Kapitel 5

Donnerstag, Abend und Nacht

Mehmet Kalak betrachtete die beiden Personen vor sich. Die Frau hatte ein hübsches Gesicht und eindringliche Augen. Sie trug Hipster-Kleider und war dermaßen durchtrainiert, dass sie ihren gut zehn Jahre jüngeren, attraktiven Begleiter vermutlich längst um den Finger gewickelt hatte. Genau diese Klientel wünschte er sich, deshalb hatte er extra breit gelächelt, als die beiden in die Jealousy Bar gekommen waren.

»Was meinen Sie?«, fragte die Frau. Sie sprach Bergener Dialekt. Er hatte nur den Nachnamen mitbekommen, Bratt, und dass sie von der Polizei war.

Mehmet senkte den Blick und sah sich noch einmal das Foto an, das vor ihm auf dem Tisch lag.

»Ja«, sagte er.

»Ja?«

»Ja, die war gestern Abend hier.«

»Sind Sie sicher?«

»Sie saß ungefähr da, wo Sie jetzt sitzen.«

»Hier? Allein?«

Mehmet bemerkte, dass die Frau versuchte, ihre große Nervosität zu verbergen. Warum tun die Menschen das? Was ist so schlimm daran, Gefühlsregungen zu zeigen? Er wollte seinen einzigen Stammgast nicht anschwärzen, aber sie war von der Polizei.

»Sie war mit einem Mann zusammen, der oft hier ist. Was ist denn passiert?«

»Lesen Sie keine Zeitung?«, fragte der junge blonde Mann mit der hellen Stimme.

»Nein, ich ziehe Medien vor, die wirklich Neuigkeiten bringen«, sagte Mehmet.

Bratt lächelte. »Die Frau wurde gestern Morgen ermordet aufgefunden. Was können Sie uns über diesen Mann sagen? Was haben die beiden hier gemacht?«

Mehmet fühlte sich, als hätte jemand einen Eimer Eiswasser über ihm ausgeleert. Ermordet? Die Frau, die vor weniger als vierundzwanzig Stunden vor ihm gestanden hatte, war jetzt eine Leiche? Er versuchte, sich zusammenzureißen. Und schämte sich für den automatisch aufpoppenden Gedanken: Wenn die Bar jetzt in den Zeitungen erwähnt würde, war das gut oder schlecht fürs Geschäft? Andererseits, viel schlechter konnte es ja eigentlich nicht mehr gehen.

»Tinder-Dating«, sagte er. »Er trifft seine Dates in der Regel hier. Er nennt sich Geir.«

»Nennt sich?«

»Ich tippe, dass er wirklich so heißt.«

»Bezahlt er nicht mit Karte?«

»Doch.«

Sie nickte in Richtung der Kasse. »Meinen Sie, Sie könnten die Abrechnung von gestern Abend heraussuchen?«

»Ich denke, das wäre möglich, ja«, erwiderte Mehmet etwas mürrisch.

»Sind die beiden gemeinsam gegangen?«

»Definitiv nicht.«

»Und das heißt?«

»Dass Geir wie gewöhnlich die Latte etwas zu hoch gelegt hatte. Das war eigentlich schon klar, als sie ihre Drinks bestellt haben. Apropos, wollen Sie etwas …?«

»Nein, danke«, sagte Bratt. »Wir sind im Dienst. Dann ist sie allein hier aufgebrochen?«

»Ja.«

»Und Sie haben nicht gesehen, ob ihr jemand gefolgt ist?«

Mehmet schüttelte den Kopf, stellte zwei Gläser auf den Tisch und nahm die Flasche Apfelmost. »Der geht aufs Haus. Frisch gepresst und aus der Gegend. Sie können dann ja ein andermal wiederkommen. Dann spendiere ich Ihnen ein Bier. Das erste geht aufs Haus. Das Gleiche gilt natürlich auch für Ihre Kollegen. Gefällt Ihnen die Musik?«

»Ja«, sagte der junge Mann. »U2 ist …«

»Nein«, sagte Bratt. »Hat die Frau vielleicht etwas gesagt, das für uns von Interesse sein könnte?«

»Nein. Oder … jetzt, wo Sie es sagen. Sie hat von einem Typen gesprochen, der sie gestalkt hat.« Mehmet sah von den Gläsern auf. »Die Musik war leise, und sie hat laut gesprochen.«

»Sicher. Waren noch andere in der Kneipe, die sich für die Frau interessiert haben?«

Mehmet schüttelte den Kopf. »Es war ein ruhiger Abend.«

»Wie heute also?«

Mehmet zuckte mit den Schultern. »Die beiden anderen Gäste waren schon weg, als Geir ging.«

»Dann dürfte es ja nicht so schwierig werden, die Kartennummern der Gäste herauszusuchen?«

»Einer hat bar bezahlt, der andere hat gar nichts bestellt.«

»Okay. Wo waren Sie selbst zwischen zweiundzwanzig Uhr und ein Uhr nachts?«

»Ich? Ich war hier. Und dann zu Hause.«

»Kann das jemand bestätigen? Nur damit wir Sie gleich abhaken können.«

»Ja. Oder nein.«

»Ja oder nein?«

Mehmet dachte nach. Vorbestrafte Kredithaie in die Sache hin­einzuziehen, würde sicherlich zu Schwierigkeiten führen. Diesen Trumpf musste er zurückhalten, bis er ihn wirklich brauchte.

»Nein, ich wohne allein.«

»Danke.« Bratt hob das Glas. Mehmet dachte erst, sie würde ihm damit zuprosten, doch sie deutete nur in Richtung Kasse.

»Wir trinken lokalen Apfelsaft, während Sie suchen, okay?«

Truls arbeitete seine Kneipen und Restaurants im Schnelldurchgang ab. Er hatte allen Barkeepern und Kellnern das Foto gezeigt und die Lokale verlassen, sobald er die vorhersehbaren Antworten erhalten hatte. »Nein« oder »Weiß nicht«. Was man nicht weiß, weiß man nicht, und dieser Tag war nun wirklich schon lang genug. Außerdem hatte er noch etwas anderes zu erledigen.

Truls hämmerte einen abschließenden Punkt in die Tastatur und überflog noch einmal seinen kurzen, aber schlüssigen Bericht, wie er fand. »Siehe beigefügte Liste der besuchten Kneipen mit Angabe der Uhrzeit meines Besuchs. Keiner der An­gestellten hat ausgesagt, Elise Hermansen am Mordabend gesehen zu haben. Truls Berntsen.« Er klickte auf Senden und stand auf.

Ein leises Brummen ertönte, und das Lämpchen am Festnetztelefon begann zu blinken. Die Nummer der Kriminalwache erschien auf dem Display. Dort gingen die Hinweise ein, aber weitergeleitet wurden nur diejenigen, die einigermaßen relevant erschienen. Verdammt, er hatte jetzt echt genug für heute. Er könnte so tun, als hätte er den Anruf nicht bemerkt. Andererseits … wenn das tatsächlich ein wichtiger Hinweis war, half ihm das vielleicht auch bei seiner privaten Agenda.

Er nahm das Gespräch an.

»Berntsen.«

»Endlich! Keiner meldet sich, wo sind die denn?«

»Die ziehen durch die Kneipen.«

»Müsst ihr nicht einen Mord aufklären …?«

»Um was geht’s?«

»Ich habe hier einen Mann, der sagt, gestern Abend mit Elise Hermansen zusammen gewesen zu sein.«

»Stellen Sie ihn durch.«

Es klickte, und dann hörte Truls das hektische, schnelle Atmen eines Mannes, der ganz offensichtlich Angst hatte.

»Kommissar Berntsen, Dezernat für Gewaltverbrechen. Was kann ich für Sie tun?«

»Mein Name ist Geir Sølle. Ich habe das Foto von Elise Hermansen in der Onlineausgabe der VG gesehen. Ich melde mich, weil ich gestern Abend ein kurzes Date mit einer Frau hatte, die ihr ähnlich sah. Und die sich Elise genannt hat.«

Geir Sølle brauchte fünf Minuten, um über sein Treffen in der Jealousy Bar zu berichten. Er gab an, anschließend nach Hause gegangen zu sein, noch vor Mitternacht. Truls erinnerte sich vage, dass die pinkelnden Jungs Elise um 23.30 Uhr gesehen hatten. Da war sie also noch am Leben gewesen.

»Kann jemand bestätigen, wann Sie nach Hause gekommen sind?«

»Das Logfile auf meinem PC. Und Kari.«

»Kari?«

»Meine Frau.«

»Sie haben Familie?«

»Frau und Hund.« Truls hörte den Mann schlucken.

»Warum haben Sie nicht eher angerufen?«

»Ich habe das Foto erst jetzt gesehen.«

Truls machte sich eine Notiz und fluchte. Das war nicht der Täter, nur wieder jemand, den sie ausschließen mussten, und das bedeutete, dass er noch einen Bericht schreiben musste und erst gegen zehn zu Hause sein würde.

Katrine lief über den Markveien. Sie hatte Anders Wyller nach Hause geschickt. Sein erster Arbeitstag war lang genug gewesen. Sie lächelte bei dem Gedanken, dass er sich an diesen Tag sein Leben lang erinnern würde. Aus dem Büro direkt zu einem Tatort – und keinem alltäglichen. Der Mord an Elise Hermansen war kein trauriger Drogenmord, den die Leute am nächsten Tag vergessen hatten, sondern eine Tat aus der Kategorie Das-könnte-ich-gewesen-sein, wie Harry es nennen würde. Also ein Mord an einem normalen Menschen in einer ganz normalen Umgebung. Solche Taten führten zu vollbesetzten Pressekonferenzen und fetten Schlagzeilen auf den Titelseiten. Weil das Alltägliche den Menschen die Möglichkeit gab, Mitgefühl zu zeigen und sich zu identifizieren. Aus demselben Grund wurde über ­einen Terroranschlag in Paris auch mehr berichtet als über einen in Beirut. Und Presse bedeutete Druck. Deshalb wollte Polizeipräsident Bellman auch jederzeit auf den neuesten Stand gebracht werden. Weil er den Journalisten Rede und Antwort stehen musste. Nicht sofort, aber wenn der Mord an einer jungen, hübschen Frau, noch dazu einer Stütze der Gesellschaft, nicht im Laufe der nächsten Tage aufgeklärt wurde.

Sie bräuchte zu Fuß eine halbe Stunde von hier zu ihrer Wohnung in Frogner, aber das war okay, sie musste ihren Kopf ein bisschen durchpusten lassen. Und ihren Körper. Sie nahm das Handy aus der Jackentasche und öffnete die Tinder-App. Konzentrierte sich mit einem Auge auf den Bürgersteig, mit dem anderen auf das Display. Wischte nach links und rechts.

Dann hatten sie also richtiggelegen mit der Annahme, dass Elise Hermansen von einem Tinder-Date nach Hause gekommen war. Der Mann, den der Barkeeper beschrieben hatte, schien harmlos, aber Katrine wusste aus eigener Erfahrung, wie gestört einige Männer waren, die glaubten, eine schnelle Nummer gäbe ihnen das Recht auf mehr. Sie hielten an der archaischen Vorstellung fest, dass der Geschlechtsakt weiblicher Unterwerfung gleichkam, die möglicherweise noch über das Sexuelle hinausging. Andererseits gab es sicher nicht weniger Frauen, die die ebenso archaische Vorstellung hatten, dass die Männer, die dankenswerterweise in sie eindrangen, ihnen fortan moralisch verpflichtet wären. Aber genug davon, gerade wurde ein Match angezeigt.

Ich bin zehn Minuten vom Nox am Solli plass entfernt, tippte sie.

Okay, dann bin ich schon da, erhielt sie als Antwort von Ulrich, dem Profilbild nach ein einfacher Mann.

Truls Berntsen blieb stehen und beobachtete Mona Daa, die sich selbst im Spiegel betrachtete.

Sie sah jetzt nicht mehr wie ein Pinguin aus, allenfalls wie ein in der Mitte eingeschnürter Pinguin. Truls hatte einen gewissen Widerstand gespürt, als er das betont sportlich gekleidete Mädel am Empfang des Gain Fitnessstudios bat, in die heiligen Hallen eingelassen zu werden, damit er sich einen Überblick über die zur Verfügung stehenden Geräte machen konnte. Vermutlich hatte sie ihm sein Interesse an einer Mitgliedschaft nicht ab­genommen, oder sie wollte jemanden wie ihn nicht als Mitglied haben. Es war aber auch denkbar, dass Truls nach einem langen Leben, in dem ihm immer wieder Verachtung begegnet war – manchmal aus gutem Grund –, nun in allen Gesichtern immer gleich Widerwillen zu sehen glaubte. Aber egal, nachdem er die Geräte für Bauch, Beine und Po, den Pilates-Saal und einen Spinningroom mit einer hysterisch engagierten Aerobictrainerin passiert hatte (Truls hatte eine vage Ahnung, dass das nicht mehr Aerobic hieß), fand er sie im Männerbereich. Im Gewichteraum beim Kreuzheben. Ein breiter Ledergürtel schnürte ihr die Taille zusammen und betonte die stämmigen, schulterbreit gestellten Beine, das ausladende Hinterteil und den muskulösen Oberkörper.

Sie stieß ein heiseres, beängstigendes Brüllen aus, als sie den Rücken streckte, die Stange ergriff und dabei ihr rot geflecktes Gesicht im Spiegel betrachtete. Die Gewichte schlugen aneinander, als sie sich vom Boden lösten. Die Stange bog sich nicht so stark, wie Truls es schon mal im Fernsehen gesehen hatte, aber dass es sich um reichlich Gewicht handelte, sah er den entgeisterten Mienen der beiden jungen Pakistani an. Sie standen in unmittelbarer Nähe und machten Bizepscurls, um die Oberarme für das Gangtattoo aufzupumpen. Verdammt, wie er diese Leute hasste. Verdammt, wie sie ihn hassten.

Mona Daa setzte die Stange ab. Brüllte und hob sie wieder hoch. Und noch einmal. Insgesamt vier Wiederholungen.

Anschließend stand sie zitternd da und lächelte wie die Verrückte aus Lier, wenn sie einen Orgasmus hatte. Wäre sie nicht so fett gewesen und hätte sie nicht so weit weg gewohnt, hätte aus ihm und ihr vielleicht sogar etwas werden können. Angeblich hatte sie ihn verlassen, weil sie sich in ihn verliebt hatte. Weil ihr einmal in der Woche zu wenig war. Damals war Truls ­erleichtert gewesen, aber heute dachte er hin und wieder an sie. Natürlich nicht so, wie er an Ulla dachte, aber sie war lustig gewesen und hatte wirklich was gehabt.

Mona Daa erblickte ihn im Spiegel und nahm die Ohrhörer ab. »Berntsen? Ich dachte, im Polizeipräsidium gäb’s einen eigenen Fitnessraum?«

»Gibt es auch«, sagte er und trat näher. Warf den Pakis einen Ich-bin-Bulle-verpisst-euch-Blick zu, auf den sie nicht reagierten. Vielleicht irrte er sich ja in ihnen. Einige dieser Jungs gingen heute sogar auf die Polizeihochschule.

»Was führt Sie dann her?« Sie löste den Gürtel, und Truls starrte fasziniert auf ihre Taille, ob ihr Körper sich jetzt wieder zu dem üblichen Pinguin aufblähte.

»Ich dachte, wir könnten einander helfen.«

»Bei was?« Sie hockte sich vor die Stange und löste die Schrauben an den Gewichten.

Er ging neben sie in die Hocke und senkte die Stimme. »Sie haben gesagt, dass Sie für Tips gut bezahlen.«

»So ist es«, sagte sie, ohne leiser zu sprechen. »Was haben Sie?«

Er räusperte sich. »Das kostet fünfzigtausend.«

Mona Daa lachte laut. »Wir bezahlen gut, Berntsen, aber so gut nun auch wieder nicht. Zehntausend ist die Obergrenze, und dafür muss es schon wirklich ein echter Trüffel sein.«

Truls nickte langsam und befeuchtete sich die Lippen. »Es ist kein Trüffel.«

»Was haben Sie gesagt?«

Truls sprach etwas lauter. »Ich habe gesagt, dass es kein Trüffel ist.«

»Was ist es dann?«

»Ein Drei-Gänge-Menü.«

»Kommt nicht in Frage«, rief Katrine durch das Stimmenwirrwarr und nippte an ihrem White Russian Cocktail. »Ich habe ­einen Lebensgefährten, und der ist zu Hause. Wo wohnst du?«

»In der Gyldenløves gate. Aber da gibt’s nichts zu trinken, und unordentlich ist es auch …«

»Sauberes Bettzeug?«

Ulrich zuckte mit den Schultern.

»Du beziehst das Bett neu, während ich dusche«, sagte sie. »Ich komme direkt von der Arbeit.«

»Was machst du …?«

»Sagen wir, dass du nur zu wissen brauchst, dass ich früh rausmuss, also sollten wir …«

Sie nickte in Richtung Ausgang.

»Ja, klar, aber vielleicht könnten wir vorher noch austrinken?«

Sie warf einen Blick auf seinen Drink. Sie trank aus dem einzigen Grund White Russian, weil Jeff Bridges den in The Big Lebowski trank.

»Kommt darauf an«, sagte sie.

»Worauf?«

»Welche Wirkung Alkohol … auf dich hat.«

Ulrich lachte. »Willst du damit andeuten, dass ich es nicht draufhaben könnte, Katrine?«

Ihr schauderte, als sie ihren Namen aus dem fremden Mund hörte. »Hast du es drauf, Ul-rich?«

»Aber sicher«, sagte er grinsend. »Außerdem … weißt du eigentlich, was diese Drinks kosten?«

Sie lächelte. Ulrich war okay. Schlank. Das Gewicht war das Einzige, worauf sie bei den Profilen achtete. Und die Größe. Sie rechnete den BMI ebenso schnell aus wie ein Pokerspieler die Chancen auf den Pot. 26,5 war in Ordnung. Bevor sie Bjørn getroffen hatte, war sie der Meinung gewesen, alles über 25 sei inakzeptabel.

»Ich muss aufs Klo«, sagte sie. »Hier ist meine Garderobenmarke, schwarze Lederjacke. Warte an der Tür.«

Katrine stand auf, ging durch den Raum und nahm an, dass er ihr jetzt mit dem Blick folgte, schließlich war das seine erste Chance, ihr Fahrgestell, wie das bei ihr zu Hause genannt wurde, von hinten zu sehen. Sie wusste, dass er zufrieden war.

Im hinteren Teil des Lokals standen die Gäste dicht gedrängt, sie musste sich mit den Armen einen Weg durch sie hindurchbahnen. Ein einfaches »Entschuldigung« hatte hier nicht die gleiche Wirkung wie in zivilisierteren Ecken. Zum Beispiel in Bergen. Plötzlich blieb ihr zwischen den verschwitzten Körpern die Luft weg. Sie kämpfte sich vorwärts, und nach wenigen Schritten verschwand das Gefühl des Sauerstoffmangels wieder.

Im Toilettengang war wie üblich eine Schlange vor dem Damenklo, während bei den Männern niemand stand. Sie sah noch einmal auf die Uhr. Leitende Ermittlerin. Eigentlich wollte sie morgen früh die Erste sein. Oder? Scheiß drauf, dachte sie, öffnete resolut die Tür der Männertoilette, trat ein, ging unbemerkt an der Reihe der Pissoirs und zwei Männern vorbei, die ihr den Rücken zudrehten, und schloss sich in einer Toilette ein. Ihre wenigen Freundinnen betonten immer, dass sie nie im Leben auch nur einen Fuß in eine Männertoilette setzen würden, weil es da viel dreckiger sei als auf dem Frauenklo. Diese Erfahrung hatte Katrine nicht gemacht.

Sie hatte gerade die Hose heruntergelassen und sich gesetzt, als jemand vorsichtig an die Tür klopfte. Seltsam, dachte sie, da man von außen sah, dass das Klo besetzt war. Und wenn man es sah, warum klopfte man dann? Sie schaute nach unten. In den Spalt zwischen Tür und Boden ragten die Spitzen von schmal zulaufenden Cowboystiefeln aus Schlangenleder. Offenbar hatte der Stiefelträger sie auf die Männertoilette gehen sehen und war ihr gefolgt, weil er sie wohl für besonders experimentierfreudig hielt.

»Verschw…«, begann sie und brach aus Mangel an Luft ab. Wurde sie krank? Hatte sie der eine Tag als Leiterin der Ermittlungen in diesem, wie sie schon jetzt wusste, großen Mordfall so fertiggemacht? Mein Gott …

Sie hörte, wie sich die Tür des Toilettenraums öffnete und dass zwei laut palavernde Männer ins Klo kamen.

»Das ist echt der Wahnsinn!«

»Total verrückt.«

Die Stiefelspitzen verschwanden. Katrine lauschte, hörte aber keine Schritte. Sie machte sich fertig, schloss auf und ging zum Waschbecken. Das Gespräch der beiden lautstarken Kerle verstummte, als sie das Wasser andrehte.

»Was machst du denn hier?«, fragte einer der beiden.

»Pinkeln und mir die Hände waschen«, sagte sie. »Merkt euch die Reihenfolge.«

Sie schüttelte sich das Wasser von den Händen und ging nach draußen.

Ulrich stand mit ihrer Jacke an der Tür und erinnerte sie an ­einen Hund mit wedelndem Schwanz und Stock im Maul. Sie zwang sich, diesen Gedanken beiseitezuschieben.

Truls fuhr nach Hause. Er drehte das Radio lauter, als er hörte, dass sie den Motörhead-Song spielten, von dem er immer geglaubt hatte, er hieße »Ace of Space«. Bis Mikael irgendwann auf einer Schulfete gegrölt hatte: »Beavis glaubt übrigens, dass Lemmy Ace of … Space singt!« Das grölende, die Musik über­tönende Lachen schallte noch heute in seinen Ohren nach, und auch das Funkeln in Ullas schönen, lachenden Augen hatte er nie vergessen.

Egal, Truls war noch immer der Meinung, dass »Ace of Space« ein besserer Titel wäre als »Ace of Spades«. Einmal, als Truls das Wagnis eingegangen war, sich in der Kantine an einen Tisch zu setzen, an dem schon andere saßen, hatte Bjørn Holm gerade in seinem lächerlichen Dialekt doziert, dass er es viel poetischer fände, wenn Lemmy 72 geworden wäre. Als Truls fragte, warum, hatte Bjørn nur geantwortet: »Sieben und zwei, zwei und sieben, alles klar? Morrison, Hendrix, Joplin, Cobain, Winehouse, die ganze Gang.«

Truls hatte wie die anderen genickt, aber nicht verstanden, was er meinte. Nur dass er noch immer nicht dazugehörte, das hatte er durchaus verstanden.

Aber dazugehören oder nicht, an diesem Abend war Truls um dreißigtausend reicher als Bjørn fucking Holm und all seine ­nickenden Kantinenfreunde.

Mona war richtig aufgeblüht, als Truls ihr von den Beißerchen erzählt hatte oder dem Eisengebiss, wie Holm es genannt hatte. Sie hatte ihren Redakteur angerufen und ihn überzeugt, dass diese Info wirklich, wie Truls es gesagt hatte, ein Drei-Gänge-Menü war. Die Vorspeise war, dass Elise Hermansen ein Tinder-Date gehabt hatte. Der Hauptgang, dass der Mörder vermutlich bereits in ihrer Wohnung gewesen war, als sie nach Hause kam, und das Dessert, dass er sie durch einen Biss mit einem Eisengebiss in die Halsschlagader getötet hatte. Zehntausend für jeden Gang. Dreißig. 3 und 0 und dreimal 0, nicht wahr?

»Ace of space, ace of space!«, grölten Truls und Lemmy.

»Kommt nicht in Frage«, sagte Katrine und zog ihre Hose wieder an. »Wenn du kein Kondom hast, kannst du das vergessen.«

»Ich habe mich gerade erst vor zwei Wochen checken lassen«, sagte Ulrich und setzte sich auf die Bettkante. »Ehrenwort.«

»Dein Ehrenwort kannst du dir in die Haare schmieren …« ­Katrine hielt die Luft an, um sich die Hose zuzuknöpfen. »Geschweige denn, dass ich so schwanger werden könnte.«

»Verhütest du denn nicht?«

Doch, Ulrich gefiel ihr wirklich. Das war es nicht. Es war … ach, zum Teufel.

Sie ging in den Flur und zog die Schuhe an. Hatte sich gemerkt, wohin er ihre Lederjacke gehängt hatte und dass es an der Wohnungstür nur ein simples Drehschloss gab. Ja, sie sicherte immer ihren Rückzug. Sie verließ die Wohnung und lief die Treppe hinunter. Unten auf der Gyldenløves gate schmeckte die frische Herbstluft nach Freiheit. Irgendwie hatte sie das Gefühl, noch einmal davongekommen zu sein. Sie lachte. Ging zwischen den Baumreihen in der Mitte der breiten, menschenleeren Allee entlang. Mann, war sie fertig. Aber wenn sie sich so gut ­abgrenzen konnte und sich sogar den Rückzug gesichert hatte, als sie mit Bjørn zusammengezogen war, warum hatte sie sich ­damals keine Spirale einsetzen oder sich wenigstens die Pille verschreiben lassen? Im Gegenteil erinnerte sie sich an ein Gespräch, als sie Bjørn erklärt hatte, dass ihre sowieso schon angeknackste Psyche nicht auch noch eine Hormonmanipulation ertragen würde. Tatsächlich hatte sie die Pille abgesetzt, gleich nachdem sie mit Bjørn zusammengekommen war. Ihre Gedanken wurden vom Klingeln ihres Telefons unterbrochen. Das Eröffnungsriff von »O my soul« von Big Star, eingerichtet – natürlich – von Bjørn, der ihr voller Begeisterung von der vergessenen Südstaaten-Band aus den Siebzigern erzählt und sich beklagt hatte, dass der Dokumentarfilm über die Band auf Netflix ihm seine langjährige Missionarstätigkeit einfach kaputtgemacht habe. »Verdammt, das Besondere an unbekannten Bands ist doch, dass sie unbekannt sind!« Dieser Mann würde so schnell nicht erwachsen werden.

Sie ging ans Telefon. »Ja, Gunnar?«

»Ermordet mit Eisenzähnen?« Der in der Regel ruhige Dezernatsleiter klang stinkwütend.

»Entschuldigung?«

»Die Schlagzeile der VG in der Onlineausgabe. Und dann steht da noch, dass der Täter bereits in Elise Hermansens Wohnung war und ihr die Halsschlagader durchgebissen hat. Das Ganze wollen sie von einer zuverlässigen Polizeiquelle haben.«

»Was?«

»Bellman hat bereits angerufen. Er ist – wie soll ich sagen? – außer sich.«

Katrine blieb stehen. Versuchte nachzudenken. »Zum einen wissen wir noch gar nicht, ob er schon da war, zum anderen ist noch völlig unklar, ob er gebissen hat, wenn es denn überhaupt ein Er war.«

»Dann halt eine unzuverlässige Polizeiquelle, das ist mir egal! Wir müssen der Sache nachgehen. Wer ist der Informant?«

»Ich weiß es nicht, aber ich weiß, dass die VG schon aus Prinzip ihre Quelle schützen wird.«

»Prinzip hin oder her, sie wollen sich ihre Quelle warmhalten, weil sie natürlich davon ausgehen, dass da noch mehr kommt. Wir müssen dieses Leck stopfen, Bratt.«

Katrine hatte sich inzwischen wieder gesammelt. »Macht Bellman sich etwa Sorgen, dass dieses Leck den Ermittlungen schaden könnte?«

»Er macht sich Sorgen, dass die ganze Polizei damit in ein schlechtes Licht gerückt wird.«

»Dachte ich es mir.«

»Was dachtest du dir?«

»Du weißt, was ich dachte, weil du dasselbe denkst.«

»Darum müssen wir uns morgen früh als Erstes kümmern«, sagte Hagen.

Katrine steckte das Handy in ihre Jackentasche und sah nach vorn auf den Weg. Irgendetwas im Schatten hatte sich bewegt. Wahrscheinlich nur ein Windstoß in den Bäumen. Sie erwog kurz, die Straße zu überqueren und den hellerleuchteten Bürgersteig zu nehmen, doch dann beschleunigte sie einfach ihre Schritte und ging geradeaus weiter.

Mikael Bellman stand am Wohnzimmerfenster. Von ihrer Villa in Høyenhall aus konnte er das ganze Zentrum von Oslo überblicken, das sich nach Westen bis hoch zum Holmenkollen erstreckte. Abends funkelte die Stadt wie ein Diamant im Mondlicht. Sein Diamant.

Seine Kinder schliefen fest. Seine Stadt schlief relativ fest.

»Was ist los?«, fragte Ulla und sah von ihrem Buch auf.

»Dieser Mordfall muss gelöst werden.«

»Das müssen doch wohl alle Mordfälle.«

»Der hier ist besonders gravierend.«

»Weil es eine Frau ist?«

»Darum geht es nicht.«

»Oder weil die VG den Fall so groß rausgebracht hat?«

Er hörte den Anflug von Verachtung in ihrer Stimme, aber das beunruhigte ihn nicht weiter. Sie hatte sich wieder beruhigt, war wieder die Alte. Tief in ihrem Inneren kannte Ulla ihren Platz. Und sie war nicht auf Streit aus. Seine Frau liebte es über alles, für die Familie zu sorgen, sich um die Kinder zu kümmern und Bücher zu lesen. Deshalb erforderte die unverhohlene Kritik in ihrer Stimme keine Reaktion. Außerdem würde sie ohnehin nicht verstehen, dass man, wollte man als guter König in Erinnerung bleiben, nur zwei Möglichkeiten hatte. Entweder war man ein König in guten Zeiten, dafür brauchte man das Glück, während erfolgreicher Jahre auf dem Thron zu sitzen. Oder man war der König, der das Land aus Krisenzeiten herausführte. Wenn es keine Krisen gab, konnte man welche vom Zaun brechen, Kriege anzetteln und den Menschen klarmachen, in welch große Pro­bleme es das Land stürzen würde, wenn man nicht in den Krieg zog. Dafür musste man den Teufel an die Wand malen. Es konnte ruhig ein kleiner Krieg sein, wichtig war nur, dass man ihn gewann. Mikael Bellman hatte den Medien und dem Senat gegenüber die Zahlen der Eigentumsdelikte durch Zugereiste aus den baltischen Staaten und Rumänien aufgeblasen und die Zukunft in düsteren Farben gemalt. Ihm war in der Folge ein Sonderetat bewilligt worden, um den in Wahrheit kleinen, in den Medien aber großen Krieg zu gewinnen. Und mit den letzten Zahlen, die er zwölf Monate später präsentierte, hatte er sich selbst indirekt zum Sieger ausgerufen.

Dieser neue Mord war kein kleiner Krieg, in dem er das Zepter führte. Nach den Schlagzeilen in der VG an diesem Abend wusste er, dass dies längst ein großer Krieg war, in dem die Medien das Kommando übernommen hatten. Er erinnerte sich an eine Lawine auf Spitzbergen, durch die zwei Menschen umgekommen waren und einige weitere ihre Häuser verloren hatten. Ein paar Monate später waren bei einem Feuer in einer Reihenhaussiedlung in Nedre Eiker drei Menschen gestorben und weitere obdachlos geworden. Dieser Fall hatte nur die üblichen, schlichten Artikel nach sich gezogen, wie für Hausbrände und Verkehrsunfälle typisch. Die Lawine auf der weit entfernten Insel hingegen war ­wesentlich medienwirksamer gewesen – genau wie dieses Eisengebiss. Die Presse war darauf angesprungen wie auf eine nationale Katastrophe. Und die Ministerpräsidentin – die immer dann sprang, wenn die Medien das wollten – hatte sich in einer Livesendung an die Norweger gewandt. Die Fernsehzuschauer und Reihenhausbewohner in Nedre Eiker wunderten sich, wo sie gewesen war, als es bei ihnen gebrannt hatte. Mikael Bellman wusste, wo sie gewesen war. Sie und ihre Ratgeber hatten wie immer mit einem Ohr auf den Medien-Gleisen gelegen und auf die Vibrationen gelauscht. Aber da war nichts gewesen.

Mikael Bellman spürte den Boden beben. Weil ausgerechnet jetzt, wo er als erfolgreicher Polizeipräsident die Chance auf Macht hatte, ein Krieg ausbrach, den er nicht verlieren durfte. Er musste diesen einen Mord so wichtig nehmen, als stünde er für eine neue Welle der Gewalt, ganz einfach weil Elise Hermansen eine gebildete, gutverdienende norwegische Frau in den Drei­ßigern war und weil es sich bei der Mordwaffe nicht um eine ­Eisenstange, ein Messer oder eine Pistole, sondern um Zähne aus Eisen handelte.

Deshalb hatte er einen Entschluss gefasst, der ihm gar nicht passte. Aus vielerlei Gründen. Aber an dem doch kein Weg vorbeiführte.

Er musste ihn um Hilfe bitten.

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