Kapitel 11

»Willkommen, Mr. Borowski«, sagte der in dem weißen Seidenanzug und winkte seine Wächter weg. »Ich nehme an, Sie sehen ein, daß es logisch ist, wenn Sie jetzt Ihre Waffe auf den Boden legen und von sich wegschieben. Es gibt wirklich keine Alternative. Das wissen Sie.«

Webb sah die drei Chinesen an; der Mann in der Mitte ließ den Hahn seiner Pistole zurückschnappen. David ließ die Waffe fallen und schob sie mit dem Fuß von sich. »Sie haben mich erwartet, nicht wahr?« fragte er leise und richtete sich auf, während der Leibwächter zu seiner Rechten die Waffe aufhob.

»Wir wußten nicht, was wir erwarten sollten - mit Ausnähme des Unerwarteten. Wie haben Sie es geschafft? Sind meine Leute tot?«

»Nein. Sie haben ein paar Schrammen und sind bewußtlos, aber sie sind nicht tot.«

»Erstaunlich. Haben Sie geglaubt, ich wäre allein hier?«

»Man hat mir gesagt, Sie seien mit Ihrem Mittelsmann und noch drei anderen unterwegs. Aber nicht mit sechs. Das kam mir logisch vor. Mehr hätte ich für zu auffällig gehalten.«

»Deshalb sind diese drei Männer schon früher gekommen, um die Vorbereitungen zu treffen. Und dann haben sie dieses Loch nicht mehr verlassen. Sie haben also geglaubt, Sie könnten mich in Ihre Gewalt bringen, als Austausch für Ihre Frau.«

»Es liegt doch auf der Hand, daß sie mit all dem nicht das geringste zu tun hatte. Lassen Sie sie frei; sie kann Ihnen doch gar nichts anhaben. Töten Sie mich, aber lassen Sie sie frei.«

»Pige!« sagte der Bankier und befahl damit zwei Leibwächtern, die Wohnung zu verlassen; sie verbeugten sich und gingen schnell hinaus. »Dieser Mann wird bleiben«, fuhr er fort und wandte sich wieder Webb zu. »Abgesehen von der ungeheuren Loyalität, die er mir entgegenbringt, versteht er kein Wort Englisch.«

»Ich sehe, Sie vertrauen Ihren Leuten.«

»Ich vertraue keinem.« Der Finanzier wies auf einen zerbrechlich wirkenden Holzstuhl auf der anderen Seite des schäbigen Zimmers und ließ dabei eine goldene Rolex an seinem Handgelenk sehen, deren Zifferblatt mit Diamanten besetzt war, passend zu den diamantbesetzten goldenen Manschettenknöpfen. »Setzen Sie sich«, befahl er. »Ich habe gewaltige Anstrengungen unternommen und viel Geld ausgegeben, um dieses Gespräch zustande zu bringen.«

»Ihr Mittelsmann - ich nehme an, es war Ihr Mittelsmann«, sagte Borowski, während er auf den Stuhl zuging und dabei jede Einzelheit des Zimmers musterte, »hat mir geraten, hier keine teure Uhr zu tragen. Ich nehme an, Sie haben nicht auf ihn gehört.«

»Ich bin in einem schmutzigen Lumpen von Kaftan hier angekommen, dessen Ärmel weit genug waren, um sie zu verbergen. Wenn ich mir Ihre Kleider ansehe, dann bin ich sicher, daß das Chamäleon das versteht.«

»Sie sind Yao Ming.« Webb setzte sich.

»Das ist ein Name, den ich benutzt habe. Das verstehen Sie sicherlich. Das Chamäleon hat auch viele Formen und Farben.«

»Ich habe Ihre Frau nicht getötet - und auch den Mann nicht, der bei ihr war.«

»Das weiß ich, Mr. Webb.«

»Was?« David fuhr aus dem Stuhl hoch, und der Leibwächter machte einen Schritt auf ihn zu, die Waffe schußbereit.

»Setzen Sie sich«, wiederholte der Bankier. »Erschrecken Sie meinen ergebenen Freund nicht, sonst könnten wir das beide bedauern, Sie viel mehr als ich.«

»Sie haben gewußt, daß ich es nicht war, und trotzdem haben Sie uns das angetan!«

»Setzen Sie sich bitte schnell wieder hin.«

»Ich will Antwort!« sagte Webb und setzte sich.

»Weil Sie der echte Jason Borowski sind. Deshalb sind Sie hier, und deshalb bleibt Ihre Frau in meinem Gewahrsam, bis Sie das erreicht haben, worum ich Sie bitte.«

»Ich habe mit ihr gesprochen.«

»Das weiß ich. Ich habe es erlaubt.«

»Sie klang ganz anders, als ich sie kenne - selbst wenn man die Umstände bedenkt. Sie ist stark, stärker als ich in diesen scheußlichen Wochen in der Schweiz und in Paris war. Irgend etwas stimmt nicht mit ihr! Steht sie unter Drogeneinfluß?«

»Auf keinen Fall.«

»Ist sie verletzt?«

»Höchstens seelisch angeschlagen, aber sonst in keiner Weise. Aber wenn Sie sich weigern, meinem Wunsch nachzukommen, dann wird man ihr weh tun, und dann wird sie sterben. Muß ich deutlicher werden?«

»Sie sind ein toter Mann, Taipan.«

»Jetzt spricht der wahre Borowski. Das ist sehr gut. Genau das brauche ich.«

»Werden Sie deutlicher.«

»Jemand, der Ihren Namen benutzt, ist hinter mir her«, begann der Taipan, und seine Stimme klang hart und wurde mit jedem Wort eindringlicher. »Und das ist viel schwerwiegender -mögen die Geister mir vergeben - als der Verlust einer jungen Frau. Von allen Seiten, aus allen Bereichen greift mich dieser

Terrorist, dieser neue Jason Borowski an! Er tötet meine Leute, sprengt wertvolle Warenladungen in die Luft und droht anderen Taipans mit dem Tod, wenn sie mit mir Geschäfte machen! Und seine unerhört hohen Honorare werden von meinen Feinden hier in Hongkong und Macao bezahlt. Und selbst aus dem Norden, aus den Provinzen!«

»Sie haben viele Feinde.«

»Ich habe ausgedehnte Interessen.«

»Die hatte angeblich auch der Mann, den ich in Macao nicht getötet habe.«

»Seltsamerweise«, sagte der Bankier, schwer atmend und sichtlich bemüht, sich zu beherrschen, »waren er und ich keine Feinde. In gewissen Bereichen trafen sich unsere Interessen. So hat er auch meine Frau kennengelernt.«

»Wie praktisch. Interessengemeinschaft nennt man das also.«

»Jetzt werden Sie beleidigend.«

»Das sind nicht meine Regeln«, erwiderte Borowski und sah den Asiaten mit eisigem Blick an. »Kommen Sie zur Sache. Meine Frau lebt, und ich will sie unversehrt zurück. Wenn ihr irgend etwas zustößt, dann werden Sie und Ihre Zhongguo ren dafür büßen.«

»Sie sind nicht in der Lage, Drohungen auszustoßen, Mr. Webb.«

»Webb nicht«, gab ihm der einst meistgejagte Mann von Asien und Europa recht. »Aber Borowski.«

Der Asiate sah Jason durchdringend an und nickte dann, als sein Blick sich wieder von ihm löste. »Sie sind ebenso wagemutig wie arrogant. Zur Sache also. Das Ganze ist sehr einfach, sehr klar.« Der Taipan ballte plötzlich die rechte Hand zur Faust und ließ sie auf die Armlehne des Sessels fallen. »Ich will Beweise gegen meine Feinde!« schrie er, und seine zornigen Augen funkelten unter den angeschwollenen Lidern.

»Und die bekomme ich nur, wenn Sie mir Ihren nur allzu glaubwürdigen Doppelgänger liefern! Ich will ihn vor mir sehen, will, daß er mich ansieht, während sein Leben unter Qualen aus ihm heraussickert, bis er mir alles gesagt hat, was ich wissen muß. Bringen Sie ihn mir, Jason Borowski!« Der Bankier atmete schwer und fügte dann leise hinzu: »Dann, und nur dann, werden Sie wieder mit Ihrer Frau vereint werden.«

Webb starrte den Taipan schweigend an. »Wie kommen Sie darauf, daß ich das kann?« fragte er schließlich.

»Wer könnte besser die Kopie in die Falle locken als das Original?«

»Leere Worte«, sagte Webb. »Ohne Bedeutung.«

»Er hat Sie studiert! Er hat Ihre Methoden, Ihre Technik analysiert. Sonst könnte er sich nicht für Sie ausgeben. Finden Sie ihn! Locken Sie ihn mit den Taktiken in die Falle, die Sie selbst geschaffen haben!«

»Einfach so?«

»Man wird Ihnen helfen. Ich werde Ihnen ein paar Namen nennen und Beschreibungen von Männern, von denen ich überzeugt bin, daß sie mit diesem neuen Killer, der einen alten Namen gebraucht, unter einer Decke stecken.«

»Drüben in Macao?«

»Niemals! Auf keinen Fall in Macao! Was im Lisboa-Hotel geschehen ist, darf nicht erwähnt werden, unter keinen Umständen. Das ist abgeschlossen, erledigt; davon wissen Sie nichts. Meine Person darf in keiner Weise mit dem in Verbindung gebracht werden, was Sie tun. Sie haben mit mir nichts zu schaffen! Wenn Sie an die Oberfläche kommen, dann jagen Sie einen Mann, der in Ihre Rolle geschlüpft ist. Sie schützen sich, verteidigen sich. Unter den gegebenen Umständen ist das völlig natürlich.«

»Ich dachte, Sie wollten Beweise -«

»Die werde ich haben, wenn Sie ihn zu mir bringen!« schrie der Taipan.

»Wenn nicht in Macao, wo dann?«

»Hier in Kowloon. Im Tsim Sha Tsui. Fünf Männer sind im Nebenzimmer eines Varietes erschossen worden, unter ihnen ein Bankier - ein Taipan wie ich. Ich hatte gelegentlich mit ihm zu tun, ein Mann ähnlich einflußreich wie ich - und drei andere, deren Identität man geheimgehalten hat; offenbar eine Entscheidung der Regierung. Ich habe nie herausgefunden, wer die Männer waren.«

»Aber wer der fünfte Mann war, wissen Sie«, sagte Borowski.

»Er hat für mich gearbeitet. Er hat bei dieser Zusammenkunft meinen Platz eingenommen. Wäre ich selbst dort gewesen, hätte Ihr Doppelgänger mich getötet. Und dort werden Sie anfangen müssen, hier in Kowloon, in Tsim Sha Tsui. Ich werde Ihnen die Namen der zwei Toten nennen, die man veröffentlicht hat. Die Identität vieler Männer, die Feinde der beiden waren und jetzt auch meine Feinde sind. Sie müssen schnell handeln. Finden Sie den Mann, der in Ihrem Namen tötet, und bringen Sie ihn zu mir. Und noch eine letzte Warnung, Mr. Borowski. Sollten Sie herauszufinden versuchen, wer ich bin, wird schnell ein Befehl erteilt und noch schneller ausgeführt werden. Dann stirbt Ihre Frau.«

»Dann sterben auch Sie. Geben Sie mir die Namen.«

»Sie stehen hier«, sagte der Mann, der den Namen Yao Ming benutzte, und griff in die Tasche der weißen Seidenweste. »Eine Stenotypistin im Mandarin-Hotel hat das getippt. Es hätte also keinen Sinn, nach einer bestimmten Schreibmaschine zu suchen.«

»Zeitvergeudung«, sagte Borowski und nahm das Blatt Papier entgegen. »In Hongkong muß es zwanzig Millionen Schreibmaschinen geben.«

»Aber nicht so viele Taipans von meiner Größe, wie?« »Das werde ich mir merken.«

»Dessen bin ich mir sicher.«

»Wie erreiche ich Sie?«

»Gar nicht. Niemals. Dieses Treffen hat nie stattgefunden.«

»Warum hat es dann stattgefunden? Warum ist das alles geschehen? Angenommen, ich finde diesen Kretin, der sich Borowski nennt, und es gelingt mir, ihn in meine Gewalt zu bringen - angenommen, habe ich gesagt -, was tue ich dann mit ihm? Lege ich ihn hier draußen auf die Stufen?«

»Das wäre eine glänzende Idee. Unter Drogen natürlich. Niemand würde sich auch nur im geringsten für ihn interessieren, man würde ihm nur die Taschen leeren.«

»Ich würde mich schon für ihn interessieren. Ein Gegengeschäft, Taipan. Ich möchte eine hundertprozentige Garantie. Ich will meine Frau zurück.«

»Und was wäre für Sie eine solche Garantie?«

»Zuerst ihre Stimme am Telefon, damit ich mich davon überzeugen kann, daß ihr nichts fehlt, und dann will ich sie sehen - sagen wir, wie sie eine Straße entlanggeht, aus eigener Kraft und ganz alleine.«

»Spricht da Jason Borowski?«

»Ja.«

»Nun gut. Wir haben hier in Hongkong eine hochtechnisierte Industrie entwickelt, da können Sie jeden in Ihrem Lande fragen, der in der Elektronikbranche tätig ist. Unten auf diesem Blatt steht eine Telefonnummer. Falls und wenn - und nur falls und wenn - Sie den falschen Borowski in Ihrer Gewalt haben, rufen Sie diese Nummer an und wiederholen ein paarmal das Wort >Schlangenweib< -«

»Medusa«, flüsterte Jason und fiel damit dem anderen ins Wort.

Der Taipan hob die Brauen, aber sein Gesichtsausdruck verriet weiterhin nichts. »Ich habe natürlich die Schlangenverkäuferin auf dem Markt gemeint.«

»Erzählen Sie das der Großmutter des Teufels. Weiter.«

»Sie wiederholen also das Wort ein paarmal, bis Sie ein paar klickende Geräusche hören -«

»Womit eine andere Nummer gewählt wird«, unterbrach ihn Borowski erneut.

»Es hat etwas mit den Lauten zu tun, glaube ich«, gab ihm der Taipan recht. »Der Zischlaut Sch, danach ein Vokal und harte Konsonanten. Genial, finden Sie nicht auch?«

»Man nennt das akustische Programmierung.«

»Das macht offenbar keinen Eindruck auf Sie. Deshalb sollte ich wohl wiederholen, unter welcher Bedingung Sie überhaupt nur anrufen dürfen. Ich kann um Ihrer Frau willen nur hoffen, daß das Eindruck auf Sie macht. Sie dürfen nur anrufen, wenn Sie bereit sind, den falschen Borowski innerhalb von Minuten auszuliefern. Sollten Sie oder sonst jemand die Nummer und das Codewort ohne diese Voraussetzung benutzen, dann weiß ich, daß jemand versucht, die Leitung anzupeilen. In dem Fall wird Ihre Frau getötet werden, und dann wird man irgendwo bei den Inseln eine tote, entstellte weiße Frau ohne Identifizierungsmerkmale ins Meer werfen. Drücke ich mich klar aus?«

Borowski schluckte, drängte seine Wut und die Angst zurück, von der ihm schlecht wurde, und sagte eisig: »Ihre Bedingung habe ich verstanden. Und jetzt möchte ich, daß Sie die meine verstehen. Falls und wenn ich anrufe, will ich meine Frau sprechen - nicht innerhalb von Minuten, sondern innerhalb von Sekunden. Wenn nicht, wird derjenige am anderen Ende der Leitung einen Schuß hören, und dann werden Sie wissen, daß Ihr Meuchelmörder, von dem Sie sagen, daß Sie ihn unbedingt haben müssen, ein Loch im Kopf hat. Ich gebe Ihnen dann genau dreißig Sekunden Zeit.«

»Ich habe Ihre Bedingung verstanden. Sie wird erfüllt werden. Ich glaube, die Besprechung ist beendet, Jason Borowski.«

»Ich will meine Waffe wiederhaben. Einer Ihrer Leibwächter hat sie.«

»Sie bekommen sie, wenn Sie hinausgehen.«

»Einfach so, auf Treu und Glauben?«

»Das ist gar nicht nötig. Er hat Anweisung, Ihnen die Waffe zu geben, falls Sie überhaupt hier herauskommen. Eine Leiche braucht keine Waffe.«

Was von den Prunkvillen aus der Kolonialzeit Hongkongs übriggeblieben ist, befindet sich hoch in den Bergen, oberhalb der Stadt, in einer Gegend, die den Namen Victoria Peak trägt und ihren Namen vom höchsten Punkt der Insel ableitet, der Krone des ganzen Territoriums. Das Bild wird hier von eleganten Gärten bestimmt, mit Fußwegen, die von Rosenbeeten gesäumt sind und die zu Veranden und Pavillons führen, von denen aus die Reichen Hongkongs den Anblick des Hafens in der Tiefe und der Inseln weit davor genießen. Die Prachtvillen hier wirken wie ein bescheidener Abklatsch der großen Häuser von Jamaika. Sie sind großzügig gebaut, mit hohen, seltsam ineinanderverschachtelten Räumen, damit während der langen drückenden Hitzeperioden der Sommerwind freies Spiel hat. Überall ist poliertes, handgeschnitztes Holz zu finden, das die Fenster einrahmt und verstärkt, damit sie dem Wind und dem Regen des Bergwinters Widerstand leisten können. In diesen Villen, deren Bauweise das Klima diktiert hat, sind Luxus und Zweckmäßigkeit eine Mischehe eingegangen. Eins dieser Häuser im Peak District war freilich anders.

Nicht was die Größe, die Zweckmäßigkeit oder die Eleganz anlangte, auch nicht in der Schönheit seiner Gärten, die eher noch ausgedehnter waren als viele der Nachbarn, noch in der Höhe der Steinmauer, die das Anwesen umgab. Auch die eindrucksvollen Torflügel der Einfahrt paßten ins Bild. Die Abweichung lag darin, daß das Haus so isoliert von den anderen wirkte, vor allem nachts, wenn in den vielen Zimmern nur wenige Lichter brannten, und aus den Fenstern oder den Gartenanlagen kein Laut zu hören war. Das Haus wirkte wie kaum bewohnt, von Lebenslust einmal ganz zu schweigen. Aber was es so dramatisch von den anderen abhob, waren die Männer am Tor und andere ähnliche Männer, die man von der Straße aus sehen konnte, wenn sie regelmäßig Streife durch das Gelände gingen. Sie waren bewaffnet und uniformiert. Es waren Angehörige der amerikanischen Marineinfanterie.

Das Konsulat der Vereinigten Staaten hatte das Anwesen auf Anordnung des Nationalen Sicherheitsrates gepachtet. Im Falle irgendwelcher Anfragen hatte das Konsulat die Weisung, lediglich zu erklären, daß im nächsten Monat zahlreiche Vertreter der amerikanischen Regierung und amerikanischer Industrieunternehmen in der Kronkolonie erwartet würden und daß die Pacht des Anwesens aus Gründen der Sicherheit und des Komforts gerechtfertigt war. Mehr wußte das Konsulat nicht. Einige Mitarbeiter der britischen MI-6 waren etwas besser informiert, da man ihre Unterstützung brauchte, und London diese auch autorisiert hatte. Aber auch hier beschränkte sich das Wissen auf das Notwendigste, und auch damit war London einverstanden. Die höchsten Beamten beider Regierungen, darunter auch die engsten Berater des Präsidenten und der Premierministerin, waren zu demselben Schluß gelangt: Wenn die Wahrheit über das Anwesen, am Victoria Peak an die Öffentlichkeit drang, so würde das katastrophale Folgen für den ganzen Pazifikraum, ja, die ganze Welt haben. Dieses Haus war eine Festung, das Hauptquartier einer Geheimoperation von solcher Tragweite, daß selbst der amerikanische Präsident und die britische Premierministerin nur wenige Einzelheiten kannten, lediglich die Zielsetzung der Operation.

Ein kleiner Wagen rollte vor das Tor. Sofort wurden kräftige Scheinwerfer eingeschaltet, die den Fahrer blendeten. Der hob den Arm, um seine Augen zu schützen. Zwei Marineinfanteristen tauchten mit gezogenen Waffen zu beiden Seiten des Fahrzeugs auf.

»Ihr solltet den Wagen inzwischen kennen, Jungs«, sagte der asiatische Hüne in dem weißen Seidenanzug und blickte mit zusammengekniffenen Augen durch das offene Fenster.

»Wir kennen den Wagen, Major Lin«, erwiderte der Corporal zur Linken. »Wir müssen uns nur überzeugen, wer am Steuer sitzt.«

»Wer könnte sich schon für mich ausgeben?« scherzte der hünenhafte Major.

»Man Mountain Dean, Sir«, antwortete der Ledernacken zur Rechten des Wagens.

»O ja, erinnere mich. Ein amerikanischer Ringer.«

»Mein Großvater hat oft von ihm geredet.«

»Vielen Dank, mein Sohn. Sie hätten wenigstens sagen können, es sei Ihr Vater gewesen. Darf ich weiterfahren oder bin ich festgenommen?«

»Wir schalten die Scheinwerfer ab und machen das Tor auf, Sir«, sagte der erste Ledernacken. »Übrigens, Major, vielen Dank für den Tip mit dem Restaurant in Wanchai. Das Essen ist toll und kostet nicht gleich den Sold für einen Monat.«

»Aber Sie haben leider keine Suzie Wong gefunden.«

»Keine was?«

»Schon gut. Das Tor, bitte, Jungs.«

Im Haus saß der Staatssekretär Edward Newington McAllister in der Bibliothek, die man in ein Büro umgewandelt hatte, hinter einem Schreibtisch und las eine Akte, wobei er immer wieder

Randbemerkungen anbrachte. Er war völlig konzentriert, und als die Sprechanlage summte, kostete es ihn einige Mühe, sich aus seiner Konzentration zu reißen und den Hörer abzunehmen. »Ja?« Er hörte zu und sagte dann: »Natürlich, schicken Sie ihn herein.« McAllister legte auf und wandte sich wieder der Akte zu, die vor ihm lag. Oben auf der Seite, die er gerade las, standen die Worte, die sich auf jeder Seite wiederholten. Ultra Maximum Classified. P.R.C. Intern. Sheng Chou Yang.

Die Tür öffnete sich, und der hünenhafte Major Lin Wenzu von der MI-6, Hongkong, trat ein, schloß die Tür und lächelte, als er McAllisters konzentrierte Miene sah.

»Immer noch dasselbe, nicht wahr, Edward? In den Worten steckt ein Plan, eine Strategie.«

»Wenn ich bloß dahinterkäme«, antwortete der Amerikaner, ohne von dem Blatt aufzublicken.

»Das werden Sie schon, mein Freund. Was auch immer es ist.«

»Ich bin gleich soweit.«

»Lassen Sie sich Zeit«, sagte der Major und nahm die goldene Rolex und die Manschettenknöpfe ab. Er legte sie auf den Schreibtisch und sagte leise: »Jammerschade, daß ich sie zurückgeben muß. Die verleihen einem großes Prestige. Aber den Anzug müssen Sie bezahlen, Edward. So etwas gehört nicht zu meiner Garderobe, aber wie das in Hongkong immer ist, war der Preis recht vernünftig, selbst für meine Größe.«

»Ja, natürlich«, sagte der Staatssekretär geistesabwesend.

Major Lin setzte sich auf den schwarzen Ledersessel vor dem Schreibtisch und blieb fast minutenlang stumm. Länger hielt er es nicht aus. »Ist das etwas, wobei ich Ihnen helfen könnte, Edward? Oder genauer gesagt: etwas, das mit unserem Auftrag zu tun hat? Können Sie darüber reden?«

»Leider nein, Lin. Und das gilt für alle drei Fragen.«

»Über kurz oder lang werden Sie es uns sagen müssen. Unsere Vorgesetzten in London werden es uns sagen müssen. >Tun Sie das, was er verlangt< sagen sie. >Machen Sie sich Aufzeichnungen über alle Gespräche und Anordnungen, aber befolgen Sie seine Weisungen und beraten ihn.< Ihn beraten? Es gibt keinen Rat, nur Taktik. Ein Mann in einem leeren Büro, der vier Schüsse in die Mauer des Hafenweges abgibt, sechs ins Wasser und der Rest Platzpatronen - Gott sei Dank ist niemand an Herzschlag gestorben -, und wir haben die Situation geschaffen, die Sie wollen. Das ist etwas, das wir verstehen können -«

»Wie ich höre, ist alles sehr gut gelaufen.«

»Es hat einen Aufruhr gegeben, wenn Sie das unter >sehr gut< verstehen.«

»Ja, das verstehe ich darunter.« McAllister lehnte sich im Sessel zurück und massierte sich mit den schlanken Fingern der rechten Hand die Schläfen.

»Sie können den ersten Punkt abhaken, mein Freund. Der echte Jason Borowski hat sich linken lassen und hat gehandelt. Sie werden übrigens die Krankenhausrechnung für einen Mann mit einem gebrochenen Arm bezahlen müssen und für zwei weitere, die immer noch unter Schock stehen und schreckliche Halsschmerzen haben. Dem vierten ist die Sache zu peinlich, als daß er etwas dazu sagen möchte.«

»Borowski versteht sich sehr gut auf das, was er tut - was er getan hat.«

»Er ist tödlich, Edward!«

»Sie sind aber doch wohl mit ihm fertig geworden.«

»Wobei ich jede Sekunde dachte, daß er das ganze Dreckloch hochgehen läßt! Ich war wie gelähmt. Dieser Mann ist total verrückt. Übrigens, warum soll er sich aus Macao heraushalten?«

»Von dort aus kann er nicht mehr tun als hier. Die Morde haben hier stattgefunden. Die Kunden seines Doppelgängers befinden sich ganz offensichtlich hier in Hongkong und nicht in Macao.«

»Wieder einmal keine Antwort, wie üblich.«

»Dann wollen wir es anders ausdrücken, und soviel zumindest kann ich Ihnen sagen. Sie wissen es ja bereits, nachdem Sie heute diese Rolle gespielt haben. Diese Lüge, wonach die junge Frau unseres imaginären Taipan mit ihrem Liebhaber in Macao ermordet worden ist. Fällt Ihnen dazu etwas ein?«

»Genial ausgedacht«, sagte Lin und runzelte die Stirn. »Man versteht nur wenige Racheakte so leicht wie den alten Satz >Auge um Auge<. In gewissem Sinne ist das die Basis Ihrer Strategie - oder zumindest dessen, was ich davon weiß.«

»Was würde Webb Ihrer Meinung nach tun, wenn er herausfände, daß es sich um eine Lüge handelt?«

»Das kann er nicht. Sie haben doch dafür gesorgt, daß die Spuren verwischt worden sind.«

»Sie unterschätzen ihn. Wenn er einmal in Macao wäre, würde er jedes Stück Unrat zweimal um drehen, um herauszubekommen, wer dieser Taipan ist. Er würde jeden Hotelpagen, jedes Zimmermädchen befragen - wahrscheinlich würde er ein Dutzend Hotelangestellte im Lisboa und den größten Teil der Polizei unter Druck setzen oder bestechen, bis er die Wahrheit erfahren hätte.«

»Aber wir haben seine Frau, und das ist keine Lüge. Er wird dementsprechend handeln.«

»Ja, aber in einer ganz anderen Dimension. Was auch immer er jetzt denkt - und er argwöhnt bestimmt einiges -, er kann es nicht wissen, wenigstens nicht genau. Wenn er aber in Macao zu graben anfängt und die Wahrheit erfährt, dann hat er Beweise, daß seine Regierung ihn getäuscht hat.«

»Was für Beweise?«

»Ein hoher Beamter des Außenministeriums, nämlich ich, hat ihn angelogen. Und das wäre nicht das erstemal, daß man ihn betrogen hat.«

»Soviel wissen wir.«

»Ich möchte, daß an der Paßkontrolle in Macao einer unserer Leute sitzt - rund um die Uhr. Stellen Sie Leute ein, denen Sie vertrauen können, und geben Sie ihnen Fotos, aber keine Informationen. Bieten Sie dem, der ihn entdeckt und Sie anruft, eine Sonderprämie an.«

»Das läßt sich machen, aber er würde dieses Risiko nicht eingehen. Er glaubt, daß die Chancen gegen ihn stehen. Ein Informant im Hotel oder im Polizeihauptquartier, und seine Frau stirbt. Er würde dieses Risiko nicht eingehen.«

»Und wir können dieses Risiko erst recht nicht eingehen, so klein es auch sein mag. Wenn er herausbekäme, daß er wieder benutzt wird - wieder betrogen -, dann könnte er durchdrehen und Dinge tun und sagen, die für uns alle unvorstellbare Konsequenzen haben könnten. Offen gestanden, wenn er nach Macao ginge, könnte er statt einer Trumpfkarte zu einer schrecklichen Belastung werden.«

»Liquidation?« fragte der Major nur.

»Ich kann dieses Wort nicht benutzen.«

»Ich glaube auch nicht, daß Sie das tun müssen. Ich war sehr überzeugend. Ich habe mit der Faust auf die Sessellehne geschlagen und wirkungsvoll die Stimme erhoben. >Ihre Frau wird sterben!< habe ich geschrien. Er hat mir geglaubt. Ich hätte mich für die Oper ausbilden lassen sollen.«

»Sie haben Ihre Sache gut gemacht.«

»Eine Vorstellung, die Akim Tamiroffs würdig gewesen wäre.«

«Wer ist das?«

»Bitte. Ich hab das am Tor schon einmal durchgemacht.«

»Wie bitte?«

»Vergessen Sie es. In Cambridge hat man mir gesagt, daß ich Leuten wie Ihnen begegnen würde. Ich hatte einen Dozenten in asiatischer Geschichte, der hat mir gesagt, daß Sie einfach nicht loslassen können, keiner von Ihnen. Sie bestehen darauf, Geheimnisse zu bewahren, weil die Zhongguo ren minderwertig sind, weil sie nichts kapieren. Ist das hier der Fall, yang quizi?«

»Du lieber Gott, nein.«

»Was machen wir dann? Das, was auf der Hand liegt, verstehe ich. Wir rekrutieren einen Mann, der in der einmaligen Position ist, einen Killer zu jagen, weil der Killer in seine Maske geschlüpft ist - in die Maske des Mannes, der er einmal war. Aber warum der ganze Aufwand - seine Frau entführen, uns in die Sache hineinziehen lassen, diese komplizierten und offen gestanden gefährlichen Spiele, die wir hier treiben? Ehrlich gesagt, Edward, als Sie mir mit dieser Räuberpistole gekommen sind, habe ich selbst in London rückgefragt. >Befolgen Sie die Anweisungen< haben die immer wieder gesagt. >Und bewahren Sie Stillschweigen, das ist das Allerwichtigste.< Nun, wie Sie selbst vor einer Weile sagten, das reicht einfach nicht. Wir müßten mehr wissen. Wie kann unsere Abteilung ohne Wissen Verantwortung übernehmen?«

»Für den Augenblick liegt die Verantwortung bei uns, treffen wir die Entscheidungen. London hat dem zugestimmt, und das hätte man bestimmt nicht getan, wenn wir die Engländer nicht davon überzeugt hätten, daß es so am besten ist. Das Wissen muß sich auf einige wenige beschränken, es darf einfach keine undichten Stellen geben. Übrigens, das hat London so formuliert.« McAllister beugte sich vor und krampfte die Hände ineinander, daß die Knöchel weiß hervortraten. »Soviel will ich Ihnen sagen, Lin. Mir wäre es lieber, wenn wir diese

Verantwortung nicht hätten, schon gar nicht ich. Nicht daß ich die letzten Entscheidungen treffe.

Aber am liebsten würde ich überhaupt keine Entscheidung treffen. Ich bin dazu nicht qualifiziert.«

»Das würde ich nicht sagen, Edward. Sie sind einer der gründlichsten Menschen, denen ich je begegnet bin. Das haben Sie vor zwei Jahren bewiesen. Sie sind ein brillanter Analytiker. Sie brauchen selbst nicht über die Erfahrung zu verfügen, solange Sie Ihre Befehle von jemandem bekommen, der diese Erfahrung hat. Sie müssen nur verstehen und überzeugt sein -und daß Sie überzeugt sind, lese ich aus Ihrem besorgten Gesicht. Sie werden schon das Richtige tun, wenn Sie den Auftrag dazu bekommen.«

»Jetzt müßte ich mich wohl bei Ihnen bedanken.«

»Was Sie wollten, ist heute abend erledigt worden. Sie werden bald wissen, ob Ihr wiederentdeckter Jäger noch über sein Geschick von früher verfügt. In den nächsten Tagen können wir die Ereignisse im Auge behalten. Aber mehr können wir nicht. Wir haben die Dinge jetzt nicht mehr in der Hand. Borowski hat seine gefährliche Reise begonnen.«

»Dann hat er die Namen?«

»Die authentischen Namen, Edward. Die miesesten Mitglieder der Unterwelt von Hongkong und Macao - Söldner, die Befehle ausführen, Hauptleute, die Kontrakte arrangieren, alles gefährliche, gewalttätige Burschen. Wenn es im Territorium Leute gibt, die etwas über den Doppelgänger des Killers wissen, dann wird man sie auf dieser Liste finden.«

»Dann starten wir Phase zwei. Gut.« McAllister löste die Hände voneinander und sah auf die Uhr. »Du liebe Güte, ich hatte keine Ahnung, wie spät es ist. Das war ein langer Tag für Sie. Sie hätten die Uhr und die Manschettenknöpfe wirklich heute nicht mehr zurückzubringen brauchen.«

»Das wußte ich.«

»Warum haben Sie es dann getan?«

»Ich möchte Sie nicht noch mehr belasten, aber möglicherweise haben wir ein Problem am Hals, mit dem wir nicht gerechnet haben. Zumindest eines, das wir nicht in Betracht gezogen hatten, was vielleicht unklug war.«

»Was denn?«

»Es könnte sein, daß die Frau krank ist. Ihr Mann hatte das Gefühl, als er mit ihr sprach.«

»Sie meinen ernsthaft!«

»Wir können es nicht ausschließen - der Arzt kann es nicht ausschließen.«

»Der Arzt?«

»Wir wollten Sie nicht unnötig beunruhigen. Ich habe vor einigen Tagen einen unserer Ärzte zugezogen - er ist absolut verläßlich. Sie wollte nichts essen und klagte über Übelkeit. Der Arzt sagte, es könnte eine Depression oder Angst sein, vielleicht auch ein Virus. Also hat er ihr Antibiotika und leichte Beruhigungsmittel gegeben. Ihr Zustand hat sich nicht gebessert, sondern verschlechtert. Sie ist völlig teilnahmslos geworden, zittert hin und wieder unmotiviert am ganzen Körper und scheint sich nicht konzentrieren zu können. Ich kann Ihnen versichern, das alles paßt nicht zu dieser Frau.«

»Auf keinen Fall«, sagte McAllister und kniff die Lippen zusammen. »Was können wir tun?«

»Der Arzt meint, man sollte sie sofort in ein Krankenhaus einweisen, um Tests durchführen zu können.«

»Unmöglich! Du lieber Gott, das kommt überhaupt nicht in Frage!«

Der chinesische Geheimdienstbeamte stand auf und ging langsam auf den Schreibtisch zu. »Edward«, begann er ruhig, »ich kenne die Hintergründe dieser Operation nicht, aber zwei und zwei kann ich auch zusammenzählen. Ich fürchte, ich muß

Sie fragen: Was passiert mit David Webb, wenn seine Frau ernsthaft krank ist? Was passiert mit Ihrem Jason Borowski, wenn sie stirbt?«

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