Kapitel 15
Sonntagabend
Rakel saß am Küchentisch. Die Schmerzen, die sie mit Lärm und hektischer Betriebsamkeit verdrängen konnte, kamen wieder und waren nicht mehr zu ignorieren. Sie kratzte sich am Arm. Der Ausschlag war gestern noch kaum zu sehen gewesen. Als der Arzt sie gefragt hatte, ob sie regelmäßig Wasser ließ, hatte sie automatisch mit Ja geantwortet, doch jetzt, da sie dafür eine größere Aufmerksamkeit hatte, wurde ihr bewusst, dass sie in den letzten zwei Tagen kaum auf der Toilette gewesen war. Und sie bekam kaum Luft, fühlte sich schlapp, dabei war sie doch eigentlich körperlich fit.
Sie hörte das Klackern von Schlüsseln und stand auf.
Die Haustür ging auf, und Harry kam herein. Er sah blass und müde aus.
»Ich muss gleich wieder los, will mir nur kurz saubere Sachen anziehen«, sagte er, streichelte ihr über die Wange und hastete die Treppe hoch.
»Wie läuft’s?«, fragte sie und sah ihn oben in ihrem Schlafzimmer verschwinden.
»Gut!«, rief er. »Wir wissen jetzt, wer es ist.«
»Ist es dann nicht an der Zeit, nach Hause zu kommen?«, fragte sie halblaut, halbherzig.
»Was?« Sie hörte Trampeln und wusste, dass er sich wie ein Kind die Hose von den Beinen trat. Oder wie ein Besoffener.
»Wenn du mit deinem großen, übermächtigen Hirn den Fall gelöst hast …«
»Das ist es ja.« Er erschien oben in der Tür mit einem leichten Wollpulli bekleidet und stützte sich im Rahmen ab, während er sich dünne Wollsocken anzog. Sie hatte ihn schon oft damit aufgezogen, dass nur alte Männer sommers wie winters Wolle trugen. Es sei die beste Überlebensstrategie, in jeder Lebenslage alte Männer zu kopieren, schließlich hätten die den Sieg davongetragen, war seine Antwort darauf.
»Ich habe gar nichts gelöst. Er hat seine Identität selbst preisgegeben.« Harry richtete sich in der Tür auf und klopfte seine Hosentaschen ab. »Die Schlüssel«, sagte er und verschwand noch einmal im Schlafzimmer.
»Ich habe in der Ullevål-Klinik Dr. Steffens kennengelernt«, rief er. »Er hat gesagt, dass er dich behandelt?«
»Ach ja? Du, Liebster? Kann es sein, dass du ein paar Stunden Schlaf brauchst? Deine Schlüssel stecken hier unten in der Tür, du hast sie offen gelassen.«
»Du hast doch gesagt, du wärst nur zu einer Untersuchung da gewesen?«
»Und wo ist da der Unterschied?«
Harry kam erneut aus dem Schlafzimmer, lief die Treppe herunter und umarmte sie. »Eine Untersuchung ist was Einmaliges, eine Behandlung dauert. Nach meinem Verständnis kommt die Behandlung erst, wenn etwas gefunden wurde.«
Rakel lachte und lehnte sich an ihn. »Die Kopfschmerzen habe ich selbst entdeckt, und die brauchen eine Behandlung, Harry. Und zwar mit Kopfschmerztabletten.«
Er schob sie ein Stück von sich weg und musterte sie. »Du würdest mir doch nichts verheimlichen, oder?«
»Hast du für so einen Unsinn wirklich Zeit?« Rakel drehte unter Schmerzen ihren Kopf, biss ihm ins Ohr und schob ihn in Richtung Tür. »Sieh zu, dass du deinen Job erledigt kriegst, und dann kommst du nach Hause zu Mama. Sonst besorge ich mir so einen 3-D-Drucker und drucke mir einen häuslichen Mann aus. Aus weißem Plastik.«
Harry lächelte und ging zur Tür. Zog den Schlüsselbund aus dem Schloss, blieb dann aber stehen und starrte ihn an.
»Was?«, fragte Rakel.
»Er hatte die Schlüssel zu Elise Hermansens Wohnung«, sagte Harry und zog die Beifahrertür zu. »Und vermutlich auch die von Ewa Dolmen.«
»Sicher?«, fragte Wyller, löste die Handbremse und fuhr langsam aus der Einfahrt. »Wir haben alle registrierten Schlüsseldienste überprüft. Für die beiden Adressen ist nie ein Systemschlüssel nachgemacht worden.«
»Weil er den selbst gemacht hat. Aus weißem Plastik.«
»Aus weißem Plastik?«
»Mit einem ganz normalen 3-D-Drucker für fünfzehntausend Kronen, wie er auf deinem Schreibtisch steht. Er brauchte dafür lediglich ein paar Sekunden Zugang zu den Originalschlüsseln. Er kann ein Foto oder einen Wachsabdruck gemacht haben, um daraus dann ein 3-D-File zu generieren. Als Elise Hermansen nach Hause kam, war er schon in ihrer Wohnung. Sie hatte die Kette vorgelegt, weil sie glaubte, allein zu sein.«
»Und wie soll er an ihre Schlüssel gekommen sein? Keines der Häuser, in denen die Opfer lebten, hat einen Wachdienst. Da gab es überall eigene Hausmeister. Und die haben alle ein Alibi und leugnen, die Schlüssel jemals aus den Händen gegeben zu haben.«
»Ich weiß. Ich habe keine Ahnung, wie das abgelaufen ist, nur dass es so gewesen ist.«
Harry brauchte den jungen Kollegen nicht anzusehen, um zu wissen, wie skeptisch er war. Es gab Hunderte andere Erklärungen dafür, dass Elise Hermansen die Kette vorgelegt hatte. Harrys Schlussfolgerung schloss keine dieser anderen Möglichkeiten aus. Holzschuh, Harrys pokernder Freund, meinte, es sei nichts leichter zu lernen als Wahrscheinlichkeitsrechnung und wie man nach Lehrbuch seine Karten legte. Der Unterschied zwischen guten und weniger guten Spielern sei dann die Fähigkeit, seine Gegner zu lesen. Dafür müsse man unzählige Informationen verarbeiten, so als wollte man aus einem brüllenden Sturm ein Flüstern herausfiltern. Vielleicht hatte er recht. In all dem, was Harry über Valentin Gjertsen wusste, in all den Berichten, den Erfahrungen von anderen Serienmorden, bei all den Opfern, die er im Laufe der Jahre nicht hatte retten können und die ihn heimsuchten, vernahm auch er eine flüsternde Stimme. Valentin Gjertsens Stimme. Er hatte sie alle rechts überholt und war ihnen jetzt so nah, dass sie ihn nicht sahen.
Harry griff zum Telefon. Katrine antwortete beim zweiten Klingeln.
»Ich sitze in der Maske«, sagte sie.
»Ich glaube, Valentin besitzt einen 3-D-Drucker. Und der kann uns zu ihm führen.«
»Wie das?«
»Elektrogeschäfte registrieren Namen und Adressen von Kunden, wenn der Kaufbetrag eine gewisse Summe überschreitet. Und in Norwegen sind bislang nur ein paar tausend 3-D-Drucker verkauft worden. Wenn alle in der Gruppe mitmachen und alles andere ruhen lassen, woran sie gerade arbeiten, haben wir im Laufe von vierundzwanzig Stunden eine Übersicht und können sicher 95 Prozent der Käufer als Täter ausschließen. Dann sollten wir nur noch rund zwanzig Namen auf der Liste haben. Falsche Namen oder Pseudoidentitäten finden wir raus, wenn diese Leute im Einwohnermeldeamt nicht unter der angegebenen Adresse vermerkt sind. Oder wenn sie bei einem möglichen Anruf bestreiten, einen 3-D-Drucker zu besitzen. Die meisten Elektrogeschäfte haben zudem Überwachungskameras, so dass wir die Verdächtigen zum Zeitpunkt des Kaufes überprüfen können. Außerdem gibt es eigentlich keinen Grund, warum er nicht in einen Laden ganz in der Nähe seiner Wohnung gegangen sein sollte. Dann wissen wir, wo wir suchen müssen.«
»Wie bist du auf das mit dem 3-D-Drucker gekommen, Harry?«
»Ich habe mit Oleg über Drucker und Waffen gesprochen und …«
»Alles andere ruhen lassen, Harry? Um auf etwas zu setzen, auf das du gekommen bist, als du mit Oleg geredet hast?«
»Genau.«
»Ich glaube, das ist genau eine dieser Alternativ-Spuren, denen du mit deiner Guerillatruppe folgen solltest, Harry.«
»Die besteht bis jetzt aber nur aus mir. Ich brauche deine Ressourcen.«
Harry hörte Katrines Lachen. »Wenn du nicht Harry Hole heißen würdest, hätte ich längst aufgelegt.«
»Dann ist es ja gut, dass ich so heiße. Hör mal, wir suchen jetzt seit drei Jahren nach Valentin Gjertsen. Ohne jeden Erfolg. Das ist die einzige neue Spur, die wir haben.«
»Gib mir bis nach dem Interview Zeit, um dazu etwas zu sagen. Es geht hier gleich los, und ich muss an so viele Dinge denken. Außerdem bin ich, um ehrlich zu sein, verdammt nervös.«
»Hm.«
»Einen Tip für einen Fernsehneuling?«
»Lehn dich zurück und sei entspannt, genial und witzig.«
Er konnte sie lächeln hören. »Wie du das immer im Fernsehen machst?«
»Ich war nichts davon. Und – ach ja – sei nüchtern!«
Harry steckte das Handy in die Jackentasche. Sie näherten sich dem … Ort. Der Kreuzung Slemdalsveien, Rasmus Winderens vei in Vinderen. Als die Ampel rot wurde und sie anhielten, konnte Harry es nicht lassen. Wie er es nie lassen konnte. Er warf einen Blick auf die Haltestelle auf der anderen Seite der U-Bahn. Dort hatte er vor einem halben Leben bei einer Verfolgungsjagd die Kontrolle über den Streifenwagen verloren, war darin quer über die Gleise geflogen und an den Beton geknallt. Der Kollege auf dem Beifahrersitz war sofort tot. Wie betrunken war er gewesen? Harry hatte keinen Alkoholtest machen müssen, und in dem Bericht, der anschließend geschrieben wurde, stand, dass er auf dem Beifahrersitz und nicht auf dem Fahrersitz gesessen hatte. Alles zum Besten der Truppe.
»Hast du das gemacht, um Leben zu retten?«
»Was?«, fragte Harry.
»Im Dezernat für Gewaltverbrechen gearbeitet«, sagte Wyller. »Oder um Mörder dingfest zu machen?«
»Hm. Denkst du an das, was der Verlobte gesagt hat?«
»Nein, ich musste an deine Vorlesung denken. Ich dachte, du wärst Mordermittler gewesen, weil du den Job ganz einfach geliebt hast.«
Harry schüttelte den Kopf. »Ich habe das gemacht, weil es das Einzige ist, was ich wirklich kann, ich habe den Job gehasst.«
»Wirklich?«
Harry zuckte mit den Schultern, als die Ampel auf Grün schaltete. Sie fuhren weiter in Richtung Majorstua. Die Abenddämmerung kroch ihnen aus dem Osloer Kessel förmlich entgegen.
»Lass mich an der Kneipe da raus«, sagte Harry. »Da, wo das erste Opfer war.«
Katrine stand hinter den Kulissen und betrachtete die kleine, leere Insel im Zentrum des Scheinwerferlichts. Sie bestand aus einem mit schwarzen Dielen ausgelegten Viereck, auf dem drei Sessel und ein Tisch standen. In einem der Sessel saß der Moderator des Sonntagsmagazins, der sie gleich als ersten Gast ankündigen würde. Hallstein Smith würde der zweite sein. Katrine versuchte, nicht an die unzähligen Augen zu denken, oder daran, wie sehr ihr Herz hämmerte. Und auch nicht daran, dass Valentin jetzt irgendwo dort draußen war und sie ihn nicht daran hindern konnten, wieder zuzuschlagen, so genau sie auch wussten, wer der Täter war. Stattdessen dachte sie an das, was Bellman ihr mitgegeben hatte: Sie sollte überzeugend und sicher vorbringen, dass der Fall aufgeklärt sei. Dass der Täter sich allerdings noch auf freiem Fuß befinde und es möglich sei, dass er sich mittlerweile ins Ausland abgesetzt habe.
Katrine sah zu der Aufnahmeleiterin hinüber, die mit Clipboard und Headset zwischen den Kameras und der Insel stand und rief, dass es noch zehn Sekunden bis zum Beginn der Sendung waren. Dann begann der Countdown. Ganz spontan musste sie an den idiotischen kleinen Zwischenfall denken, der sich am Tag zugetragen hatte. Vielleicht weil sie müde und nervös war, vielleicht aber auch, weil ihr Hirn Zuflucht zu solchen Bagatellen suchte, wenn es sich auf etwas konzentrieren sollte, das ihm zu groß erschien und Angst machte. Sie war zu Bjørn in die Kriminaltechnik gefahren und hatte ihn gebeten, die Analyse der technischen Spuren aus dem Treppenhaus prioritär zu behandeln, damit sie im Fernsehen überzeugender auftreten konnte. Da Sonntag war, war die Kriminaltechnik ziemlich verwaist gewesen, und die wenigen, die dort waren, arbeiteten an den Vampiristenmorden. Möglicherweise waren es die leeren Räume, die Katrine so aus dem Konzept gebracht hatten. Als sie wie gewöhnlich direkt in Bjørns Büro marschiert war, hatte eine Frau dicht neben Bjørn gestanden und sich tief über seinen Stuhl gebeugt. Es musste etwas Lustiges geschehen oder gesagt worden sein, denn die Frau und Bjørn lachten. Als sie Katrine bemerkten und sich zu ihr umdrehten, hatte sie in der Frau die neue Chefin der Kriminaltechnik erkannt. Irgendeine Lien. Katrine wusste noch genau, was sie gedacht hatte, als Bjørn ihr von der Neuanstellung erzählt hatte. Die Frau sei viel zu jung und unerfahren. Eigentlich hätte Bjørn den Job kriegen müssen. Oder besser gesagt: Eigentlich hätte Bjørn ihn annehmen müssen, schließlich hatten sie ihm den Job angeboten. Aber seine Antwort war ein klassischer Bjørn Holm gewesen: Warum einen guten Kriminaltechniker ziehen lassen, um einen schlechten Chef zu bekommen? So gesehen war Frau oder Fräulein Lien bestimmt eine gute Wahl. Allerdings hatte Katrine auch noch nicht gehört, dass diese Lien sich irgendwo fachlich ausgezeichnet hätte. Katrine hatte ihr Anliegen vorgebracht, und Bjørn hatte ruhig geantwortet, dass seine Chefin für die Prioritätensetzung zuständig sei. Und Lien hatte mit aufgesetzt wohlwollendem Lächeln erwidert, dass sie mit den anderen Kriminaltechnikern schauen wolle, wann sie die Analysen fertig haben könnten. Katrine war der Kragen geplatzt. Sie hatte sich lauthals beschwert, dass »schauen wolle« nicht gut genug sei. Die Vampiristenmorde seien der wichtigste Fall, was jeder, der auch nur einen Funken Erfahrung habe, auch sehen würde. Und dass es im Fernsehen schlecht rüberkäme, wenn sie keine Antwort geben könne, weil die neue Chefin der Kriminaltechnik den Fall nicht als wichtig genug erachte.
Und Berna Lien – ja, jetzt fiel ihr auch der Vorname wieder ein, weil sie wie diese Bernadette aus The Big Bang Theory aussah, klein, mit Brille und viel zu großen Brüsten – hatte geantwortet: »Wenn ich Ihnen diese Priorität einräume, versprechen Sie mir dann, niemandem gegenüber zu erwähnen, dass ich die Kindesmisshandlung in Aker oder die Ehrenmorde in Stovner nicht als wichtig genug erachte?« Wie aufgesetzt ihre Stimme dabei war, hatte Katrine erst erkannt, als Lien in normalem, ernstem Ton hinzugefügt hatte: »Ich bin natürlich auch der Meinung, dass es besonders eilig ist, wenn wir so weitere Morde verhindern können, Bratt. In meinen Augen ist aber nur das ein gewichtiges Argument und nicht Ihr Fernsehauftritt. Ich sage Ihnen in zwanzig Minuten Bescheid, okay?«
Katrine hatte nur genickt und war zurück ins Präsidium gefahren, wo sie sich auf der Damentoilette eingeschlossen und die Schminke abgewischt hatte, die sie aufgetragen hatte, bevor sie in die Kriminaltechnik gefahren war.
Die Erkennungsmelodie begann, und der Moderator – der bereits mit geradem Rücken dasaß – richtete sich noch weiter auf, während er die Gesichtsmuskulatur mit wiederholtem, übertrieben breitem Lächeln, das er bei dem Thema des Abends sicher nicht brauchen würde, aufwärmte.
Katrine spürte das Handy in ihrer Hose vibrieren. Als Leiterin einer Ermittlung, bei der sie immer erreichbar sein musste, hatte sie die Aufforderung ignoriert, das Handy während der Sendung ganz auszuschalten. Es war eine SMS von Bjørn.
»Treffer bei einem Fingerabdruck an der Haustür von Penelope. Es ist Valentin Gjertsen. Ich gucke jetzt fern. Toi, toi, toi.«
Katrine nickte der Frau neben sich zu, die ihr ein weiteres Mal sagte, dass sie direkt zum Moderator gehen solle, wenn sie ihren Namen hörte. Auch auf welchem Sessel sie Platz nehmen sollte, hörte sie jetzt zum x-ten Mal.
Toi, toi, toi. Als müsste sie auf eine Theaterbühne. Trotzdem spürte Katrine, dass sie innerlich lächelte.
Harry blieb in der Tür der Jealousy Bar stehen und stellte fest, dass das Geräusch einer lärmenden Menschenmenge ihn getrogen hatte. Wenn nicht noch jemand in den Nischen an der Wand saß, war er der einzige Gast in der Kneipe. Er bemerkte schließlich, dass der Lärm aus dem Fernseher hinter dem Tresen kam, wo ein Fußballspiel lief. Harry setzte sich auf einen Barhocker und sah zu.
»Bes¸iktas¸ gegen Galatasaray«, sagte der Barkeeper lächelnd.
»Türkisch«, erwiderte Harry.
»Ja«, erwiderte der Barkeeper finster. »Interessiert?«
»Eigentlich nicht.«
»Auch okay. Aber das ist der reinste Wahnsinn. Wenn man Fan der Gastmannschaft ist und die mal ein Spiel gewinnt, muss man sehen, dass man nach dem Abpfiff nach Hause kommt, sonst riskiert man, erschossen zu werden.«
»Hm. Geht es dabei um eine andere Religion oder um verschiedene soziale Klassen?«
Der Barkeeper hörte auf, Biergläser zu spülen, und musterte Harry. »Es geht ums Gewinnen.«
Harry zuckte mit den Schultern. »Natürlich. Ich heiße Harry Hole und bin … war Hauptkommissar am Dezernat für Gewaltverbrechen. Sie haben mich für die Ermittlungen wieder ins Boot geholt, es geht um …«
»Elise Hermansen.«
»Genau. Ich habe in dem Protokoll Ihrer Aussage gelesen, dass Sie einen Gast mit Cowboystiefeln hier hatten, als Elise und ihr Date hier waren.«
»Stimmt.«
»Können Sie mir mehr über diesen Mann sagen?«
»Eigentlich nicht. Wenn ich das richtig in Erinnerung habe, kam er direkt nach Elise und setzte sich in die Nische da drüben.«
»Haben Sie ihn gesehen?«
»Ja, aber nicht lange oder gründlich genug, um ihn beschreiben zu können. Sie sehen ja, man kann die Nischen von hier aus nicht einsehen. Er hatte nichts bestellt und war dann irgendwann auch wieder weg. Das passiert häufiger, die Leute finden es hier wohl zu leer. Das ist das Problem mit Kneipen, man braucht Leute, um andere Leute anzuziehen. Ich hatte gar nicht mitbekommen, dass er gegangen war, und mir deshalb auch keine Gedanken darüber gemacht. Außerdem wurde sie ja in ihrer Wohnung ermordet, oder?«
»Ja, stimmt.«
»Sie glauben, dass er ihr nach Hause gefolgt sein kann?«
»Das ist auf jeden Fall eine Möglichkeit.« Harry betrachtete den Barkeeper genauer. »Mehmet, nicht wahr?«
»Stimmt.«
Der Kerl hatte etwas, das Harry instinktiv mochte und das ihn laut aussprechen ließ, was er dachte. »Wenn mir der Stil einer Kneipe nicht gefällt, mache ich an der Tür wieder kehrt. Und wenn ich reingehe, bestelle ich auch was. Dann sitze ich nicht einfach nur rum. Er kann ihr hierher gefolgt sein, und als er die Situation gecheckt und erkannt hat, dass sie bald wieder gehen würde, ohne den Typ mitzunehmen, ist er los, um in ihrer Wohnung auf sie zu warten.«
»Wirklich? Was für ein kranker Arsch. Das arme Mädchen. Apropos arm, da ist der Typ, den sie an dem Abend getroffen hat.« Mehmet nickte in Richtung Tür, und Harry drehte sich um. Die Galatasaray-Fans waren so laut, dass er das Eintreten des kahlen, untersetzten Mannes in Daunenweste und schwarzem Hemd nicht bemerkt hatte. Der Mann setzte sich an die Bar und nickte dem Barkeeper steif zu. »Ein großes Bier.«
»Geir Sølle?«, fragte Harry.
»Lieber nicht«, sagte der Mann und lachte hohl, ohne dass sein Gesichtsausdruck sich dabei veränderte. »Journalist?«
»Polizei. Ich will wissen, ob jemand von Ihnen diesen Mann erkennt.« Harry legte das Phantombild von Valentin Gjertsen auf den Tresen. »Seit dieses Bild erstellt worden ist, hat der Mann vermutlich umfangreiche plastische Operationen machen lassen, bemühen Sie also Ihre Phantasie.«
Mehmet und Sølle betrachteten das Bild genau. Dann schüttelten beide den Kopf.
»Ach, und übrigens, vergiss dieses Bier«, sagte Sølle. »Mir ist gerade eingefallen, dass ich nach Hause muss.«
»Wie du siehst, ist es bereits eingeschenkt«, sagte Mehmet.
»Der Hund muss raus. Gib es dem Polizisten, er sieht aus, als hätte er Durst.«
»Hm. Wenn Sie mir eine letzte Frage beantworten, Sølle. Im Protokoll der Zeugenvernehmung steht, dass Elise Hermansen Ihnen von einem Stalker erzählt hat, der sie verfolgt und bedroht hat, als sie mit anderen Männern zusammen war. Hatten Sie den Eindruck, dass das stimmte?«
»Stimmte?«
»Dass sie das nicht nur gesagt hat, um Sie auf Distanz zu halten.«
»Tja, schwer zu sagen. Sie hatte wohl ihre Methoden, um lästige Frösche loszuwerden.« Geir Sølles Versuch zu lächeln geriet zu einer Grimasse. »Wie mich.«
»Hm. Glauben Sie, dass sie viele Frösche geküsst hat?«
»Wissen Sie, Tinder kann ganz schön enttäuschend sein, aber man gibt die Hoffnung nicht auf.«
»Dieser Stalker, hatten Sie den Eindruck, dass das irgendein zufälliger Unbekannter war oder ein Mann, mit dem sie mal etwas hatte?«
»Kann ich nicht sagen.« Geir Sølle zog den Reißverschluss seiner Weste bis oben, obwohl es draußen mild war. »Ich gehe jetzt.«
Als die Tür hinter dem Mann zufiel, legte Harry einen Hunderter auf den Tresen.
»Ein Mann, mit dem sie mal etwas hatte?«, fragte der Barkeeper und gab Harry das Wechselgeld zurück. »Ich dachte, bei diesen Morden ginge es nur um das Trinken von Blut? Und um Sex.«
»Möglich«, sagte Harry. »In der Regel hat es aber was mit Eifersucht zu tun.«
»Und wenn nicht?«
»Dann geht es vielleicht um das, was Sie meinten.«
»Um Blut und Sex?«
»Ums Gewinnen.« Harry starrte in das Glas. Bier hatte ihn schon immer satt und müde gemacht. Die ersten Schlucke mochte er, danach schmeckte es immer trauriger. »Apropos gewinnen. Sieht aus, als würde Galatasaray verlieren. Haben Sie was dagegen, wenn wir umschalten und uns das Sonntagsmagazin auf NRK 1 ansehen?«
»Und wenn ich jetzt Bes¸iktas¸-Fan wäre?«
Harry nickte in Richtung der verspiegelten Regale hinter dem Tresen. »Dann stünde da hinten hinter der Jim-Beam-Flasche kein Galatasaray-Wimpel, Mehmet.«
Der Barkeeper sah Harry an, schüttelte grinsend den Kopf und drückte auf die Fernbedienung.
»Wir können nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass derjenige, der gestern die Frau in Hovseter angegriffen hat, auch der Mörder von Elise Hermansen und Ewa Dolmen ist«, sagte Katrine und bemerkte, wie still es im Studio war, als würden ihr wirklich alle zuhören. »Was ich aber sagen kann, ist, dass wir physische Spuren haben und eine Zeugenaussage, die eine ganz konkrete Person mit dem gestrigen Angriff in Verbindung bringt. Und da der Verdächtige überdies ein in Zusammenhang mit anderen Taten gesuchter Sexualverbrecher ist, haben wir uns entschieden, mit seinem Namen an die Öffentlichkeit zu gehen.«
»Und das tun Sie zum ersten Mal hier bei uns im Sonntagsmagazin?«
»Das stimmt. Sein richtiger Name lautet Valentin Gjertsen, vermutlich nutzt er aktuell aber einen anderen Namen.«
Sie sah, dass der Moderator etwas enttäuscht darüber war, dass sie den Namen so ohne weiteres ausgeplaudert hatte. Er schien sich vorher Trommelwirbel und Fanfaren gewünscht zu haben.
»Ich habe auch ein sogenanntes Phantombild, das aber nur zeigt, wie er vor drei Jahren ausgesehen hat«, sagte sie. »Vermutlich hat er umfangreiche plastische Operationen machen lassen, trotzdem sollte das Bild ausreichen, um einen Anhaltspunkt zu geben.« Katrine hielt die Zeichnung in Richtung der kleinen Tribüne, auf der gut fünfzig Zuschauer saßen, die der Sendung, wie der Moderator betont hatte, das besondere Flair verliehen. Katrine sah die rote Lampe an der Kamera angehen und wartete, damit die Zeichnung auch die Zuschauer an den Bildschirmen erreichte. Der Moderator sah sie mit seligem Blick an.
»Wer etwas über diese Person weiß, wird gebeten, sich bei der Polizei zu melden. Wir haben ein Infotelefon eingerichtet«, sagte Katrine. »Das Phantombild, der Name und die bislang bekannten Decknamen sind samt der Nummer unseres Infotelefons auf der Website der Osloer Polizei zu finden.«
»Und es ist natürlich Eile geboten«, sagte der Moderator in Richtung Kamera. »Zweifelsohne besteht das Risiko, dass er schon heute Abend wieder zuschlägt.« Er drehte sich zu Katrine. »Möglicherweise schon jetzt, in diesem Augenblick, nicht wahr?«
Katrine sah, dass er ihre Unterstützung wollte, damit auch noch der Letzte sich vorstellen konnte, wie der Vampirist irgendwo frisches, körperwarmes Blut trank.
»Wir wollen das nicht ausschließen«, sagte sie. Genau diese Formulierung hatte Bellman ihr eingehämmert. Wort für Wort. Und ihr erklärt, dass der Unterschied zwischen »Wir können das nicht ausschließen« und »Wir wollen das nicht ausschließen« eben darin bestand, dass man mit Letzterem den Eindruck vermittelte, genug Überblick zu haben, um eine ganze Menge ausschließen zu können, es aber trotzdem ganz bewusst nicht tat. »Ich habe aber auch Informationen, die darauf hindeuten, dass es Valentin Gjertsen gelungen sein könnte, zwischen dem letzten Überfall und der Feststellung seiner Identität das Land zu verlassen. Es ist wahrscheinlich, dass er einen Rückzugsort außerhalb Norwegens hat. Vermutlich hat er sich dort auch aufgehalten, als hier nach ihm gefahndet wurde.«
Bellman hatte ihr diese Wortwahl nicht erklären müssen. Sie lernte schnell. »Ich habe Informationen« ließ die Leute gleich an Fahnder denken, an geheime Informanten und gründliche Polizeiarbeit. Dass sie dabei nur an leicht zugängliche Fahrpläne von Flug, Zug oder Fähre dachte, wusste niemand, aber so sagte sie wenigstens die Wahrheit. Für die Behauptung, dass er sich wahrscheinlich im Ausland aufgehalten hatte, gab es Rückendeckung von oben, solange nicht das Gegenteil bewiesen war. Außerdem konnte sie so auf höchst elegante Weise die Verantwortung dafür, dass Valentin Gjertsen in all diesen Jahren noch nicht gefasst worden war, auf das »Ausland« abwälzen.
»Und wie findet man so einen Vampiristen?«, fragte der Moderator und wandte sich dem zweiten Gast zu. »Wir haben Hallstein Smith eingeladen, Professor der Psychologie und Autor einer ganzen Reihe von Artikeln über Vampirismus. Können Sie uns darauf eine Antwort geben, Professor Smith?«
Katrine sah zu Smith, der inzwischen auf dem dritten Sessel Platz genommen hatte. Er trug eine große Brille und eine mehrfarbige Anzugjacke, die wie selbstgenäht aussah. Er bildete einen deutlichen Kontrast zu Katrines Erscheinung mit strenger, engsitzender schwarzer Lederhose, der körpernah geschnittenen schwarzen Latexjacke und den glatt nach hinten gekämmten Haaren. Sie wusste, dass sie gut aussah und Kommentare und Angebote auf ihrer Website finden würde, wenn sie diese später am Abend checkte. Aber das war ihr egal. Über ihre Kleidung hatte Bellman nichts gesagt. Sie hoffte nur, dass diese blöde Lien zusah.
»Äh«, sagte Smith und lächelte etwas verwirrt.
Katrine sah, dass der Moderator besorgt war, ob der Psychologe den Faden verloren haben könnte und er eingreifen müsste.
»Nun, zum einen bin ich kein Professor – ich arbeite noch an meiner Doktorarbeit –, werde Sie aber informieren, wenn ich bestanden habe.«
Die Zuschauer lachten.
»Zum anderen wurden die Artikel, die ich geschrieben habe, nicht in Fachzeitschriften, sondern nur in etwas zweifelhaften Magazinen veröffentlicht, die sich den eher obskuren Randphänomenen der Psychologie widmen. Eines der Magazine heißt Psycho, wie der gleichnamige Film. Das war, um ehrlich zu sein, der Tiefpunkt meiner akademischen Karriere.«
Erneutes Lachen.
»Aber ich bin Psychologe«, sagte er zum Publikum gewandt. »Mit einem überdurchschnittlichen Abschluss an der Mykolasomeris-Universität in Vilnius. Und ich habe auch so ein Sofa, auf das man sich legen und für fünfzehnhundert Kronen an die Decke schauen kann, während ich so tue, als würde ich mir Notizen machen.«
Für einen Moment machte es den Anschein, als hätten sowohl das Publikum als auch der Moderator das ernste Thema vergessen. Bis Smith sie in die Wirklichkeit zurückholte:
»Aber ich weiß nicht, wie man Vampiristen fängt.«
Stille.
»Es gibt jedenfalls kein allgemeingültiges Rezept. Vampiristen sind selten, und noch seltener treten sie in Erscheinung. Lassen Sie mich erst einmal sagen, dass wir zwischen zwei Typen von Vampiristen unterscheiden müssen. Die eine Gruppe ist ziemlich ungefährlich, es handelt sich dabei um Personen, die sich von dem Mythos der Unsterblichkeit angezogen fühlen, den blutsaugenden Halbgöttern, auf die die modernen Vampirgeschichten über Dracula zurückgehen. Diese Form des Vampirismus hat klare erotische Untertöne und wurde sogar von unserem geschätzten Freud kommentiert. Diese Vampiristen nehmen aber nur selten Leben. Dann gibt es Menschen, die an klinischem Vampirismus leiden, auch als Renfield-Syndrom bekannt, und die davon besessen sind, Blut zu trinken. Die meisten Artikel darüber finden sich in rechtspsychiatrischen Publikationen, weil es sich in der Regel um äußert brutale Verbrechen handelt. Von der etablierten Psychologie ist Vampirismus nie als Phänomen anerkannt worden, sondern wird als Sensationshascherei abgetan. Als etwas, mit dem sich nur Scharlatane beschäftigen. Man findet den Begriff nicht einmal in den Nachschlagewerken der Psychiatrie. Wir, die wir den Vampirismus erforschen, werden beschuldigt, einen Menschentyp zu erfinden, den es gar nicht gibt. In den letzten drei Tagen habe ich mir gewünscht, dass diese Behauptung stimmt. Aber dem ist leider nicht so. Es gibt zwar keine Vampire, wohl aber Vampiristen.«
»Wie wird ein Mensch zu einem Vampiristen?«
»Auch darauf gibt es keine allgemeingültige Antwort, der klassische Fall ist ein Schlüsselerlebnis in der Kindheit. Der Betreffende erlebt eine Situation, in der er selbst oder ein anderer stark blutet. Oder Blut trinkt. Und dies speichert er dann als spannungsgeladen ab. Der bekannte Vampirist und Serienmörder John George Haigh wurde zum Beispiel von seiner streng religiösen Mutter bestraft, indem sie ihn mit einer Haarbürste geschlagen hat. Er hat sich anschließend immer das Blut von der Haut geleckt. Später, in der Pubertät, wird das Blut typischerweise eine Quelle sexueller Erregung. Im Anfangsstadium experimentieren Vampiristen häufig noch mit Blut. Zuerst handelt es sich meistens um Autovampirismus, die Betreffenden verletzen sich selbst und trinken ihr eigenes Blut. Dann töten sie vielleicht eine Maus, eine Ratte oder eine Katze und trinken deren Blut. Irgendwann gehen sie dann einen Schritt weiter und trinken das Blut eines anderen Menschen. Es ist dabei die Regel, dass sie den Menschen, dessen Blut sie getrunken haben, anschließend umbringen. Damit sind sie dann im wahrsten Sinne des Wortes, entschuldigen Sie den Ausdruck, Vollblutvampiristen.«
»Und Vergewaltigung? Wie passt die ins Bild? Wir wissen ja, dass Elise Hermansen vergewaltigt wurde.«
»Ja. Auch wenn das Sexuelle nie ganz verschwindet, ist für einen erwachsenen Vampiristen doch das Erlebnis von Macht und Kontrolle wichtiger. John George Haigh zum Beispiel war nicht sonderlich interessiert an Sex. Er hat angegeben, nur an dem Blut seiner Opfer interessiert gewesen zu sein, das er übrigens aus einem Glas getrunken hat. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass für den Vampiristen hier in Oslo auch das Blut im Vordergrund steht und nicht der sexuelle Übergriff.«
»Hauptkommissarin Bratt? Sind Sie derselben Meinung? Glauben Sie auch, dass für unseren Vampiristen das Blut wichtiger ist als der Sex?«
»Das kann und will ich nicht kommentieren.«
Katrine sah, dass der Moderator eine Entscheidung traf und sich wieder Smith zuwandte. Dort war wohl mehr zu holen.
»Herr Smith, halten sich Vampiristen für Vampire? Glauben sie, mit anderen Worten, dass sie unsterblich sind, solange sie das Sonnenlicht meiden? Dass sie andere zu Vampiren machen können und so weiter?«
»Nicht der klinische Vampirist mit Renfield-Syndrom. So gesehen ist es ein schlechter Witz, dass das Syndrom nach Renfield benannt ist, der ja Graf Draculas Diener in Bram Stokers Roman war. Es sollte Noll-Syndrom heißen. Nach dem Psychiater, der es zuerst beschrieben hat. Andererseits hat auch Noll den Vampirismus nicht ernst genommen, der Artikel, den er über das Syndrom geschrieben hat, war eher parodistisch gemeint.«
»Ist es denkbar, dass die Person diese Krankheit nicht in sich trägt, sondern eine Droge genommen hat, durch die sie derartige Lust auf Blut bekommt? Ähnlich wie bei MDPV, auch bekannt als Badesalz, das extrem gewalttätig machen kann? In Miami und New York sollen 2012 Täter sogar Teile ihrer Opfer verspeist haben.«
»Nein. Wenn Konsumenten von MDPV sich kannibalistisch verhalten, liegt eine Psychose vor, sie sind außerstande, rational zu denken oder ihr Handeln zu kontrollieren. Die Polizei hat all diese Leute ja auf frischer Tat ertappt, und keiner der Täter hat versucht, sich zu verstecken. Es gibt auch unter den Vampiristen solche, die derart von ihrem Blutdurst angetrieben werden, dass sie nicht in erster Linie daran denken, wie sie nach einer Tat ungesehen verschwinden können. In unserem Fall ist die Planung der Taten aber so perfekt, dass sie oder er nicht einmal Spuren hinterlässt. Das behauptet auf jeden Fall die Zeitung VG.«
»Sie?«
»Ich … äh, wollte nur politisch korrekt sein. Ein Vampirist ist in der Regel ein Mann, auf jeden Fall, wenn seine Taten wie bei uns mit gewalttätigen Übergriffen gepaart sind. Weibliche Vampiristen begnügen sich in der Regel mit Autovampirismus. Oder sie suchen Gleichgesinnte, mit denen sie Blut tauschen können, oder sie holen es sich von Schlachthöfen oder Blutbanken. Ich hatte in Litauen einmal eine Patientin, die die Kanarienvögel ihrer Mutter bei lebendigem Leibe verspeist hat …«
Katrine hörte ein Raunen durch das Publikum gehen. Jemand lachte kurz, verstummte dann aber gleich wieder.
»Meine Kollegen und ich gingen erst von einem Fall von Species Identity Disorder aus, das heißt, dass ein Patient meint, nicht in der Spezies geboren zu sein, zu der er eigentlich gehört, in diesem Fall eine Katze. Bis uns dann irgendwann klarwurde, dass wir es tatsächlich mit einem Fall von Vampirismus zu tun hatten. Leider war Psychology Today nicht dieser Meinung. Wenn Sie mehr über diesen Fall erfahren wollen, müssen Sie einen Blick auf meine Website werfen. Hallstein.Psykolog.com.«
»Hauptkommissarin Bratt, können wir festhalten, dass es sich um einen Serienmörder handelt?«
Katrine dachte zwei Sekunden nach, ehe sie antwortete: »Nein.«
»Aber die VG schreibt, dass Harry Hole, ein Spezialist für Serienmorde, die Ermittlungen unterstützt. Bedeutet das nicht …?«
»Es kommt durchaus vor, dass wir uns mit Feuerwehrleuten beraten – auch wenn es nicht brennt.«
Der Einzige, der lachte, war Smith. »Gute Antwort! Psychiater und Psychologen würden verhungern, wenn sie nur Patienten hätten, die wirklich krank sind.«
Er erntete Lacher, und der Moderator lächelte Smith dankbar zu. Katrine ahnte bereits, dass Smith bessere Karten hatte, wieder eingeladen zu werden.
»Serienmörder oder nicht – was glauben Sie beide, wird der Vampirist wieder zuschlagen? Und wird er warten, bis wieder Vollmond ist?«
»Ich möchte darüber keine Spekulationen anstellen«, sagte Katrine und sah einen Anflug von Verärgerung im Blick des Moderators. Verdammt, erwartete er wirklich von ihr, dass sie die Regenbogenpresse mit neuem Material versorgte?
»Ich will auch nicht darüber spekulieren«, sagte Hallstein Smith. »Das ist auch gar nicht nötig, weil ich es weiß. Jemand, der unter Paraphilie leidet – also einer Störung der Sexualpräferenz – und nicht behandelt wird, hört nur sehr selten auf eigenen Antrieb hin auf. Und ein Vampirist nie. Ich glaube im Übrigen, dass die Tatsache, dass wir beim letzten Mordversuch Vollmond hatten, ein reiner Zufall war. Die Medien haben sich vermutlich mehr darüber gefreut als der Vampirist.«
Smiths Seitenhieb schien den Moderator nicht zu stören. Er zog die Stirn besorgt in Falten und fragte: »Herr Smith, halten Sie es für einen Fehler, dass die Polizei nicht eher damit an die Öffentlichkeit getreten ist, dass ein Vampirist sein Unwesen treibt? Sie haben in der VG darüber geschrieben.«
»Hm.« Smith schnitt eine Grimasse und sah zu einem der Scheinwerfer. »Sie spielen auf die Frage an, was man wissen konnte, nicht wahr? Vampiristen gehören, wie gesagt, zu den äußersten Randphänomenen der Psychologie. Es ist noch nicht viel bekannt, und wir können nicht erwarten, dass die Polizei für alle Absonderlichkeiten Spezialisten hat. Deshalb nein, ich würde sagen, dass es sicher unglücklich war, von einem Fehler würde ich aber nicht sprechen.«
»Aber jetzt weiß die Polizei Bescheid. Was sollte sie jetzt also tun?«
»Auf Fachwissen in diesem Bereich zurückgreifen.«
»Eine letzte Frage: Wie vielen Vampiristen sind Sie schon begegnet?«
Smith blies die Wangen auf und ließ die Luft entweichen. »Echten?«
»Ja.«
»Zwei.«
»Wie reagieren Sie selbst auf Blut?«
»Mir wird schlecht davon.«
»Trotzdem schreiben und forschen Sie darüber?«
Smith verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Vielleicht gerade deshalb. Wir sind doch alle ein bisschen verrückt.«
»Auch Sie, Hauptkommissarin Bratt?«
Katrine zuckte zusammen, sie hatte für einen Moment vergessen, dass sie nicht fernsah, sondern selbst im Fernsehen war. »Was?«
»Ein bisschen verrückt?«
Katrine suchte nach einer Antwort. Nach etwas Witzigem, Genialem, wie Harry es ihr geraten hatte. Sie wusste, dass ihr das aber erst später einfallen würde, wenn sie wieder zu Hause war und ins Bett ging. Was hoffentlich nicht mehr so lange dauerte, denn sie spürte, dass ihr Adrenalinspiegel sank und sie immer müder wurde. »Ich …«, begann sie, gab dann aber auf und sagte nur: »Tja, wer weiß!«
»Verrückt genug, um sich vorstellen zu können, sich einem Vampiristen auszusetzen? Keinem Mörder, wie in diesem schrecklichen Fall, sondern einem Mann, der Sie nur ein bisschen beißen will?«
Katrine war klar, dass das als Spaß gemeint war, vielleicht inspiriert von ihrem SM-Outfit.
»Ein bisschen?«, wiederholte sie und zog die schmalen, schwarz geschminkten Augenbrauen hoch. »Ja, warum nicht.«
Ohne es beabsichtigt zu haben, erntete nun auch sie Lachen.
»Frau Bratt, dann wünsche ich Ihnen viel Glück bei der weiteren Jagd nach dem Täter. Sie haben das letzte Wort, Smith. Die Frage, wie man einen Vampiristen fängt, ist noch unbeantwortet. Können Sie Bratt einen Tip geben?«
»Vampirismus ist in der Tat eine Extremform von Paraphilie. Häufig haben Vampiristen noch andere psychiatrische Diagnosen. Ich möchte deshalb alle Psychologen und Psychiater auffordern, der Polizei zu helfen. Gehen Sie Ihre Patientenlisten durch, und sehen Sie nach, ob es bei Ihnen nicht jemanden gibt, dessen Verhalten mit dem des klinischen Vampirismus übereinstimmt. Ich glaube, wir sind uns einig, dass in solchen Fällen die Schweigepflicht zweitrangig ist.«
»Und damit sage ich im Namen des Sonntagsmagazins …«
Der Fernsehbildschirm hinter dem Tresen wurde schwarz.
»Scheiß Sache«, sagte Mehmet. »Aber Ihre Kollegin sieht echt scharf aus.«
»Hm, ist es hier immer so leer?«
»Nein.« Mehmet ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Räusperte sich. »Oder doch.«
»Mir gefällt’s.«
»Wirklich? Sie haben Ihr Bier ja nicht einmal angerührt. Schauen Sie, das ist ja mausetot.«
»Gut so«, sagte der Polizist.
»Ich kann Ihnen was mit ein bisschen mehr Leben machen.« Mehmet nickte in Richtung des Galatasaray-Wimpels.
Katrine hastete über einen der labyrinthischen, leeren Flure der Fernsehanstalt, als sie hinter sich Keuchen und schwere Schritte hörte. Ohne anzuhalten, drehte sie sich halb um. Es war Hallstein Smith. Katrine bemerkte, dass er sich bewusst oder unbewusst eine Lauftechnik angeeignet hatte, die ebenso unorthodox wie seine Forschung war. Oder er hatte extreme X-Beine.
»Bratt!«, rief Smith.
Katrine blieb stehen und wartete.
»Bevor ich es vergesse, ich möchte mich bei Ihnen entschuldigen«, sagte Smith, als er schwer atmend vor ihr stand.
»Wofür denn?«
»Dass ich so viel geredet habe. Aufmerksamkeit macht mich richtig high, meine Frau sagt mir das immer wieder. Aber viel wichtiger ist diese Zeichnung …«
»Ja?«
»Ich konnte das nicht live vor der Kamera sagen, aber ich glaube, ich hatte den als Patienten.«
»Valentin Gjertsen?«
Smith nickte. »Ich bin mir, wie gesagt, nicht sicher, das ist bestimmt zwei Jahre her, und es waren auch nur ein paar wenige Therapiesitzungen in der Praxis, die ich damals in der Stadt gemietet hatte. Die Ähnlichkeit ist gar nicht mal so groß, aber ich musste spontan an ihn denken, als Sie das mit den plastischen Operationen gesagt haben. Ich erinnere mich nämlich, dass dieser Patient eine frische Narbe unter dem Kinn hatte.«
»War er Vampirist?«
»Das weiß ich nicht. Er hat nichts davon gesagt, sonst hätte ich seinen Fall natürlich für meine Forschung aufgenommen.«
»Vielleicht ist er aus Neugier zu Ihnen gekommen. Vielleicht wusste er, dass Sie im Bereich der … – wie hieß das noch mal? – forschen?«
»Paraphilie. Durchaus möglich. Ich bin mir, wie gesagt, ziemlich sicher, dass wir es mit einem intelligenten Vampiristen zu tun haben, der sich seines eigenen Leidens durchaus bewusst ist. Aber egal, umso bitterer ist es, dass mein Patientenarchiv gestohlen worden ist.«
»Sie erinnern sich nicht daran, wie dieser Patient sich genannt hat? Oder wo er gewohnt oder gearbeitet hat?«
Smith seufzte schwer. »Ich fürchte, mein Gedächtnis ist nicht mehr so, wie es mal war.«
Katrine nickte. »Dann hoffen wir mal, dass er auch noch bei anderen Psychologen war und dass sich einer von denen an ihn erinnert und nicht zu katholisch ist, was die Schweigepflicht angeht.«
»Ein bisschen Katholizismus ist nicht zu verachten.«
Katrine zog die Augenbrauen hoch. »Wie meinen Sie das denn?«
Smith kniff resigniert die Augen zusammen und schien einen Fluch hinunterzuwürgen. »Ach, nichts.«
»Jetzt kommen Sie schon, Smith!«
Der Psychologe breitete erklärend die Arme aus. »Ich habe bloß zwei und zwei zusammengezählt, Bratt. Ihre Reaktion, als der Moderator gefragt hat, ob Sie auch ein bisschen verrückt sind, kombiniert mit Ihrer Aussage über den Regen in Sandviken. Wir kommunizieren oft unbewusst, und was Sie gesagt haben, hieß doch wohl, dass Sie mal als Patientin in Sandviken waren. Und für Sie als leitende Ermittlerin ist es sicher gut, wenn sich jemand an die Schweigepflicht hält, zum Schutz derjenigen, die Hilfe gesucht haben, um nicht ein Leben lang von Dämonen heimgesucht zu werden.«
Katrine Bratt spürte, dass ihr der Mund offen stand. Vergeblich versuchte sie, ein Wort herauszubringen.
»Sie müssen nicht auf meine idiotischen Schlussfolgerungen reagieren«, sagte Smith. »Ich unterliege, auch was Sie angeht, der Schweigepflicht, nur dass das gesagt ist. Gute Nacht, Bratt.«
Katrine blieb stehen und sah Hallstein Smith hinterher, der x-beinig wie ein Eiffelturm über den Flur stapfte, bis ihr Handy klingelte.
Es war Bellman.
Er war nackt, in ein Badetuch gehüllt, und der undurchdringliche, glühend heiße Nebel brannte überall dort auf seiner Haut, wo sie aufgescheuert war. Blut tropfte auf die Holzbank unter ihm. Er schloss die Augen, spürte die Tränen kommen und stellte sich vor, wie er es machen würde. Diese verfluchten Regeln begrenzten den Genuss, begrenzten den Schmerz und bewirkten, dass er sich nicht so ausdrücken konnte, wie er es wollte. Aber es würden andere Zeiten kommen. Der Polizist hatte seine Nachricht erhalten. Er war jetzt auf der Jagd nach ihm und versuchte, Witterung aufzunehmen, aber ohne Aussicht auf Erfolg, denn er war sauber.
Er zuckte zusammen, ein Räuspern im Nebel verriet ihm, dass er nicht mehr allein war.
»Kapatiyoruz.«
»Yes«, antwortete Valentin Gjertsen mit belegter Stimme und schluckte die Tränen hinunter. Sie schlossen.
Vorsichtig berührte er sein Geschlecht. Er wusste ganz genau, wo sie war und wie er mit ihr spielen wollte. Er war bereit. Valentin sog die feuchte Luft in seine Lungen. Und dabei hielt Harry Hole sich für den Jäger.
Valentin Gjertsen stand mit einem Ruck auf und ging zur Tür.