Kapitel 21

Dienstagmorgen

Es war 7.30 Uhr. Feiner Regen lag in der Luft, als Mehmet die Straße überqueren wollte und den Mann vor der Jealousy Bar bemerkte. Er hatte die Hände an die Scheibe gelegt und versuchte hineinzuschauen. Zuerst dachte Mehmet, dass Danial Banks etwas vor der Zeit die nächste Rate einfordern wollte, doch als er näher kam, sah er, dass der Mann blond und etwas größer als Banks war. Er nahm an, dass es einer der alten Alkis war, der zurückwollte und hoffte, dass die Kneipe wie früher um sieben Uhr morgens öffnete.

Doch als der Mann sich wieder zur Straße umdrehte und an der Zigarette zog, die zwischen seinen Lippen steckte, sah Mehmet, dass es der Polizist war.

»Guten Morgen«, sagte Mehmet und nahm die Schlüssel heraus. »Durst?«

»Das auch. Aber ich komme mit einem Angebot.«

»Was für ein Angebot?«

»Eins von denen, die man ablehnen kann.«

»Klingt interessant«, sagte Mehmet, ließ den Polizisten herein und schloss die Tür hinter ihnen wieder ab. Dann schaltete er das Licht über dem Tresen ein.

»Im Grunde ist das eine schöne Kneipe«, sagte Harry, legte die Ellenbogen auf den Tresen und sog die Luft ein.

»Wollen Sie sie kaufen?«, fragte Mehmet trocken und goss Wasser in den türkischen Kaffeekessel.

»Ja«, sagte Harry.

Mehmet lachte. »Dann machen Sie mir ein Angebot.«

»Vierhundertfünfunddreißigtausend.«

Mehmet zog die Stirn in Falten. »Wo haben Sie den Betrag her?«

»Von Danial Banks. Ich habe ihn heute früh getroffen.«

»Heute früh? Es ist doch erst …«

»Ich bin früh aufgestanden. Und er auch. Das heißt, ich musste ihn wecken und aus dem Bett zerren.«

Mehmet starrte in die blutunterlaufenen Augen des Polizisten.

»Bildlich gesprochen«, sagte Harry. »Ich weiß, wo er wohnt, habe geklingelt und ihm ein Angebot gemacht.«

»Was für ein Angebot?«

»Eins von der anderen Sorte. Das man nicht ablehnen kann.«

»Das heißt?«

»Ich habe Ihre Schulden für die Jealousy Bar gekauft und Banks im Gegenzug versichert, ihm nicht das Dezernat für Wirtschaftskriminalität auf den Hals zu hetzen, obwohl er mit seinen Wucherzinsen gegen Paragraph 295 verstoßen hat.«

»Sie machen Witze!«

Harry zuckte mit den Schultern. »Möglich, dass ich übertreibe, und auch möglich, dass er hätte ablehnen können. Schließlich hätte er mich darauf hinweisen können, dass Paragraph 295 vor ein paar Jahren abgeschafft worden ist. Aber wo würde das hinführen, wenn die Kriminellen sich mit den Gesetzen besser auskennen als die Polizei? Egal, Schwamm drüber, Ihre Schulden waren ihm aber wohl auch nicht wichtig genug, um all den Ärger auf sich zu nehmen, den ich ihm in Aussicht gestellt habe. Dieses Dokument hier«, der Polizist legte eine handschriftliche Notiz auf den Tisch, »bestätigt, dass Danial Banks ausbezahlt wurde und ich, Harry Hole, nun der stolze Besitzer eines Schuldscheins über vierhundertfünfunddreißigtausend Kronen bin. Ausgestellt von Mehmet Kalak, der als Sicherheit die Jealousy Bar samt Pachtvertrag ausweist.«

Mehmet las die wenigen Zeilen und schüttelte den Kopf. »Verrückt. Und Sie hatten fast eine halbe Million auf der hohen Kante, die Sie Banks einfach so geben konnten?«

»Ich habe eine Zeitlang als Geldeintreiber in Hongkong ge­arbeitet. Das war … gut bezahlt. Ich bin da zu ein bisschen Kapital gekommen. Banks hat einen Scheck und einen Kontoauszug gekriegt.«

Mehmet lachte. »Dann treiben Sie jetzt die Wucherzinsen ein?«

»Nicht, wenn Sie mein Angebot annehmen.«

»Und das wäre?«

»Dass wir die Schulden umwandeln.«

»Sie übernehmen die Bar?«

»Ich kaufe mich ein. Wir sind Partner, und Sie können mich ausbezahlen, wenn Sie das wollen.«

»Und als Gegenleistung mache ich … was?«

»In ein türkisches Bad gehen, während ein Kumpel von mir die Kneipe führt.«

»Was?«

»Sie sollen im Cagaloglu Hamam schwitzen, bis die Haut schrumpelt, und darauf warten, dass Valentin Gjertsen auftaucht.«

»Ich? Und warum ausgerechnet ich?«

»Weil nach Penelope Raschs Tod Sie und ein fünfzehnjähriges Mädchen die Einzigen sind, die wissen, wie Valentin Gjertsen heute aussieht.«

»Weiß ich das …?«

»Sie werden ihn erkennen.«

»Wieso glauben Sie das?«

»Ich habe den Bericht gelesen. Sie haben in etwa gesagt: Ich habe ihn nicht lange genug angesehen, um ihn genau beschreiben zu können.«

»Eben.«

»Ich hatte früher eine Kollegin, die jedes Gesicht, das sie mal gesehen hatte, wiedererkennen konnte. Sie hat mir erklärt, dass die Fähigkeit, Gesichter zu unterscheiden und unter Millionen von anderen Gesichtern zu erkennen, von einem Ort im Gehirn ausgeht, der Gyrus fusiformis heißt, und dass der Mensch ohne diese Fähigkeit als Spezies nie überlebt hätte. Können Sie den letzten Gast beschreiben, der gestern hier war?«

»Äh … nein.«

»Trotzdem würden Sie ihn im Bruchteil einer Sekunde wiedererkennen, wenn er jetzt reinkäme.«

»Wahrscheinlich.«

»Und genau darauf setze ich.«

»Sie setzen vierhundertfünfunddreißigtausend Kronen aus Ihrem eigenen Besitz darauf? Und wenn ich ihn nicht wieder­erkenne?«

Harry schob die Unterlippe vor. »Dann gehört mir wenigstens eine Kneipe.«

Um 7.45 Uhr öffnete Mona Daa die Eingangstür der VG-Redaktion und walzte hinein. Es war eine Scheißnacht gewesen. Obwohl sie vom Containerhafen direkt ins Gain gefahren war, um dort bis zum Umfallen zu trainieren, hatte sie anschließend nicht schlafen können. Irgendwann hatte sie sich entschlossen, den Redakteur einzuweihen, ohne dabei aber ins Detail zu gehen. Sie wollte ihn fragen, ob eine Quelle auch dann noch Schutz genoss, wenn sie den Journalisten komplett verarscht hatte. Mit anderen Worten: Konnte sie damit jetzt zur Polizei gehen, oder war es klüger zu warten, bis er noch einmal Kontakt aufnahm? Es war ja nicht auszuschließen, dass es einen guten Grund für sein Fernbleiben gab.

»Du siehst müde aus, Daa«, rief der Redaktionschef. »Warst du gestern auf einer Party?«

»I wish«, sagte Mona leise, warf die Sporttasche neben ihren Schreibtisch und schaltete den PC ein.

»Oder die etwas experimentellere Variante?«

»I wish«, wiederholte Mona laut, hob den Kopf und sah einige der anderen in der offenen Redaktion amüsiert und neugierig die Köpfe heben.

»Was?«, rief sie.

»Nur ein Strip oder auch Tiersex?«, kam es leise von irgend­woher, bevor ein paar junge Frauen laut losprusteten.

»Check deine E-Mails. Ein paar von uns haben Kopien gekriegt.«

Mona wurde kalt. Sie ahnte bereits das Schlimmste, als sie die Hände auf die Tastatur legte.

Die Mail kam von der Polizei.

Kein Text, nur ein einzelnes Bild. Aufgenommen mit einer hochsensiblen Kamera, da sie keinen Blitz gesehen hatte. Und vermutlich mit Tele. Im Vordergrund war der Hund zu erkennen, der in den Käfig gepisst hatte, dahinter sie selbst, wie sie angespannt ins Dunkel starrte wie ein wildes Tier.

Sie war verarscht worden. Es war nicht der Vampirist gewesen, der sie angerufen hatte.

Smith, Wyller, Holm und Harry kamen um 8.15 Uhr im Heizungsraum zusammen.

»Wir haben eine Vermisstenmeldung, die mit dem Vampiristen in Zusammenhang stehen könnte«, sagte Harry. »Marte Ruud, vierundzwanzig Jahre, ist gestern kurz vor Mitternacht aus dem Restaurant Schrøder verschwunden. Katrine informiert auch die Ermittlergruppe.«

»Die Spurensicherung ist bereits vor Ort«, sagte Bjørn Holm. »Sie haben aber bisher nichts gefunden, abgesehen von dem, das du schon erwähnt hast.«

»Und was ist das?«, fragte Wyller.

»Ein mit Lippenstift geschriebenes V auf einer Tischdecke. Der Winkel zwischen den Strichen ist der gleiche wie bei Ewa Dolmen.« Bjørn wurde von einer Steel-Gitarre unterbrochen, die Harry sofort Don Helms in »Your Cheatin’ Heart« von Hank Williams zuordnen konnte.

»Ah, wir haben Netz«, sagte Bjørn Holm und nahm das Handy aus der Tasche. »Holm. Was? Ich höre nichts. Moment.«

Bjørn verschwand durch die Tür in den Kulverten.

»Es sieht so aus, als hätte diese Entführung mit mir zu tun«, sagte Harry. »Das Schrøder ist mein Stammlokal, und die Decke lag auf meinem Tisch.«

»Nicht gut«, sagte Smith und schüttelte den Kopf. »Er hat die Kontrolle verloren.«

»Ist es nicht gut, wenn er die Kontrolle verliert?«, fragte Wyller. »Heißt das nicht, dass er unvorsichtig wird?«

»Dieser Aspekt mag eine gute Nachricht sein«, sagte Smith. »Aber jetzt, da er das Gefühl hat, alle Fäden in der Hand zu halten, darf niemand ihm diese Macht nehmen. Es ist richtig, dass er es auf dich abgesehen hat, Harry. Und wisst ihr, warum das so ist?«

»Wegen dem VG-Artikel«, sagte Wyller.

»Du hast ihn darin als armseligen Perversen bezeichnet, den du … was stand da?«

»Den du hinter Schloss und Riegel bringen willst«, antwortete Wyller.

»Du hast ihn ›armselig‹ genannt und drohst ihm damit, ihm die Macht und die Kontrolle zu entziehen.«

»Isabelle Skøyen hat ihn so genannt, nicht ich, aber das hat vermutlich nichts zu sagen«, erwiderte Harry und strich sich über den Nacken. »Glaubst du, dass er das Mädchen benutzen wird, um an mich heranzukommen, Smith?«

Smith schüttelte den Kopf. »Die Frau ist tot. Er will keine Konfrontation, er will nur dir und allen anderen zeigen, wer hier die Macht hat. Dass er in dein Stammlokal gehen und sich eine der Deinen holen kann.«

Harry erstarrte. »Eine der Meinen

Smith antwortete nicht.

Bjørn Holm platzte wieder in den Raum. »Der Anruf war von der Ullevål-Klinik. Unmittelbar vor Penelope Raschs Tod hat sich ein Mann an der Rezeption als jemand ausgewiesen, den Penelope als Angehörigen genannt hatte. Ein gewisser Roar Wiik, ihr Ex-Verlobter.«

»Das ist der, der den Verlobungsring gekauft hat, den Valentin aus ihrer Wohnung gestohlen hat«, sagte Harry.

»Sie haben diesen Wiik jetzt angerufen und gefragt, ob ihm an Penelope irgendetwas aufgefallen sei«, sagte Bjørn Holm. »Aber Roar Wiik gibt an, gar nicht im Krankenhaus gewesen zu sein.«

Es wurde still im Heizungsraum.

»Nicht der Verlobte«, sagte Smith. »Aber dann …«

Die Räder von Harrys Bürostuhl kreischten, als dieser leer und mit rasendem Tempo in Richtung Wand fuhr.

Harry selbst war bereits an der Tür. »Wyller, komm!«

Harry rannte.

Der Krankenhausflur erstreckte sich schier endlos vor ihm und schien immer länger zu werden, je schneller er lief. Wie ein sich ausdehnendes Universum, das weder Licht noch Gedanken durchdringen konnten.

Gerade noch konnte er einem Mann ausweichen, der mit seinem Infusionsständer aus einem der Zimmer kam.

Eine der Deinen.

Valentin hatte Aurora genommen, weil sie Ståle Aunes Tochter war.

Marte Ruud, weil sie in seiner Stammkneipe arbeitete.

Penelope Rasch, um ihnen zu zeigen, dass er es konnte.

Eine der Deinen.

301.

Harry steckte die Hand in die Tasche, und seine Finger umklammerten den Schaft der Pistole. Eine Glock 17, die bald anderthalb Jahre unangetastet und weggesperrt in einem Schrank im ersten Stock gelegen hatte. Heute Morgen hatte er sie mitgenommen. Nicht weil er glaubte, sie benutzen zu müssen, sondern weil er sich zum ersten Mal seit drei Jahren nicht sicher gewesen war, dass er sie nicht brauchen würde.

Er drückte die Tür mit der linken Hand auf und zog die Waffe.

Der Raum war leer. Vollkommen leer.

Rakel war weg. Das Bett war weg.

Harry schnappte nach Luft.

Ging an die Stelle, an der das Bett gestanden hatte.

»Tut mir leid, Sie kommen zu spät«, sagte eine Stimme hinter ihm. Harry wirbelte herum. Oberarzt Steffens stand in der Tür. Die Hände in den Taschen seines weißen Kittels. Er zog eine Augenbraue hoch, als er die Waffe sah.

»Wo ist sie?«, fauchte Harry.

»Das sage ich Ihnen, wenn Sie die da wegtun.«

Harry ließ die Pistole sinken.

»Untersuchungen«, sagte Steffens.

»Ist sie … ist sie okay?«

»Ihr Zustand ist unverändert. Stabil instabil. Aber sie wird den Tag überleben, wenn Sie sich darum Sorgen machen. Was ist der Grund für diese … Dramatik?«

»Sie muss bewacht werden.«

»Im Augenblick wird sie von fünf Leuten unseres medizinischen Personals bewacht.«

»Wir werden einen Polizisten vor ihrer Tür postieren. Irgendwelche Einwände?«

»Nein, aber das geht mich auch nichts an. Fürchten Sie, dass der Mörder hierherkommt?«

»Ja.«

»Weil sie die Frau von jemandem ist, der ihn jagt? Die Zimmernummer erfahren nur Angehörige.«

»Das hat denjenigen, der sich für den Verlobten von Penelope Rasch ausgegeben hat, auch nicht aufgehalten.«

»Wieso?«

»Ich bleibe hier, bis der Polizist da ist.«

»In diesem Fall möchten Sie vielleicht eine Tasse Kaffee?«

»Sie brauchen nicht …«

»Nein, aber Sie brauchen das. Einen Augenblick, wir haben hier im Schwesternzimmer wirklich faszinierend schlechten Kaffee.«

Steffens verließ das Zimmer, und Harry sah sich um. Die Stühle, auf denen Oleg und er gesessen hatten, standen noch so da, wie sie sie verlassen hatten, rechts und links der freien Fläche, auf der das Bett gestanden hatte. Harry nahm auf einem der beiden Platz und starrte auf das graue Linoleum. Spürte den Puls sinken, hatte aber trotzdem das Gefühl, dass nicht genug Sauerstoff im Raum war. Ein Sonnenstrahl fiel durch die Gardine auf ein blondes Haar auf dem Boden zwischen den Stühlen. Er hob es auf. Konnte Valentin trotzdem im Zimmer gewesen sein? Hatte er sie gesucht, war aber zu spät gekommen? Harry schluckte. Es gab keinen Grund für solche Gedanken, sie war in Sicherheit.

Steffens kam herein und reichte Harry einen Pappbecher. Er nahm einen Schluck von seinem eigenen und setzte sich auf den anderen Stuhl, so dass sich die beiden Männer mit einem guten Meter Abstand gegenübersaßen.

»Ihr Sohn war hier«, sagte Steffens.

»Oleg? Er sollte doch erst nach der Schule kommen?«

»Er hat nach Ihnen gefragt. Er war ziemlich aufgebracht, dass Sie seine Mutter allein gelassen hatten.«

Harry nickte und nahm einen Schluck Kaffee.

»Sie sind in dem Alter gerne wütend und irre moralisch«, sagte Steffens. »Die Väter kriegen dann die Schuld für alles, was schiefgeht, und wer auch immer einmal ihr großes Vorbild war, wird dann plötzlich zum Abbild dessen, was sie ganz sicher nicht wollen.«

»Reden Sie aus eigener Erfahrung?«

»Natürlich, das tun wir immer.« Steffens’ Lächeln verschwand ebenso schnell, wie es gekommen war.

»Hm. Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen, Steffens?«

»Aber sicher.«

»Landen Sie im Plusbereich?«

»Entschuldigung?«

»Ist die Freude über die Leben, die Sie retten konnten, größer als die Verzweiflung über die, die Sie verloren haben, aber hätten retten können

Steffens begegnete Harrys Blick. Vielleicht war es die Situation, die Harry die Frage stellen ließ – zwei Männer, die sich in einem abgedunkelten Raum gegenübersaßen. Wie zwei Schiffe, die in der Nacht aneinander vorbeifuhren. Steffens nahm die Brille ab und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht, als wollte er die Müdigkeit wegwischen. Dann schüttelte er den Kopf. »Nein.«

»Aber Sie tun es trotzdem?«

»Es ist eine Berufung.«

»Ja, ich habe das Kruzifix in Ihrem Zimmer gesehen. Sie glauben an Berufung.«

»Ich glaube, dass Sie das auch tun, Hole. Ich habe Sie gesehen. Vielleicht ist es nicht Gott, der Sie berufen hat, aber den Ruf ­spüren Sie trotzdem.«

Harry starrte in seinen Becher. Steffens hatte mit dem faszinierend schlecht wirklich recht. »Heißt das, dass Sie Ihre Arbeit nicht mögen?«

»Ich hasse meine Arbeit«, sagte der Oberarzt mit einem Lächeln. »Hätte ich wählen können, wäre ich Konzertpianist geworden.«

»Hm. Sind Sie denn ein guter Pianist?«

»Es ist ein Fluch, wenn man für das, was man liebt, nicht gut genug ist, wohl aber für das, was man hasst, nicht wahr?«

Harry nickte. »Ja, es ist ein Fluch. Wir tun das, wozu wir zu gebrauchen sind.«

»Und es ist eine Lüge, dass derjenige, der seiner Berufung folgt, belohnt wird.«

»Manchmal ist die Arbeit vielleicht die Belohnung.«

»Nur für Konzertpianisten, die Musik lieben, oder für Henker, die Blut brauchen.« Steffens zeigte auf das Namensschild auf ­seinem Arztkittel. »Ich bin geboren und aufgewachsen als Mormone in Salt Lake City, benannt nach John Doyle Lee, einem gottesfürchtigen, friedliebenden Mann, der 1857 von den Ältesten in der Gemeinde den Befehl erhielt, eine Gruppe ungläubiger Immigranten zu massakrieren, die sich auf ihrem Terrain breitgemacht hatten. In seinem Tagebuch hat er die Seelenqualen festgehalten: dass es ein schrecklicher Ruf sei, den das Schicksal ihm zugedacht habe, dass er ihn aber trotzdem akzeptieren müsse.«

»Das Massaker in Mountain Meadows.«

»Sieh mal an. Sie kennen sich in der Geschichte aus.«

»Ich habe mich beim FBI intensiv mit Serienmorden beschäftigt, und wir sind dabei so ziemlich alle Massenmorde durchgegangen. Ich muss aber gestehen, dass ich nicht mehr weiß, wie es Ihrem Namensvetter ergangen ist.«

Steffens sah auf die Uhr. »Eine Belohnung wurde ihm hoffentlich im Himmel zuteil, auf Erden wurde John Doyle Lee von allen verraten, sogar von unserem geistigen Führer Brigham Young. Er wurde zum Tode verurteilt. Mein Vater war aber wohl der Meinung, dass es durchaus vorbildlich ist, auf die Anerkennung der Mitmenschen zu verzichten und stattdessen seinem Ruf zu folgen, auch wenn man ihn hasst.«

»Vielleicht hasste John Doyle Lee ihn nicht so sehr wie er vorgab.«

»Wie meinen Sie das?«

Harry zuckte mit den Schultern. »Ein Alkoholiker hasst und verflucht den Alkohol, weil er sein Leben zerstört. Dabei ist er gleichzeitig sein Leben.«

»Interessante Allegorie.« Steffens stand auf, trat ans Fenster und zog die Gardine auf. »Und was ist mit Ihnen, Hole? Ist der Ruf noch immer Ihr Leben? Und wird er es zerstören?«

Harry hielt sich die Hand über die Augen und versuchte, Steffens zu sehen, aber all das plötzlich eindringende Licht blendete ihn. »Sind Sie noch immer Mormone?«

»Und bearbeiten Sie noch immer den Fall?«

»Sieht so aus.«

»Wir können nichts anderes, oder? Ich muss arbeiten, Harry.«

Als Steffens gegangen war, rief Harry Gunnar Hagen an.

»Hallo, Chef, ich brauche im Krankenhaus Ullevål einen Polizeiposten«, sagte er. »Sofort.«

Wyller stand da, wo er stehen sollte, hinter der Motorhaube des Wagens, der quer vor dem Eingang geparkt war.

»Ich habe einen Polizisten kommen sehen«, sagte er. »Alles in Ordnung?«

»Wir platzieren eine Wache vor ihrer Tür«, sagte Harry und nahm auf dem Beifahrersitz Platz.

Wyller steckte die Dienstwaffe ins Holster und setzte sich hinters Steuer. »Und Valentin?«

»Das wissen die Götter.«

Harry nahm das Haar aus der Jackentasche. »Vermutlich nur Paranoia, aber sag der Rechtsmedizin, dass sie davon eine Expressanalyse machen sollen, um auszuschließen, dass es eine Übereinstimmung mit einem der Tatorte gibt. Okay?«

Sie fuhren langsam zurück, wie in einer rückwärts laufenden Zeitlupe der rasanten Fahrt zwanzig Minuten zuvor.

»Haben Mormonen eigentlich ein Kreuz?«, fragte Harry.

»Nein«, sagte Wyller. »Ihrer Meinung nach symbolisiert das Kreuz den Tod, für sie ist das ein heidnisches Symbol. Sie glauben an die Auferstehung.«

»Hm, dann ist ein Mormone mit einem Kreuz an der Wand so etwas wie …«

»Wie ein Muslim mit einer Zeichnung von Mohammed.«

»Genau.« Harry drehte die Musik, die im Radio lief, lauter. The White Stripes. »Blue Orchid«. Gitarre und Schlagzeug. Nackt. Pur.

Er drehte sie noch lauter, ohne zu wissen, was er zu übertönen versuchte.

Hallstein Smith drehte Däumchen. Er war allein im Heizungsraum und konnte ohne die anderen nicht viel machen. Er hatte ein Kurzprofil des Vampiristen verfasst, im Internet gesurft und alles gelesen, was seit dem ersten Mord über diesen Fall geschrieben worden war. Er fragte sich gerade, ob er die Zeit nutzen sollte, um an seiner Doktorarbeit weiterzumachen, als sein Telefon klingelte.

»Hallo?«

»Smith?«, sagte eine weibliche Stimme. »Hier ist Mona Daa, von der VG

»Oh.«

»Sie klingen überrascht.«

»Ja, ich dachte, wir hätten hier unten schlechten Empfang.«

»Apropos Empfang, können Sie bestätigen, dass der Vampirist aller Wahrscheinlichkeit nach mit dem Verschwinden einer Angestellten des Schrøders in der letzten Nacht zu tun hat?«

»Bestätigen? Ich?«

»Ja, Sie arbeiten doch jetzt für die Polizei, oder?«

»Schon, das stimmt, aber ich bin nicht in der Position, irgendetwas zu sagen.«

»Weil Sie es nicht wissen oder nicht dürfen?«

»Vermutlich beides. Wenn, dann kann ich mich nur sehr allgemein als Experte für Vampirismus äußern.«

»Gut! Denn ich habe vor, einen Podcast …«

»Einen was?«

»Die VG hat einen eigenen Radiosender.«

»Ach so.«

»Darf ich Sie hierher zu uns einladen, um über den Vampiristen zu reden? Ganz allgemein, natürlich.«

Hallstein Smith dachte nach. »Dafür müsste ich erst die Genehmigung der Ermittlungsleitung einholen.«

»Gut, dann freue ich mich darauf, wieder von Ihnen zu hören. Und noch etwas anderes, Smith. Ich gehe davon aus, dass Sie mit dem Artikel, den ich über Sie geschrieben habe, zufrieden waren? Indirekt sind Sie dadurch ja ins Zentrum des Geschehens gerückt.«

»Ja, doch.«

»Könnten Sie mir dafür als Gegenleistung sagen, wer bei Ihnen im Haus mich gestern Abend in den Containerhafen gelockt hat?«

»Wohin gelockt?«

»Ach, egal, einen schönen Tag noch.«

Hallstein Smith blieb sitzen und starrte auf sein Telefon. Containerhafen? Wovon redete diese Frau?

Truls Berntsen ließ den Blick über den Bildschirm mit Fotos von Megan Fox schweifen. Es war wirklich beängstigend, wie sehr sie abgenommen hatte. Waren es nur die Fotos oder die Gewissheit, dass auch sie mittlerweile über dreißig war und dass die Geburt eines Kindes auch an einem Frauenkörper, der noch 2007 in Transformers das Sinnbild des Perfekten gewesen war, nicht spurlos vorbeiging? Oder war das alles der Tatsache geschuldet, dass er selbst in den letzten zwei Jahren acht Kilo Fett abgenommen, dieses durch vier Kilo Muskeln ersetzt und mit neun Frauen geschlafen hatte? Hatte sich der entfernte Traum von Megan Fox dadurch noch etwas weiter entfernt? Wie ein Lichtjahr weniger als zwei ist. Oder war es bloß der Gedanke, dass er in zehn Stunden mit Ulla Bellman zusammensitzen sollte, der einzigen Frau, die er noch mehr begehrte als Megan Fox?

Er hörte ein Räuspern und hob den Blick.

Katrine stützte sich mit verschränkten Armen auf die seitliche Trennwand seiner Box.

Nachdem Wyller in diesen lächerlichen Boyclub im Heizungsraum umgezogen war, hatte Truls jetzt alle verfügbaren Staffeln von The Shield gesehen, und er hoffte, dass Katrine Bratt nicht irgendetwas im Schilde führte, was ihn aus seiner Arbeitsruhe brachte.

»Bellman will mit Ihnen reden«, sagte sie.

»Okay.« Truls schaltete den PC aus, stand auf und ging so dicht an Katrine Bratt vorbei, dass er ihr Parfüm hätte riechen müssen, wenn sie denn eins benutzen würde. Seiner Meinung nach durften Frauen durchaus ein bisschen Parfüm verwenden. Sie sollten sich damit nicht einnebeln – von den Lösungsmitteln konnte man ja auch krank werden –, aber eben doch genug nehmen, damit die Phantasie in Gang kam, wie sie denn wohl eigentlich riechen würden.

Während er auf den Fahrstuhl wartete, fragte er sich, was Mikael von ihm wollte. Aber sein Hirn war wie leergeblasen.

Erst als er im Büro des Polizeipräsidenten stand, wusste er, dass er aufgeflogen war. Er sah Mikael am Fenster stehen und hörte ihn ohne jede Einleitung sagen: »Du hast mich hintergangen, Truls. Ist diese Hure zu dir gekommen, oder bist du zu ihr gegangen?«

Es fühlte sich an, als leerte jemand einen Eimer Eiswasser über ihm aus. Was war geschehen? War Ulla eingeknickt? Hatte sie ihm alles gebeichtet, oder hatte Mikael sie unter Druck gesetzt? Was sollte er jetzt nur sagen?

Er räusperte sich. »Sie ist zu mir gekommen, Mikael. Sie wollte das so.«

»Natürlich wollte sie das so, diese Huren nehmen, was sie kriegen können. Aber dass sie das von dir bekommen hat, meinem engsten Vertrauten! Nach allem, was wir gemeinsam durchgemacht haben.«

Truls konnte kaum glauben, dass Mikael so über seine Frau ­redete, über die Mutter seiner Kinder.

»Ich dachte, dass ich zu einem Gespräch kaum nein sagen könnte, es wird nicht wieder vorkommen.«

»Aber es ist noch mehr passiert, oder?«

»Nein, es ist nichts passiert.«

»Nichts? Kapierst du denn nicht, dass du dem Mörder auf diese Weise mitgeteilt hast, was wir wissen und nicht wissen? Wie viel hat sie dir bezahlt?«

Truls kniff die Augen zusammen. »Bezahlt?« Es dämmerte ihm.

»Ich gehe doch mal davon aus, dass Mona Daa die Tips nicht umsonst bekommen hat? Antworte, und vergiss nicht, dass ich dich kenne, Truls.«

Truls Berntsen grinste. Er war vom Haken. Und wiederholte: »Es ist überhaupt nichts passiert.«

Truls beobachtete, wie die Pigmentflecken in Mikaels Gesicht abwechselnd rot aufleuchteten und wieder verblassten, als pulsierte das Blut dicht unter der Haut. Die Flecken waren mit den Jahren größer geworden, wie bei einer Schlange, die sich häutete.

»Lass hören, was ihr zu wissen glaubt«, sagte Truls und nahm, ohne zu fragen, Platz.

Mikael sah ihn verblüfft an. Dann ließ auch er sich auf seinen Stuhl fallen. Vielleicht hatte er in Truls’ Blick gesehen, dass er keine Angst hatte. Und dass er Mikael mit in den Abgrund reißen würde, sollte man ihn fallenlassen. Bis ganz nach unten.

»Ich weiß«, begann Mikael, »dass Katrine Bratt heute Morgen zu nachtschlafender Zeit in meinem Büro aufgetaucht ist, um mir mitzuteilen, dass sie einen Kollegen auf dich angesetzt hat, weil ich sie gebeten hatte, ein extra Auge auf dich zu werfen. Du standest schon da unter Verdacht, das Leck zu sein.«

»Welcher Kollege?«

»Das hat sie nicht gesagt, und ich habe auch nicht gefragt.«

Natürlich nicht, dachte Truls. Solltest du in Bedrängnis geraten, wäre es sicher besser, nichts zu wissen. Truls war vielleicht nicht der Klügste von allen, aber er war auch nicht so dumm, wie die Leute um ihn herum dachten. Und er hatte mit der Zeit verstanden, wie Mikael und die anderen da oben dachten.

»Der Kollege von Bratt war proaktiv«, sagte Mikael. »Er hat festgestellt, dass du in der letzten Woche mindestens zweimal Telefonkontakt mit Mona Daa hattest.«

Toller Kollege, dachte Truls, wenn der seine Anrufe überprüfte und dafür sogar Kontakt mit den Telefonanbietern aufgenommen hatte. Bestimmt Anders Wyller. Truls war nicht dumm, nein.

»Um definitiv zu beweisen, dass du Mona Daas Quelle bist, hat er sie angerufen. Er hat sich als Vampirist ausgegeben und sie zu ihrer eigenen Absicherung gebeten, ihre Quelle anzurufen, um ein Detail zu überprüfen, das nur der Täter und die Polizei wissen konnten.«

»Der Smoothie-Mixer.«

»Dann gestehst du das?«

»Dass Mona Daa mich angerufen hat? Ja.«

»Gut, denn der Kollege hat Katrine Bratt heute Nacht geweckt und ihr gesagt, dass er eine Telefonliste in der Hand hält, die beweist, dass Mona Daa dich direkt nach seinem Bluff angerufen hat. Da wirst du kaum noch den Kopf aus der Schlinge ziehen können, Truls.«

Truls zuckte mit den Schultern. »Habe ich gar nicht vor. Mona Daa hat mich angerufen und nach einem Smoothie-Mixer gefragt, was ich natürlich nicht kommentiert habe. Ich habe sie an die Ermittlungsleitung verwiesen. Das Gespräch war nach zehn oder zwanzig Sekunden vorbei, das sollte aber auch aus der Telefonliste hervorgehen. Vielleicht hatte Mona Daa ja Lunte gerochen und gemerkt, dass da jemand ihre Quelle entlarven wollte. Weshalb sie dann statt dieser Quelle mich angerufen hat.«

»Laut dem Kollegen ist sie aber zur verabredeten Zeit am Treffpunkt im Containerhafen aufgetaucht, um den Vampiristen zu treffen, der Kollege hat sogar Fotos davon gemacht. Jemand muss das mit dem Smoothie-Mixer also bestätigt haben.«

»Vielleicht hat Mona Daa erst das mit dem Treffpunkt abgesprochen und ist hinterher zu ihrer Quelle gefahren, um sich das alles von Angesicht zu Angesicht bestätigen zu lassen. Polizisten wie Journalisten wissen, wie leicht es ist, sich solche Telefon­listen zu beschaffen. Überprüf die Liste. Mona Daa hat mich angerufen, aber ich habe nie sie angerufen. Dass sie in ihrer Hartnäckigkeit ein paar Minuten braucht, bis sie erkennt, wo nichts zu holen ist, und es trotzdem immer wieder probiert, ist ihr Problem. Ich habe tagsüber ja auch viel Zeit.«

Truls lehnte sich im Stuhl zurück. Er faltete die Hände und sah zu Mikael, der langsam nickend über Truls’ Worte nachdachte und sich fragte, welche Löcher er übersehen haben konnte. Ein kaum sichtbares Lächeln und eine gewisse Wärme in den braunen Augen deuteten an, dass er zu einem Ergebnis gekommen war. Mit etwas Glück war es tatsächlich möglich, Truls noch einmal vom Haken zu kriegen.

»Okay«, sagte Mikael. »Sollte sich wirklich herausstellen, dass nicht du die Quelle bist, wer ist es dann?«

Truls schürzte die Lippen, wie es ihn sein französisches megafettes Onlinedate gelehrt hatte, wenn sie beim Abschied die im­mer wieder komplizierte Frage »Wann sehen wir uns wieder?« stellte.

»Tja. Keiner will bei so einem Fall ja dabei gesehen werden, wie er zu oft mit einer Journalistin wie Daa redet. Der Einzige, den ich dabei gesehen habe, war Kommissar Wyller. Und wenn ich mich recht erinnere, hat er ihr eine Telefonnummer gegeben, unter der sie ihn anrufen kann. Und sie hat ihm gesagt, dass er sie in diesem Gain-Fitnessstudio finden kann.«

Mikael Bellman sah Truls an. Er lächelte leicht verblüfft, wie jemand, der nach Jahren entdeckt, dass sein Partner singen kann, adelig ist oder eine Universitätsausbildung hat.

»Du willst damit also sagen, dass das Leck vermutlich jemand ist, der hier noch neu ist.« Bellman legte Mittel- und Zeigefinger nachdenklich ans Kinn. »Eine plausible Annahme, da das Leck ja erst kürzlich entstanden ist und so gesehen – wie sage ich das? – nicht für die Kultur steht, die wir hier bei der Osloer Polizei in den letzten Jahren gepflegt haben. Aber wer das ist oder nicht ist, werden wir niemals erfahren, da die Journalistin verpflichtet ist, ihre Quelle zu schützen.«

Truls lachte schnaubend. »Gut, Mikael.«

Mikael nickte. Beugte sich vor und packte, noch bevor Truls reagieren konnte, ihn am Jackenkragen.

»Also, wie viel hat die Hure dir bezahlt, Beavis?«

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