur ehrlich verdientes Geld. Es fehlte an Platz, und der ganze Platz gehörte den Chinesen, nicht den Außenseitern, es sei denn, ein Außenseiter - den ein Chinese mitgebracht hatte - brachte Geld, um die unersättliche Maschinerie zu füttern, die ein unendlich großes Sortiment weltlicher Güter produzierte, von denen manche schon gar nicht mehr von dieser Welt waren. Man mußte nur den richtigen Blick und das nötige Geld haben. Pakfei, der Fahrer, hatte den richtigen Blick und Jason Borowski das nötige Geld.

»Ich halte jetzt und gehe telefonieren«, sagte Pak-fei und lenkte den Daimler hinter einen in zweiter Reihe geparkten Lastwagen. »Ich schließe Sie ein. Bin gleich wieder da.«

»Ist das nötig?« fragte Webb.

»Es ist Ihre Aktentasche, Sir, nicht meine.«

Du großer Gott, dachte David, was bin ich für ein Vollidiot! An den Attachekoffer hatte er nicht gedacht. Da trug er über 300 000 Dollar ins Herz von Mongkok wie ein Lunchpaket. Er packte den Griff, nahm den Koffer auf den Schoß und überprüfte die Schlösser; sie waren zu, aber falls man die beiden Knöpfe zurückstieße, wenn auch nur leicht, würde der Deckel aufspringen. Er schrie dem Fahrer nach, der bereits ausgestiegen war: »Bringen Sie mir Klebeband mit!«

Zu spät. Die Straßengeräusche waren ohrenbetäubend, das Gewimmel wie eine wogende Decke aus Menschenleibern, und sie waren überall. Und plötzlich waren die Fenster des Daimler dieses Überall. Hundert Augenpaare spähten von allen Seiten herein, und dann preßten sich verzerrte Gesichter gegen das Glas - auf allen Seiten - und Webb war der Mittelpunkt eines Vulkans. Er hörte Schreie - Bin go ah? und Chong man tui, was im Englischen etwa >Wer ist das?< bedeutete und >Ein sattgefressenes Maul< oder zusammengenommen >Was ist das denn für ein Großkotz?< Er kam sich vor wie ein Tier in einem Käfig, belauert von einer Horde Bestien, die einer anderen Spezies angehörten und vielleicht bösartig waren. Er hielt den Koffer fest und starrte geradeaus, und als zwei Hände sich in dem schmalen Spalt im Fenster zu seiner Rechten verkrallten, griff er langsam nach dem Jagdmesser in seiner Tasche. Die Finger schoben sich durch den Spalt.

»jaul« schrie Pak-fei und bahnte sich einen Weg durch die Menge. »Das ist ein ungeheuer wichtiger Taipan, und die Polizei wird euch siedendes Öl auf die Eier schütten, wenn ihr ihn nicht in Ruhe laßt! Geht weg, weg!« Er schloß auf, sprang hinter das Steuer und warf die Tür zu, begleitet von zornigen Flüchen. Er ließ den Motor an, ließ ihn aufheulen und drückte dann auf die laute Hupe und ließ die Hand dort, so daß die Kakophonie unerträglich wurde, während sich das Meer aus Leibern langsam und widerstrebend teilte. Der Daimler hüpfte und ruckte die schmale Straße hinunter.

»Wo fahren wir hin?« schrie Webb. »Ich dachte, wir wären schon da!«

»Der Geschäftsmann, mit dem Sie verhandeln werden, hat sein Büro verlegt, Sir, und das ist gut, weil das hier nicht gerade die angenehmste Gegend von Mongkok ist.«

»Sie hätten früher anrufen sollen. Das eben war nicht besonders erfreulich!«

»Erlauben Sie mir, Sir, den Eindruck zu berichtigen, daß meine Dienste zu wünschen übriglassen«, sagte Pak-fei und warf David im Rückspiegel einen Blick zu. »Wir wissen jetzt, daß Sie nicht verfolgt werden. Und das heißt, daß auch ich nicht an den Ort verfolgt werde, zu dem ich Sie bringe.«

»Wovon reden Sie?«

»Sie betreten mit leeren Händen eine große Bank am Chater Square und kommen nicht mit leeren Händen heraus. Sie tragen einen Aktenkoffer.«

»Und?« Webb behielt den Blick des Fahrers im Auge, der ihn immer wieder streifte.

»Kein Wachmann hat Sie begleitet, und es gibt böse Menschen, die nach Männern wie Ihnen Ausschau halten - oft geben böse Menschen ein Zeichen an die anderen draußen. Wir leben in unsicheren Zeiten, also war es besser, in diesem Fall ganz sicherzugehen.«

»Und Sie sind sicher ... jetzt.«

»O ja, Sir!« Pak-fei lächelte. »Ein Automobil, das uns auf einer Nebenstraße in Mongkok verfolgt, ist leicht auszumachen.«

»Also haben Sie nicht telefoniert.«

»O doch, Sir. Man muß immer erst anrufen. Aber es war ein sehr kurzes Gespräch, und dann bin ich die Straße zurückgegangen, ohne meine Mütze natürlich, und viele Meter. Es gab keine zornigen Männer in Automobilen, und keiner ist ausgestiegen, um über die Straße zu laufen. Ich kann Sie jetzt mit großer Erleichterung zu dem Geschäftsmann bringen.«

»Ich bin auch erleichtert«, sagte David und fragte sich, warum Jason Borowski ihn einen Augenblick lang im Stich gelassen hatte. »Und ich wußte nicht einmal, daß ich Grund zur Sorge gehabt hätte. Nicht was Verfolger anbelangt.«

Das Menschengewimmel von Mongkok verlief sich zusehends, als die Häuser niedriger wurden, und Webb konnte hinter hohen Maschen drahtzäunen die Wasserfläche des Victoria Harbor ausmachen. Hinter der Absperrung drängten sich Lagerhäuser und Schuppen vor den Piers, wo Handelsschiffe am Dock lagen und schwere Motoren ächzend und dröhnend riesige Container in die Laderäume hievten. Pakfei bog in die Zufahrt eines vereinzelt dastehenden einstöckigen Lagerhauses ein; es wirkte verlassen, man sah ringsherum nichts als Asphalt, und nur zwei Autos waren davor geparkt. Das Tor war abgeschlossen; ein Wachmann kam aus einer Glaskabine auf den Daimler zu, ein Klemmbrett in der Hand.

»Sie werden meinen Namen nicht auf einer Liste finden«, sagte Pak-fei auf chinesisch und im Brustton großer Autorität. »Informieren Sie Mr. Wu Song, daß Regent Nummer fünf hier ist und ihm einen Taipan bringt, der ebenso ehrenwert ist wie er selbst. Er erwartet uns.« Der Wachmann nickte und kniff in der Nachmittagssonne die Augen zusammen, um einen Blick auf den wichtigen Passagier zu erhaschen.

»Aiya!« schrie Pak-fei angesichts dieser Ungehörigkeit. Dann wandte er sich um und sah Webb an. »Sie dürfen das nicht mißverstehen, Sir«, sagte er, als der Mann zu seinem Telefon zurückrannte. »Daß ich den Namen meines schönen Hotels benutze, hat nichts mit meinem schönen Hotel zu tun.

In Wahrheit würde ich meine Stelle verlieren, wenn Mr. Liang oder sonst jemand wüßte, daß ich in einer solchen Angelegenheit den Namen des Hotels erwähnt habe. Es ist nur so, daß ich am fünften Tag des fünften Monats im Jahre neunzehnhundertfünfunddreißig unseres Herrn und Heilands geboren wurde.«

»Ich werde es für mich behalten«, meinte David und lächelte bei sich und dachte, daß Jason Borowski ihn also doch nicht im Stich gelassen hatte. Dieser legendäre Mann kannte die Mittel und Wege zu den richtigen Kontaktleuten - kannte sie blindlings -, und dieser Mann war da, steckte in David Webb.

Der mit Vorhängen verhängte weißgetünchte Raum in dem Lagerhaus, den verschlossene, waagrechte Schaukästen säumten, erinnerte an ein Museum mit Überbleibseln vergangener Kulturen, zum Beispiel primitive Werkzeuge, versteinerte Insekten und Kultfiguren vergangener Religionen. Der Unterschied lag nur in den Gegenständen. Hier wurden Schußwaffen zur Schau gestellt, die ganze Bandbreite des Arsenals, angefangen bei kleinkalibrigen Handfeuerwaffen und Karabinern, bis zu den modernsten Waffen der Kriegsgeschichte

- Maschinengewehre mit spiralförmig angeordneten Magazinen, die tausend Schuß enthielten, bis zu lasergelenkten Raketen, die man von der Schulter abfeuerte; ein Arsenal für Terroristen. Zwei Männer in Straßenanzügen hielten Wache, einer vor dem Eingang zu dem Raum, der andere drinnen. Wie zu erwarten war, verbeugte sich der erste zur Entschuldigung und tastete Webb und seinen Fahrer mit einem elektronischen Suchgerät ab. Dann griff der Mann nach dem Aktenkoffer. David zog ihn weg, schüttelte den Kopf und zeigte auf das Suchgerät. Der Wachmann hatte den Koffer bereits damit untersucht.

»Persönliche Papiere«, sagte David auf chinesisch zu dem verblüfften Mann und betrat den Raum.

David brauchte fast eine volle Minute, um das, was er sah, in sich aufzunehmen und zu fassen. Er betrachtete die unübersehbaren Nichtraucherzeichen auf englisch, französisch und chinesisch an allen Wänden, und fragte sich, weshalb sie da waren. Nichts lag frei herum. Dann ging er zu dem Schaukasten mit kleinen Waffen und betrachtete die Auslage. Er umklammerte den Aktenkoffer, als wäre der eine Rettungsleine zur Vernunft in einer Welt, die den Verstand verloren hatte und von Werkzeugen der Gewalt beherrscht wurde.

»Huanying!« schrie eine Stimme, und dann tauchte ein Mann auf, der jugendlich wirkte. Er kam aus einer mit Paneelen verkleideten Türe und trug einen jener eng anliegenden europäischen Anzüge mit betonten Schultern, schmaler Taille und Rockschößen wie ein Pfauenschwanz - das Produkt von Modeschöpfern, die Männer der Eleganz zuliebe in Neutren verwandelten.

»Das ist Mr. Wu Song, Sir«, sagte Pak-fei und verbeugte sich zuerst vor dem Geschäftsmann und dann vor Webb. »Es ist nicht notwendig, daß Sie Ihren Namen nennen, Sir.«

»OH!« stieß der junge Geschäftsmann hervor und deutete auf Davids Aktenkoffer. »Bu jing ya!«

»Ihr Kunde spricht fließend chinesisch, Mr. Song.« Der Fahrer wandte sich David zu. »Wie Sie hören, Sir, nimmt Mr. Song an Ihrem Koffer Anstoß.«

»Den gebe ich nicht aus der Hand«, sagte Webb.

»Dann ist ein ernsthaftes Gespräch über Geschäfte ausgeschlossen«, erwiderte Wu Song in makellosem Englisch.

»Warum? Ihr Wachmann hat ihn überprüft. Er enthält keine Waffen, und selbst wenn - sobald ich auch bloß versuche, ihn aufzumachen, liege ich vermutlich schon flach, ehe der Deckel offen ist.«

»Kunststoff?« sagte Wu Song in fragendem Ton. »Kunststoffmikrofone und ein Tonbandgerät, dessen Metallgehalt so niedrig ist, daß selbst komplizierte Geräte sie nicht entdecken können?«

»Sie leiden ja an Verfolgungswahn.«

»In Ihrem Lande würde man sagen, das bringt das Geschäft so mit sich.«

»Sie beherrschen meine Sprache ausgezeichnet.«

»Columbia University, Examensjahrgang dreiundsiebzig.«

»Hauptfach Waffenkunde?«

»Nein, Marketing.«

»Aiya!« schrie Pak-fei, aber zu spät. Im schnellen Wortwechsel waren die Wächter unbemerkt näher gekommen und hatten sich blitzschnell auf Webb und den Fahrer gestürzt.

Jason Borowski wirbelte herum, ließ den Arm des Angreifers von seiner Schulter abrutschen, klemmte ihn unter den eigenen Arm, drehte sich auf der Stelle, zwang den Mann zu Boden und schmetterte ihm den Aktenkoffer ins Gesicht. Die Bewegungen fielen ihm wieder ein. Die Gewalt war wieder da, so wie sie einst auf einer Mittelmeerinsel zu einem verwirrten, unter Amnesie leidenden Mann zurückgekehrt war. So viel vergessen, so viel unerklärt, aber erinnert. Der Mann fiel benommen zu Boden, während sein Partner sich wütend Webb zuwandte, nachdem er Pak-fei niedergeschlagen hatte. Er sprang ihn mit einem Satz an, die Hände schräg vor dem Körper; seine breite Brust und seine Schultern waren wie zwei Rammen. David ließ den Aktenkoffer fallen, wich nach rechts aus und wirbelte dann wieder herum, sein linker Fuß zuckte hoch und traf den Chinesen mit solcher Gewalt in den Unterleib, daß der Mann sich schreiend zusammenkrümmte. Im nächsten Augenblick trat Webbs rechter Fuß zu, und seine Fußspitze bohrte sich dem Angreifer unmittelbar unter der Kinnlade in die Kehle. Der Mann wälzte sich, nach Luft schnappend, am Boden, eine Hand am Unterleib, die andere am Hals. Jetzt versuchte der erste Wachmann aufzustehen; Borowski schmetterte ihm das Knie in die Brust, so daß er ein paar Meter weit durch den Raum flog und bewußtlos unter einem Schaukasten zu Boden sank.

Der junge Waffenhändler von der Columbia-Universität war wie benommen. Sein Blick sprach Bände: Er wurde hier Zeuge des Undenkbaren und rechnete jeden Augenblick damit, daß das, was er sah, sich umkehrte, daß seine Wachleute die Sieger waren. Und dann wurde ihm plötzlich klar, daß das nicht geschehen würde; er rannte voller Panik auf die Tür zu und erreichte sie in dem Moment, in dem Webb ihn eingeholt hatte. Davids Hand packte die gepolsterten Schultern und riß den Geschäftsmann zurück. Wu Song stolperte über die eigenen Füße und stürzte; er hob bittend die Hände.

»Nein, bitte! Nicht! Ich kann körperliche Gewalt nicht ertragen! Nehmen Sie sich, was Sie wollen!«

»Sie können was nicht ertragen?«

»Sie haben es doch gehört, mir wird davon schlecht!«

»Und was, zum Teufel, ist das hier?« schrie David und machte eine Handbewegung, die den ganzen Raum einschloß.

»Angebot und Nachfrage, sonst nichts. Nehmen Sie sich, was Sie wollen, aber rühren Sie mich nicht an. Bitte!«

Angeekelt trat Webb neben den gestürzten Fahrer, der sich jetzt langsam auf die Knie aufrichtete. Aus seinen Mundwinkeln rann Blut. »Was ich nehme, bezahle ich auch«, sagte er zu dem Waffenhändler, während er den Fahrer am Arm packte und ihm beim Aufstehen half. »Sind Sie unverletzt?«

»Sie handeln sich viel Ärger ein, Sir«, erwiderte Pak-fei mit zitternden Händen und angsterfülltem Blick.

»Für das hier können Sie nichts. Und Wu Song weiß das, nicht wahr, Wu?«

»Ich habe Sie hierhergebracht!« beharrte der Fahrer.

»Weil ch etwas kaufen wollte«, fügte David schnell hinzu. »Bringen wir es hinter uns. Aber zuerst fesseln Sie diese zwei Schläger. Nehmen Sie die Vorhänge. Reißen Sie sie herunter!«

Pak-fei warf dem jungen Waffenhändler einen flehenden Blick zu. »Beim allmächtigen Heiland der Christen, tun Sie, was er sagt!« schrie Wu Song. »Sonst schlägt er mich! Nehmen Sie die Vorhänge! Fesseln Sie die beiden, Sie Schwachkopf!«

Drei Minuten später hielt Webb eine seltsam aussehende Waffe in der Hand, klobig, aber nicht groß. Es handelte sich um eine ganz neue Konstruktion; der Schalldämpfer ließ sich pneumatisch befestigen, so daß ein Schuß nur wie ein lautes Spucken klang - höchstens -, ohne daß die Treffsicherheit auf kurze Distanz beeinträchtigt wurde. Die Waffe enthielt neun Schuß, und man konnte den Ladestreifen binnen Sekunden im Kolben auswechseln; und er hatte drei davon in Reserve -sechsunddreißig Patronen mit der Feuerkraft einer 357er Magnum, und das Ganze in einer Waffe, die nur halb so groß wie ein 45er Colt war.

»Bemerkenswert«, sagte Webb nach einem Blick auf die gefesselten Wachleute und den immer noch zitternden Pak-fei. »Wer hat sie konstruiert?« Soviel Sachkenntnis fiel ihm wieder ein. Soviel Vertrautes. Aber woher?

»Als Amerikaner beleidigt Sie das vielleicht«, antwortete Wu Song, »aber es handelt sich um einen Mann in Bristol, Connecticut, der begriffen hat, daß die Firma, für die er arbeitet

- als Konstrukteur - ihn nie angemessen für seine Erfindung entlohnen würde. Also hat er sich durch Mittelsmänner Zugang zum internationalen Schwarzmarkt verschafft und gegen Höchstgebot verkauft.«

»An Sie?«

»Ich investiere nicht, ich vermarkte.«

»Richtig, das hatte ich vergessen. Angebot und Nachfrage.«

»Genau.«

»An wen bezahlen Sie?«

»Ein Nummernkonto in Singapur, sonst weiß ich nichts. Ich bin natürlich abgesichert. Alles läuft auf Kommission.«

»Aha. Wieviel kostet das?«

»Nehmen Sie sie. Als Geschenk.«

»Sie stinken. Von Leuten, die stinken, nehme ich keine Geschenke an. Wieviel?«

Wu Song schluckte. »Der Listenpreis beträgt achthundert amerikanische Dollar.«

Webb griff in seine linke Tasche und holte die Scheine heraus, die er dort verstaut hatte. Er zählte acht Hundert-DollarNoten ab und gab sie dem Waffenhändler. »Voll bezahlt«, sagte er.

»Bezahlt«, bestätigte der Chinese.

»Fesseln Sie ihn«, sagte David zu dem nervösen Pak-fei. »Nein, keine Angst. Fesseln Sie ihn!«

»Tun Sie, was er sagt, Sie Idiot!«

»Und dann schaffen Sie sie alle drei hinaus. An die Wand neben dem Wagen. Und passen Sie auf, daß man sie vom Tor aus nicht sieht.«

»Schnell!« schrie Song. »Er ist zornig!«

»Darauf können Sie sich verlassen«, stimmte Webb ihm zu.

Vier Minuten später traten die zwei Wachleute und Wu Song etwas schwerfällig durch die äußere Tür in das blendende Sonnenlicht, das die tanzenden Reflexe von den Wellen des Victoria Harbor noch greller machten. Sie waren an Knien und Armen mit Vorhangfetzen gefesselt, so daß ihre Bewegungen zögernd und unsicher waren. Dafür, daß die Wachleute schwiegen, sorgten Stoffknebel im Mund. Was den jungen Händler betraf, bedurfte es keiner solchen Vorsichtsmaßregel; er war starr vor Schreck.

David war jetzt allein in dem weißgetünchten Raum. Er stellte den Aktenkoffer ab, ging schnell an den Schaukästen entlang

und studierte die darin dargebotenen Produkte, bis er das gefunden hatte, was er suchte. Er schlug das Glas mit dem Pistolenkolben ein und holte aus den Scherben die Waffen, die er einsetzen würde - Waffen, wie sie sich Terroristen auf der ganzen Welt wünschten -, Zeitzündergranaten, jede mit der Wirkung einer Zwanzig-Pfund-Bombe. Woher wußte er das? Woher kam das Wissen?

Er nahm sechs Granaten und überprüfte die Batterien. Wieso konnte er das? Woher wußte er, wo er nachsehen, welchen Knopf er drücken mußte? Unwichtig. Er wußte es. Er sah auf die Uhr.

Er stellte die Zeitzünder ein und rannte an den Schaukästen entlang, schlug das Glas mit der Pistole ein und ließ in jeden Kasten eine Granate fallen. Er hatte noch eine übrig und noch zwei Schadkästen; er warf einen Blick auf die Nichtraucherzeichen in drei Sprachen und traf eine weitere Entscheidung. Er rannte zu der mit Paneelen verkleideten Türe, öffnete sie und sah das, was er erwartet hatte. Die letzte Granate flog in den Raum hinter der Tür.

Webb sah auf die Uhr, griff nach dem Aktenkoffer und ging hinaus, wobei er sich Mühe gab, ganz ruhig zu wirken. Er ging auf den Daimler zu, der neben dem Lagerhaus parkte, wo Pakfei sich allem Anschein nach immer noch bei seinen Gefangenen entschuldigte. Er schwitzte heftig dabei. Der Fahrer wurde abwechselnd von Wu Song beschimpft und getröstet.

»Schaffen Sie sie zu dem Wellenbrecher hinüber«, befahl David und deutete auf die Steinmauer, die über das Wasser aufragte.

Wu Song starrte Webb an. »Wer sind Sie?« fragte er.

Der Augenblick war gekommen. Jetzt.

Wieder sah Webb auf die Uhr, während er auf den Waffenhändler zuging. Er packte Wu Song am Ellbogen und stieß den verängstigten Chinesen an der Gebäudemauer entlang, bis er so weit von den anderen entfernt war, daß sie nicht hören konnten, was er sagte. »Mein Name ist Jason Borowski«, sagte David ruhig.

»Jason Bö-.'« Der Asiate stöhnte, als hätte man ihm einen Dolch in die Kehle gestoßen, als sähe er mit eigenen Augen, wie er gewaltsam und unwiderruflich starb.

»Und falls Sie auf den Gedanken kommen sollten, Ihr lädiertes Ego dadurch wieder aufzubauen, daß Sie jemanden bestrafen, zum Beispiel meinen Fahrer, dann sollten Sie sich das aus dem Kopf schlagen. Ich weiß, wo ich Sie finden kann.« Webb hielt einen Augenblick lang inne und fuhr dann fort: »Sie sind ein privilegierter Mann, Wu, aber zu diesem Privileg gehört auch Verantwortung. Aus bestimmten Gründen könnte es dazu kommen, daß man Sie verhört, und ich erwarte von Ihnen nicht, daß Sie lügen - ich bezweifle ohnehin, daß Sie sich besonders gut auf das Lügen verstehen -, also sind wir uns begegnet, das akzeptiere ich. Ich habe Sie sogar bestohlen, wenn Sie wollen. Aber wenn Sie eine genaue Beschreibung von mir liefern, dann wäre es besser, wenn Sie am anderen Ende der Welt wären- und tot. Das wäre weniger schmerzhaft für Sie.«

Der Columbia-Absolvent erstarrte, und seine Unterlippe zitterte, während er Webb sprachlos anstarrte. David erwiderte den Blick stumm und nickte dann. Er ließ Wu Songs Arm los, ging zu Pak-fei und den gefesselten Wachmännern zurück und überließ den verängstigten Waffenhändler seinen sich überschlagenden Gedanken.

»Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe, Pak-fei«, sagte er und sah erneut auf die Uhr. »Schaffen Sie sie zu der Mauer und sagen Sie ihnen, daß sie sich hinlegen sollen. Erklären Sie ihnen, daß ich meine Waffe auf sie richten werde, bis wir durch das Tor sind. Ich glaube, ihr Arbeitgeber wird ihnen bestätigen können, daß ich ein einigermaßen guter Schütze bin.«

Der Fahrer gab die Befehle widerwillig auf chinesisch weiter und verbeugte sich vor dem Waffenhändler, als Wu Song sich an die Spitze seiner beiden Leute setzte und sich schwerfällig auf den Wellenbrecher zu bewegte, der etwa siebzig Meter entfernt war. Webb blickte ins Innere des Daimler.

»Werfen Sie mir die Schlüssel zu!« rief er. »Und beeilen Sie sich, Pak-fei!«

David fing die Schlüssel auf und setzte sich auf den Fahrersitz. Er ließ den Motor an, legte den Gang ein und folgte der seltsamen Parade über die Asphaltfläche hinter dem Lagerhaus.

Jetzt lagen Wu Song und seine zwei Leute hingestreckt auf dem Boden. Webb sprang aus dem Wagen, dessen Motor lief, und rannte hinten herum auf die andere Seite, die neu erworbene Waffe mit befestigtem Schalldämpfer in der Hand. »Steigen Sie ein und fahren Sie!« schrie er Pak-fei an. »Schnell!«

Der Fahrer sprang verwirrt auf seinen Sitz. David gab drei Schüsse ab - drei spuckende Laute, die den Asphalt ein paar Fuß vor jedem seiner Gefangenen aufspritzen ließen. Das genügte; alle drei wälzten sich angsterfüllt gegen die Mauer. Webb nahm auf dem Vordersitz des Wagens Platz. »Los jetzt!« sagte er und sah zum letztenmal auf die Uhr, während er die Waffe durch das heruntergekurbelte Seitenfenster auf die drei liegenden Gestalten gerichtet hielt. »Jetzt!«

Das Tor öffnete sich für den erhabenen Taipan in der erhabenen Limousine. Der Daimler raste hindurch, bog nach rechts in die zweispurige Straße nach Mongkok mit ihrem dichten Verkehr.

»Langsam!« befahl David. »Fahren Sie auf den Seitenstreifen.«

»Diese Fahrer sind alle verrückt, Sir. Sie rasen so, weil sie wissen, daß sie in ein paar Minuten im Verkehr steckenbleiben.

Es wird schwierig werden, wieder auf die Straße

zurückzukommen.«

»Das glaube ich weniger.«

Dann war es soweit. Die Explosionen kamen dicht hintereinander - drei, vier, fünf ... sechs. Das Lagerhaus flog in die Luft, und Flammen und dicker, schwarzer Rauch füllten die Luft über dem Land und dem Hafen. Automobile, Lastwagen und Busse auf der Straße kamen mit kreischenden Bremsen zum Stillstand.

»Sie?« stieß Pak-fei hervor und sah Webb mit aufgerissenem Mund und hervortretenden Augen an.

»Ich war dort.«

»Wir waren dort, Sir! Ich bin ein toter Mann. Aiya!«

»Nein, Pak-fei, das sind Sie nicht«, sagte David. »Ihnen geschieht nichts, darauf gebe ich Ihnen mein Wort. Sie werden nie wieder von Mr. Wu Song hören. Ich nehme an, daß er Hongkong verläßt und sich ans andere Ende der Welt begibt, vielleicht in den Iran, um den Mullahs Marketing beizubringen. Ich wüßte nicht, wer ihn sonst aufnehmen würde.«

»Aber warum? Wieso, Sir?«

»Er ist erledigt. Er hat auf Kommissionsbasis gehandelt, und das bedeutet, daß er dann bezahlt, wenn seine Ware verkauft ist. Können Sie mir folgen?«

»Ich glaube schon, Sir.«

»Er hat keine Ware mehr, aber sie ist nicht verkauft worden. Sie ist einfach verschwunden.«

»Sir?«

»Er hat in dem Hinterzimmer Dynamitstangen und Kisten mit Plastiksprengstoff aufbewahrt. Dinge, die sich in den Schaukästen nicht so gut gemacht und auch gar nicht hineingepaßt hätten.«

»Dort war Rauchen verboten — Reihen Sie sich wieder in den Verkehr ein, Pak-fei. Ich muß nach Kowloon zurück.«

Als sie Tsim Sha Tsui erreichten, merkte Webb, daß Pak-fei sich immer wieder zur Seite drehte und ihn beobachtete. »Was ist denn?« fragte er.

»Ich weiß nicht genau, Sir. Ich habe natürlich Angst.«

»Sie haben mir also nicht geglaubt? Daß Sie keine Angst zu haben brauchen?«

»Das ist es nicht, Sir. Ich denke, ich muß Ihnen glauben, schließlich habe ich gesehen, was Sie getan haben, und Wu Songs Gesicht habe ich auch gesehen, als Sie mit ihm sprachen. Ich glaube, daß ich vor Ihnen Angst habe. Aber ich denke auch, daß das falsch sein könnte, denn Sie haben mich beschützt. Es war etwas in Wu Songs Augen. Ich kann es nicht erklären.«

»Dann versuchen Sie es erst gar nicht«, sagte David und griff nach dem Geld in seiner Tasche. »Sind Sie verheiratet, Pak-fei? Oder haben Sie eine Freundin oder einen Freund? Mir ist das gleich.«

»Verheiratet, Sir. Ich habe zwei erwachsene Kinder mit guten Jobs. Die liefern Geld zu Hause ab; ich habe ein gutes Auskommen.«

»Jetzt wird es noch besser werden. Fahren Sie nach Hause und holen Sie Ihre Frau - und Ihre Kinder, wenn Sie mögen -und fahren Sie, Pak-fei, fahren Sie viele Meilen weit in die New Territories hinein, und dann halten Sie an und bestellen sich in Tuen Mun oder Yuen Long etwas Gutes zu essen. Dann fahren Sie weiter. Ihre Familie soll an diesem schönen Auto Freude haben.«

»Sir?«

»Eine Xiao Xin«, fuhr Webb fort, das Geld in der Hand. »Was wir im Westen eine Notlüge nennen, eine Lüge, die niemandem weh tut. Sehen Sie, ich möchte, daß der Tachometer dieses

Wagens ungefähr das anzeigt, was Sie mit mir heute zurückgelegt haben.«

»Und wohin habe ich Sie gefahren?«

»Sie haben Mr. Cruett zuerst nach Lo Wu gefahren und dann an der Bergkette entlang nach Lok Ma Chau.«

»Das sind Grenzübergänge zur Volksrepublik.«

»Ja, das sind sie«, nickte David und griff nach zwei HundertDollar-Noten, dann noch nach einer dritten. »Glauben Sie, Sie können sich das merken und dafür sorgen, daß die Meilenzahl stimmt?«

»Ganz bestimmt, Sir.«

»Und glauben Sie«, fügte Webb hinzu, während er eine vierte Hundert-Dollar-Note aus dem Bündel zog, »daß Sie sagen könnten, ich hätte den Wagen in Lok Ma Chau verlassen und wäre eine Stunde in die Berge gegangen?«

»Zehn Stunden, wenn Sie wollen, Sir. Ich brauche keinen Schlaf.«

»Eine Stunde genügt.« David hielt dem verblüfften Fahrer die vierhundert Dollar hin. »Und wenn Sie unsere kleine Vereinbarung brechen, werde ich es erfahren.«

»Haben Sie keine Sorge, Sir!« rief Pak-fei, eine Hand am Steuer, während die andere nach den Scheinen griff. »Ich werde meine Frau holen, meine Kinder, die Eltern meiner Frau und meine eigenen auch. Dieses Auto reicht für zwölf. Ich danke Ihnen, Sir! Ich danke Ihnen!«

»Setzen Sie mich zehn Straßen vor der Salisbury ab und verlassen Sie die Gegend. Ich möchte nicht, daß dieser Wagen in Kowloon gesehen wird.«

»Nein, Sir, ganz bestimmt nicht. Wir werden in Lo Wu sein, in Lok Ma Chau!«

»Morgen früh können Sie sagen, was Sie wollen. Dann bin ich nicht mehr hier. Ich reise heute abend ab. Sie werden mich nicht wiedersehen.«

»Ja, Sir.«

»Unser Vertrag ist abgelaufen, Pak-fei«, sagte Jason Borowski, und seine Gedanken kehrten zu einer Strategie zurück, die mit jedem Schritt, den er tat, klarer wurde. Und jeder Schritt brachte ihn Marie näher. Alles war jetzt kälter. Es lag eine gewisse Freiheit darin, das zu sein, was er nicht war.

Halte dich genau an dein Drehbuch ... Sei überall gleichzeitig. Bring sie zum Schwitzen.

Um 17.02 Uhr kam ein sichtlich nervöser Liang mit schnellen Schritten durch die Glastüren des Regent heraus. Er sah sich unruhig unter den Gästen um, die in beständigem Strom das Hotel betraten oder verließen, und bog dann nach links und eilte schnell auf die Rampe zu, die zur Straße hinunterführte. David beobachtete ihn durch die hohen Fontänen der Springbrunnen auf der anderen Seite des Hofes. Die Fontänen als Deckung nutzend, rannte Webb quer über den Vorplatz, wich dabei Taxis und Autos aus, erreichte schließlich die Rampe und folgte Liang nach unten auf die Salisbury Road zu.

Auf halbem Weg zur Straße blieb er stehen und drehte sich um, bog sich zur Seite und wandte das Gesicht nach links. Der stellvertretende Manager des Hotels war plötzlich stehengeblieben, leicht nach vorne gebeugt, so wie jemand in Angst und Eile, dem plötzlich etwas eingefallen ist oder der seine Absicht geändert hat. Es mußte das letztere sein, dachte David, drehte vorsichtig den Kopf und sah, wie Liang quer über die Zufahrt zum New World Shopping Centre hinüberrannte. Webb wußte, daß er ihn in der Menge verlieren würde, wenn er sich nicht beeilte. Und so hob er beide Hände, brachte den Verkehr damit zum Stillstand und rannte schnell die Rampe hinunter, was ein wütendes Hupkonzert und ärgerliche Rufe der Fahrer auslöste. Als er den Vorplatz erreicht hatte, schwitzte er, er hatte Angst. Er konnte Liang nicht sehen! Wo war er? Das Meer asiatischer Gesichter verschwamm ineinander, alle gleich und doch nicht gleich. Wo war er? David rannte weiter, immer wieder gegen Menschen rempelnd, sich entschuldigend und dabei fieberhaft die Gesichter absuchend; und dann sah er ihn! Er war sicher, daß es Liang war - aber eigentlich doch nicht ganz sicher. Er hatte gesehen, wie eine Gestalt im dunklen Anzug in den Zugang zum Hafenweg einbog, einen langen Streifen Beton über dem Wasser, wo die Leute fischten und dahinschlenderten und am frühen Morgen ihre Tai-chi-Übungen machten. Und doch hatte er den Mann nur von hinten gesehen; wenn es nicht Liang war, würde er ihn ganz aus den Augen verlieren, wenn er jetzt die Straße verließ. Instinkt. Nicht deiner, sondern der von Borowski - die Augen von Jason Borowski.

Webb fing zu rennen an, rannte auf den Torbogen zum Hafenweg zu. In der Ferne funkelte die Skyline von Hongkong, vor ihm tanzten die Schiffe und Boote und Dschunken im Wasser des Hafenbeckens auf und ab. Er wurde langsamer, als er unter dem Bogen durchtrat; es gab keinen Weg zurück zur Salisbury Road, nur durch diesen Eingang. Der Hafenweg war eine Sackgasse, an deren anderem Ende das Wasser lag. Und das führte zu einer weiteren Frage und lieferte die Antwort auf eine andere. Warum hatte Liang - wenn es Liang war - sich in eine Sackgasse begeben, aus der es kein Zurück gab? Was zog ihn dorthin? Ein Kontakt, ein Briefkasten, eine Übergabe? Was auch immer es war, es bedeutete jedenfalls, daß der Chinese die Möglichkeit nicht in Betracht gezogen hatte, daß man ihm folgte; und das war die Antwort, die David brauchte. Sie sagte ihm das, was er wissen mußte. Der Mann befand sich in Panik; das Unerwartete würde diese Panik nur noch verstärken.

Jason Borowskis Augen hatten ihn nicht getrogen. Es war Liang, aber die erste Frage blieb unbeantwortet, und von dem, was Webb sah, wurde sie in ihrer Bedeutung nur noch verstärkt. Unter den Tausenden und Abertausenden öffentlicher Telefone in Kowloon - eingezwängt in überfüllte Arkaden und Nischen von verdunkelten Hotelhallen - hatte sich Liang ausgerechnet ein Münztelefon an der inneren Mauer des Weges ausgesucht. Der Apparat stand im Freien, inmitten eines breiten Durchgangs, der wiederum eine Sackgasse war. Das hatte weder Sinn und Verstand; noch der blutigste Amateur hatte soviel Instinkt, sich zu schützen. Wer in Panik geraten war, suchte Deckung.

Liang griff in die Tasche, um Kleingeld zu suchen, und plötzlich, als hätte eine innere Stimme ihm das befohlen, wußte David, daß er dieses Telefongespräch nicht zulassen durfte. Wenn es durchgeführt wurde, dann mußte er es führen. Es war ein Teil seiner Strategie, ein Teil, der ihn Marie näherbringen würde! Die Kontrolle mußte in seiner Hand liegen, nicht in den Händen anderer!

Er rannte geradewegs auf die weiße Plastikverschalung des Telefons zu und wollte rufen, wußte aber, daß er erst näher kommen mußte, ehe man ihn hören konnte. Der Hotelmanager wählte jetzt; seine Hand sank herunter - er war fertig. Irgendwo klingelte ein Telefon.

»Liang!« brüllte Webb. »Weg von dem Telefon! Wenn Sie am Leben bleiben wollen, dann legen Sie auf und verschwinden von hier!«

Der Chinese wirbelte herum, und sein Gesicht war eine starre Maske des Schreckens. »Sie!« schrie er hysterisch und preßte sich mit dem Rücken gegen die Plastikwand. »Nein ... nein! Nicht jetzt! Nicht hier!«

Plötzlich pfiffen Schüsse durch den Wind vom Wasser, Feuerstöße im Stakkato, die das gleichmäßige Schlagen der Wellen und all die anderen Hafengeräusche übertönten. Und dann brach auf dem Hafenweg das Chaos aus, Menschen schrien und kreischten, ließen sich zu Boden fallen oder rannten weg, suchten überall Schutz vor dem Terror des Todes.

Загрузка...