Kapitel 27
Mittwochmorgen
Es war fünf vor acht, und im Heizungsraum gurgelte die Kaffeemaschine an diesem Morgen schon zum zweiten Mal.
»Wo bleibt eigentlich Harry?«, fragte Wyller und sah noch einmal auf die Uhr.
»Keine Ahnung«, erwiderte Bjørn Holm. »Wir sollten ohne ihn anfangen.«
Smith und Wyller nickten.
»Okay«, sagte Bjørn. »In diesem Moment sitzt Aurora Aune in der Nokaszentrale und sieht sich gemeinsam mit ihrem Vater, einer Mitarbeiterin der Bank und einem Spezialisten für Überwachungsvideos vom Raubdezernat die Aufnahmen der Kamera des Geldautomaten an. Läuft alles nach Plan, sind sie mit den Mitschnitten aus den vier Tagen in maximal acht Stunden durch. Vorausgesetzt, dass die Quittung, die wir gefunden haben, tatsächlich von einer Abhebung stammt, die Valentin selbst gemacht hat, sollten wir also, bei durchschnittlichem Glück, in etwa vier Stunden seine neue Identität haben. Spätestens heute Abend.«
»Das ist ja phantastisch!«, platzte Smith heraus. »Äh … ist das wirklich sicher?«
»Schon, aber freuen wir uns nicht zu früh«, sagte Bjørn. »Anders, du hast mit Katrine gesprochen?«
»Ja, und wir haben die Vollmacht, das Delta-Team zu nutzen. Die sind einsatzbereit.«
»Das sind die mit den automatischen Waffen und Gasmasken und … ähm, so weiter?«
»Langsam kennst du dich richtig gut aus, Smith«, sagte Bjørn lächelnd und sah Wyller wieder auf die Uhr schauen. »Machst du dir Sorgen, Anders?«
»Vielleicht sollten wir Harry mal anrufen?«
»Tu das.«
Es war neun, und Katrine hatte gerade die Ermittlergruppe aus dem Besprechungsraum entlassen. Sie sammelte ihre Papiere ein, als sie den Mann bemerkte, der in der Tür stand.
»Nun, Smith?«, sagte sie. »Ein spannender Tag, oder? Was macht ihr unten?«
»Wir versuchen, Harry zu erreichen.«
»Ist er nicht aufgetaucht?«
»Und ans Telefon geht er auch nicht.«
»Er ist bestimmt im Krankenhaus, die Handys müssen da ja ausgeschaltet sein. Angeblich beeinflussen sie die Maschinen und technischen Geräte, aber das ist bestimmt genauso ein Blödsinn wie, dass eingeschaltete Handys an Bord die Navigationssysteme von Flugzeugen beeinträchtigen.«
Sie bemerkte, dass Smith nicht zuhörte, sondern an ihr vorbeistarrte.
Sie drehte sich um und sah, dass das Foto von dem angeschlossenen Computer noch immer auf die Leinwand projiziert wurde. Es war eine Aufnahme aus der Jealousy Bar.
»Ich weiß«, sagte sie. »Nicht schön.«
Wie ein Schlafwandler schüttelte Smith den Kopf, ohne den Blick von der Leinwand abzuwenden.
»Sind Sie okay, Smith?«
»Nein«, sagte er langsam. »Ich bin nicht okay. Ich kann kein Blut sehen und keine Gewalt, und ich weiß wirklich nicht, ob ich noch mehr Leid aushalte. Diese Person … dieser Valentin Gjertsen, er … ich bin Psychologe, und er ist ein Fall, zu dem ich mich professionell zu verhalten versuche – ich fürchte nur, ich hasse ihn.«
»Keiner von uns ist so professionell, Smith. Ich würde mich von ein bisschen Hass nicht aus der Bahn werfen lassen. Fühlt es sich nicht gut an, jemanden hassen zu können, wie Harry das immer sagt?«
»Sagt Harry das?«
»Ja. Oder die Raga Rockers. Oder … wollten Sie irgendwas Bestimmtes?«
»Ich habe mit Mona Daa von der VG gesprochen.«
»Da haben wir noch jemanden, auf den sich unser Hass richten kann. Was wollte sie?«
»Ich habe sie angerufen.«
Katrine ließ ihre Papiere fallen.
»Ich habe ihr meine Bedingungen für ein Interview über Valentin Gjertsen erklärt«, sagte Smith. »Dass ich mich nur ganz allgemein über ihn äußern und die Ermittlungen mit keinem Wort erwähnen werde. Es soll ein sogenannter Podcast werden, ein Radioprogramm, das …«
»Ich weiß, was ein Podcast ist, Smith.«
»Egal, so können sie mich auf jeden Fall nicht falsch zitieren. Was ich sage, ist das, was gesendet wird. Ist das für Sie in Ordnung?«
Katrine dachte nach. »Meine erste Frage ist, warum?«
»Weil die Menschen Angst haben. Meine Frau hat Angst, meine Kinder haben Angst, die Nachbarn und die anderen Eltern an der Schule. Und deshalb ist es als wissenschaftlicher Experte auf diesem Gebiet meine Aufgabe, ihnen diese Angst ein bisschen zu nehmen.«
»Ist die Angst denn nicht berechtigt?«
»Lesen Sie keine Zeitung, Katrine? Im Laufe der letzten Woche sind hier in der Stadt Alarmsysteme und Zusatzschlösser komplett ausverkauft worden.«
»Jeder hat Angst vor dem, was er nicht versteht.«
»Es ist nicht nur das. Sie haben Angst, weil sie dachten, es mit einer Person zu tun zu haben, die ich anfänglich als einen reinen Vampiristen beschrieben habe. Ein krankes, verwirrtes Individuum, dessen Angriffe auf eine grundlegende Persönlichkeitsstörung und Paraphilien zurückzuführen sind. Aber dieses Monster ist ein kalter, zynischer und berechnender Krieger, der zu äußerst rationalen Überlegungen fähig ist und sich zurückzieht, wenn dies nötig ist. Wie in dem türkischen Bad. Und der angreift, wenn er kann, wie … wie auf dem Bild da.« Smith schloss die Augen und sah weg. »Ich gebe gerne zu, dass ich selber auch Angst habe. Letzte Nacht habe ich die ganze Zeit wach gelegen und darüber nachgegrübelt, wie diese Morde von ein und derselben Person begangen werden konnten. Wie das überhaupt möglich ist! Wie ich mich derart geirrt haben kann? Ich verstehe das nicht. Aber ich muss das verstehen, niemand hat bessere Voraussetzungen dazu als ich, ich bin der Einzige, der ihnen dieses Monster erklären und zeigen kann. Denn wenn die Menschen das Monster gesehen haben, können sie besser mit ihrer Angst umgehen, sie verstehen. Dann spüren sie, dass sie vernünftigen Verhaltensmaßregeln folgen können, und das gibt ihnen Sicherheit.«
Katrine stemmte die Hände in die Hüften. »Ich bin mir noch nicht ganz sicher, ob ich das alles richtig verstanden habe. Sie verstehen selbst nicht, was Valentin Gjertsen ist, wollen ihn den Leuten da draußen aber erklären, damit sie mit ihrer Angst leben können?«
»Ja.«
»Lügen, um sie zu beruhigen?«
»Ich denke, ich kann es schaffen, mich mehr auf das Zweite zu konzentrieren. Habe ich Ihren Segen?«
Katrine biss sich auf die Unterlippe. »Sie haben schon recht, als Wissenschaftler haben Sie eine Art Informationspflicht, und es ist sicher gut, wenn die Menschen ein wenig beruhigt werden. Solange Sie nicht auf die Ermittlungen eingehen.«
»Natürlich nicht.«
»Wir können kein weiteres Leck brauchen. Ich bin die Einzige in diesem Dezernat, die weiß, was Aurora in diesem Moment tut. Nicht einmal der Polizeipräsident ist informiert.«
»Ehrenwort.«
»Ist er das? Aurora, ist er das?«
»Papa, du nervst.«
»Aune, vielleicht sollten Sie und ich uns einen Moment nach draußen setzen, damit die beiden in Ruhe weitermachen können.«
»In Ruhe? Das ist meine Tochter, Kommissar Wyller, und sie will …«
»Tu, was er sagt, Papa. Mir geht es gut.«
»Ja? Sicher?«
»Ganz sicher.« Aurora wandte sich der Frau von der Bank und dem Mann vom Raubdezernat zu. »Das ist er nicht, spulen Sie vor.«
Ståle Aune stand auf, vielleicht war es die schnelle Bewegung, die ihn schwindelig werden ließ, vielleicht auch die Tatsache, dass er die ganze Nacht nicht geschlafen hatte. Und gegessen hatte er auch nichts. Außerdem starrten sie jetzt schon seit drei Stunden auf diesen Bildschirm.
»Wenn Sie sich hier aufs Sofa setzen, schaue ich mal, ob ich irgendwo einen Kaffee für uns auftreiben kann«, sagte Wyller.
Ståle Aune nickte nur.
Wyller ging, und Ståle blieb sitzen und beobachtete seine Tochter, die hinter der Glaswand Zeichen gab, wenn die Aufnahme vorgespult, angehalten und wieder zurückgespult werden sollte. Er hatte sie schon lange nicht mehr so engagiert gesehen. Sehr lange. Vielleicht waren seine Reaktion und seine Sorge übertrieben. Möglicherweise war das Schlimmste überstanden, vielleicht war sie auf ihre Weise darüber hinweggekommen, während er und Ingrid glücklich unwissend gewesen waren.
Sein kleines Mädchen hatte ihm im Stile eines Psychologiedozenten, der einem Studierenden im ersten Semester etwas klarzumachen versucht, erklärt, was es heißt, wenn man jemandem das Versprechen zu schweigen abnimmt. Und dass sie Harry dieses Versprechen abgenommen und er es erst gebrochen hatte, als ihm bewusst geworden war, dass er dadurch Menschenleben retten konnte. Auch Ståle würde mit seiner Schweigepflicht nicht anders umgehen. Aurora hatte überlebt. Ståle hatte in der letzten Zeit immer wieder über den Tod nachdenken müssen. Nicht über seinen Tod, sondern über die Tatsache, dass auch seine Tochter eines Tages sterben würde. Warum war dieser Gedanke so unerträglich für ihn? Und würde er das anders sehen, wenn er und Ingrid irgendwann Großeltern waren? Die menschliche Psyche war den biologischen Mechanismen ebenso unterworfen wie die Physis, und der Drang, seine Gene weiterzugeben, war vermutlich eine Voraussetzung für das Überleben einer Art. Er hatte Harry vor langer Zeit einmal gefragt, ob er sich nicht ein Kind wünschte, das auch biologisch sein eigenes war, aber Harrys Antwort war mehr als deutlich gewesen. Er habe kein Gen für das Glück, wohl aber eins für Alkoholismus, und das verdiene niemand. Es war möglich, dass er seine Meinung mittlerweile geändert hatte. In den letzten Jahren war auf jeden Fall deutlich geworden, dass auch Harry Glück empfinden konnte. Ståle griff zu seinem Handy. Er wollte ihn anrufen und ihm sagen, dass er ein guter Mann war, ein guter Freund, Vater und Ehemann. Okay, es hörte sich an wie ein Zitat aus einer Todesanzeige, aber das musste er verkraften. Und dass er sich irrte, wenn er glaubte, sein zwanghafter Drang, Mörder zu jagen, sei vergleichbar mit seinem Alkoholismus. Was ihn antrieb, war keine Flucht, sondern der Instinkt des Rudeltieres, auch wenn der Individualist Harry Hole das niemals eingestehen würde. Es war der gute Instinkt, voller Moral und Verantwortung für die Gemeinschaft. Harry würde sicher nur lachen, aber das wollte Ståle seinem Freund sagen, wenn er denn irgendwann an sein verfluchtes Handy ging.
Ståle sah, wie Aurora sich aufrichtete, die Muskeln anspannte. War das …? Doch dann entspannte sie sich wieder und gab mit der Hand das Zeichen weiterzumachen.
Ståle legte das Handy noch einmal ans Ohr. Jetzt geh schon ran!
»Erfolg im Beruf, Sport und in der Familie? Ja, mag sein.« Er ließ den Blick in die Runde schweifen. »In erster Linie bin ich aber ein einfacher Junge aus Manglerud.«
Er hatte sich vorher Sorgen gemacht, dass die einstudierten Klischees leer klingen würden, aber Isabelle hatte recht: Man musste sich nur ein bisschen anstrengen, dann konnte man auch die peinlichsten Banalitäten überzeugend präsentieren.
»Herr Bellman, wir sind froh, dass Sie Zeit für dieses Gespräch gefunden haben.« Der Parteisekretär führte sich die Serviette an den Mund, um zu signalisieren, dass der Lunch beendet war, und nickte den anderen Funktionären zu. »Der Entscheidungsprozess läuft, und wir sind, wie gesagt, sehr froh darüber, dass Sie sich vorstellen könnten, diese Aufgabe zu übernehmen, sollte Ihnen ein Angebot gemacht werden.«
Bellman nickte.
»Mit wir«, mischte Isabelle Skøyen sich ein, »ist auch das Büro des Ministerpräsidenten gemeint, nicht wahr?«
»Wir hätten dieses Treffen nicht vereinbart, wenn das Büro des Ministerpräsidenten nicht grundsätzlich positiv eingestellt wäre«, sagte der Parteisekretär.
Sie hatten Mikael anfänglich gebeten, für dieses Gespräch in den Regierungssitz zu kommen, doch nach einer Beratung mit Isabelle hatte Mikael seinerseits vorgeschlagen, sie auf neutralen Grund einzuladen. Zu einem Lunch auf Kosten des Polizeipräsidenten.
Der Parteisekretär sah auf die Uhr. Eine Omega Seamaster, bemerkte Bellman. Unpraktisch schwer. Außerdem machte diese Uhr einen zum Opfer von Raubüberfällen in jeder Dritte-Welt-Stadt, und sie blieb stehen, wenn man sie länger als einen Tag nicht trug. Dann musste man sie erst wieder umständlich aufziehen und neu stellen, und wenn man dann vergaß, die Krone richtig zuzuschrauben, und in seinen Pool sprang, war die Uhr kaputt. Die notwendige Reparatur kostete dann ebenso viel wie vier andere Qualitätsuhren. Kurz gesagt: Er musste eine solche Uhr haben.
»Wir haben, wie Sie ja bereits wissen, mehrere Kandidaten. Das Amt des Justizministers ist eine wichtige Position innerhalb der Regierung, und ich will Ihnen nicht vorenthalten, dass jemand, der nicht aus den Reihen der Politik kommt, es vielleicht etwas schwerer hat.«
Mikael taktete seinen Auftritt so, dass er seinen Stuhl exakt zeitgleich mit dem Parteisekretär zurückschob, aber als Erster die Hand ausstreckte, um sich zu verabschieden. Er war verdammt noch mal der Polizeipräsident, und von ihnen beiden war er es, der dringend zu seinem verantwortungsvollen Job zurückmusste. Nicht dieser graue Bürokrat mit teurer Uhr.
Nachdem die Funktionäre der Regierungspartei das Restaurant verlassen hatten, nahmen Mikael und Isabelle noch einmal Platz. Sie hatten ein Separee in einem der neuen Restaurants mitten in dem gerade fertiggewordenen Wohnkomplex an der Spitze von Sørenga gemietet. Hinter ihnen lag der Ekebergåsen, und vor ihnen die Oper und das neuerrichtete Seebad. Kleine, spitze Wellen überzogen den Fjord, und weit draußen steckten Segel wie weiße Kommata in der Wasserfläche. Der aktuelle Wetterbericht sagte, dass der Sturm Oslo kurz vor Mitternacht treffen sollte.
»Ist doch gutgegangen, oder?«, fragte Mikael und goss ihnen den Rest des exklusiven Mineralwassers in die Gläser.
»Wenn das Büro des Ministerpräsidenten nicht grundsätzlich positiv eingestellt wäre«, äffte Isabelle den Parteisekretär nach und verzog den Mund.
»Stimmt mit der Äußerung was nicht?«
»Ja. Und zwar dieses grundsätzlich, das war neu. Und dass sie immer nur vom Büro des Ministerpräsidenten gesprochen haben und nicht mehr vom Ministerpräsidenten persönlich, sagt mir, dass sie sich zurückziehen.«
»Und warum sollten sie das?«
»Du hast dasselbe gehört wie ich. Ein Lunch, bei dem sie dich hauptsächlich über den Vampiristen ausfragen und wissen wollen, wie schnell der Fall deiner Meinung nach gelöst werden wird.«
»Komm schon, Isabelle, jeder in der Stadt redet darüber!«
»Sie fragen danach, weil deine Aktien damit steigen oder fallen, Mikael.«
»Aber …«
»Sie brauchen weder dich noch deine Kompetenz oder dein Talent, das Ministerium zu führen, das hast du doch wohl kapiert?«
»Jetzt übertreibst du, aber ja, das …«
»Sie wollen deine Augenklappe, deinen Heldenstatus, deine Popularität, deinen Erfolg. Das macht dich aus, und genau das ist es, was der aktuellen Regierung im Moment fehlt. Fällt das weg, bist du für sie wertlos. Und ehrlich gesagt«, sie schob das Glas zur Seite und stand auf, »für mich auch.«
Mikael lächelte sie ungläubig an. »Was?«
Sie nahm ihre kurze Pelzjacke vom Garderobenständer.
»Ich ertrage keine Verlierer, Mikael, das weißt du ganz genau. Ich bin an die Presse gegangen und habe dich dafür gelobt, dass du Harry Hole aus der Mottenkiste geholt hast. Bis jetzt hat er einen nackten Neunzigjährigen verhaftet und dafür gesorgt, dass ein unschuldiger Barkeeper ermordet wurde. Das lässt nicht nur dich wie einen Verlierer aussehen, Mikael, sondern mich auch. Und das gefällt mir ganz und gar nicht, und deshalb bin ich weg.«
Mikael Bellman lachte. »Hast du deine Tage, oder was?«
»Meistens hast du das besser im Blick.«
»Ist ja okay«, sagte Mikael. »Bis bald.«
»Ich glaube, du hast weg nicht richtig verstanden.«
»Isabelle …«
»Leb wohl. Mir hat gefallen, was du über Erfolg in der Familie gesagt hast. Konzentrier dich darauf.«
Mikael blieb sitzen und starrte die Tür an, die sich langsam hinter ihr schloss.
Er bat den Kellner, der den Kopf hereinstreckte, um die Rechnung und ließ seinen Blick noch einmal über den Fjord schweifen. Es hieß, dass diejenigen, die diese Häuser direkt am Wasser geplant hatten, nicht an den Klimawandel und den steigenden Meeresspiegel gedacht hätten. Er selbst hatte daran gedacht, als er gemeinsam mit Ulla ihre Villa oben in Høyenhall gebaut hatte. Dort waren sie sicher, das Meer konnte ihnen nichts anhaben, kein Angreifer das Haus ungesehen erreichen, und ein einfacher Sturm pustete ihnen dort auch nicht das Dach über dem Kopf weg. Dafür brauchte es verdammt noch mal mehr. Er trank einen Schluck Wasser. Schnitt eine Grimasse und starrte auf sein Glas. Voss-Wasser. Warum zahlten die Leute nur Unsummen für ein Wasser, das auch nicht besser schmeckte als das, was aus dem Wasserhahn kam? Sie fanden es nicht leckerer, nein, glaubten aber, dass andere es leckerer fanden, und mussten folglich Voss-Wasser bestellen, wenn sie mit ihrer viel zu langweiligen Trophäenfrau und der viel zu schweren Omega Seamaster am Handgelenk ausgingen. Sehnte er sich deshalb hin und wieder zurück nach Manglerud? Ins Olsens, wo er sich samstagabends besoffen über den Tresen beugen und sich ein Gratisbier zapfen konnte, wenn Olsen die Augen woanders hatte. Oder er einen letzten engen Tanz mit Ulla tanzen konnte, neidisch beäugt von den Helden von Manglerud Star und den coolen Kawasaki-750er-Jungs, bevor er und Ulla allein in die Nacht verschwanden, über den Plogveien zur Eishalle und zum Østensjøvannet, wo er dann zu den Sternen zeigen und ihr erklären würde, wie sie dorthin gelangen konnten.
Hatten sie es geschafft? Vielleicht. Aber irgendwie fühlte es sich wie früher an, wenn er mit Vater in den Bergen war und müde und erschöpft glaubte, dass sie endlich den Gipfel erreicht hatten, nur um oben zu erkennen, dass hinter dem Gipfel noch ein höherer Gipfel wartete.
Mikael Bellman schloss die Augen.
Es war genau wie jetzt. Er war müde. Konnte er innehalten, bleiben, wo er war? Sich hinlegen, den Wind spüren, die Heide, den sonnenwarmen Stein auf der Haut? Sagen, dass er nicht mehr weiterwollte? Plötzlich kam ihm in den Sinn, Ulla anzurufen und ihr genau das zu sagen. Wir bleiben hier.
Als Antwort auf seine seltsame Eingebung begann das Handy in seiner Jackentasche zu vibrieren. Natürlich, das konnte nur Ulla sein. Er nahm das Gespräch an.
»Ja?«
»Hier ist Katrine Bratt.«
»Ah, ja?«
»Ich wollte nur mitteilen, dass wir herausgefunden haben, unter welchem Namen Valentin Gjertsen sich versteckt.«
»Was?«
»Er hat im August Geld in der Oslo City abgehoben, und vor sechs Minuten ist es uns gelungen, ihn über die Bilder der Überwachungskamera zu identifizieren. Die Karte, die er benutzt hat, ist auf einen Alexander Dreyer ausgestellt, geboren 1972.«
»Und?«
»Und dieser Alexander Dreyer ist 2010 bei einem Autounfall ums Leben gekommen.«
»Und die Adresse? Haben wir eine Adresse?«
»Die haben wir. Delta ist verständigt. Sie sind auf dem Weg.«
»Sonst noch etwas?«
»Noch nicht. Gehe ich recht in der Annahme, dass du fortlaufend informiert werden willst?«
»Ja, fortlaufend.«
Er legte auf.
»Entschuldigung.« Es war der Kellner.
Bellman warf einen Blick auf die Rechnung, tippte einen viel höheren Betrag als ausgewiesen in das Kartenlesegerät und drückte auf »o. k.«. Dann stand er auf und stürmte nach draußen. Wenn er Valentin Gjertsen fasste, öffnete ihm das alle Türen.
Die Müdigkeit war wie weggeblasen.
John D. Steffens schaltete das Licht ein. Die Leuchtstoffröhren blinkten ein paar Sekunden, bis sie sich brummend stabilisierten und kaltes Licht in den Raum fiel.
Oleg blinzelte und hielt überrascht den Atem an. »Ist das alles Blut?« Seine Stimme hallte in dem kahlen Raum wider.
Steffens lächelte, während die Stahltür hinter ihm ins Schloss fiel. »Willkommen im Blutbad.«
Oleg lief ein Schauer über den Rücken. Es war kalt, und das bläuliche Licht, das von den weißen Fliesen reflektiert wurde, verstärkte den Eindruck, im Inneren eines Kühlschranks zu sein.
»Wie … wie viel ist das?«, fragte Oleg und folgte Steffens zwischen den Gängen mit den roten Plastiksäcken, die in vier Reihen übereinander an Metallständern hingen.
»Genug, um ein paar Tage zurechtzukommen, sollte Oslo von den Lakotas angegriffen werden«, sagte Steffens und kletterte über eine schmale Treppe ins Becken hinunter.
»Lakota?«
»Besser bekannt als Sioux«, sagte Steffens, legte die Hand um einen der Blutbeutel und drückte ihn zusammen. Oleg sah, wie das Blut an dieser Stelle heller wirkte. »Es ist ein Mythos, dass die Indianer, auf die der weiße Mann gestoßen ist, blutrünstig waren. Abgesehen vom Stamm der Lakota.«
»Ach ja?«, fragte Oleg. »Und wie ist es bei den Weißen? Ist der Blutdurst unter den Völkern nicht gleichmäßig verteilt?«
»Ich weiß, dass das heute in der Schule so gelehrt wird«, sagte Steffens. »Dass keiner besser, keiner schlechter ist. Aber glauben Sie mir, die Lakota waren besonders. Besser und schlechter. Sie waren die besten Krieger. Wenn die Appachen von den Cheyenne oder den Schwarzfußindianern angegriffen wurden, ließen sie ihre Krieger ausruhen und schickten Kinder und Alte, um die Angreifer zu besiegen. Aber wenn die Lakota kamen, schickten sie gar keinen. Dann begannen sie gleich, ihr Todeslied zu singen und auf einen raschen Tod zu hoffen. So weit die Legende.«
»Folter?«
»Besonders bei Kriegsgefangenen. Die haben sie nach und nach mit glühender Kohle verbrannt.« Steffens ging weiter in einen Bereich, in dem die Beutel dichter hingen und es dunkler war. »Und wenn die Gefangenen nicht mehr konnten, gönnten sie ihnen eine Pause, damit sie aßen und tranken, um die Marter noch ein oder zwei Tage verlängern zu können. Mitunter haben sie ihnen sogar Fleischstücke serviert, die sie ihren Opfern zuvor aus dem Körper geschnitten hatten.«
»Ist das wahr?«
»Tja, vermutlich ebenso wahr wie alle anderen historischen Dokumente auch. Ein Lakotakrieger mit dem Namen Mond hinter dem Himmel war berüchtigt dafür, das Blut aller Feinde zu trinken, die er getötet hatte. Was nicht stimmen kann, denn er soll unglaublich viele Menschen getötet haben, und wenn er das Blut all dieser Leute getrunken hätte, wäre er daran zugrunde gegangen. In großen Mengen ist Blut für uns nämlich giftig.«
»Wirklich?«
»Wegen des Eisengehalts. Man nimmt dann mehr auf, als man ausspülen kann. Aber dass er das Blut wenigstens einiger seiner Opfer getrunken hat, weiß ich.« Steffens blieb bei einem Blutbeutel stehen. »1871 wurde mein Ururgroßvater tot in dem Lakotalager gefunden, das von Mond hinter dem Himmel angeführt wurde. Ohne einen Tropfen Blut im Körper. Er war als Missionar in dieses Lager gegangen. Im Tagebuch meiner Großmutter steht, dass meine Ururgroßmutter nach dem Massaker an den Lakota 1890 am Wounded Knee dem Herrn gedankt hat. Apropos Mütter …«
»Ja?«
»Dieses Blut gehört Ihrer Mutter. Das heißt, jetzt gehört es mir.«
»Ich dachte, sie bekäme Blut?«
»Ihre Mutter hat einen sehr seltenen Bluttypus, Oleg.«
»Wirklich? Ich dachte, ihre Blutgruppe wäre ganz normal.«
»Oh, bei Blut geht es um so viel mehr als nur um die Blutgruppe, Oleg. Zum Glück hat sie Blutgruppe A, so dass ich eine gute Auswahl habe, was ich ihr geben kann.« Er machte eine weitläufige Geste mit der Hand. »Einfaches Blut, das ihr Körper dann in die goldenen Tropfen verwandelt, aus denen Rakel Faukes Blut besteht. Apropos Fauke, ich habe Sie nicht mit nach hier unten genommen, damit Sie mal etwas anderes machen, als am Krankenbett zu sitzen. Ich wollte Sie fragen, ob ich eine Blutprobe von Ihnen nehmen darf, um zu sehen, ob Sie das gleiche Blut produzieren wie Ihre Mutter.«
»Ich?« Oleg dachte nach. »Tja, wenn das jemandem helfen kann, warum nicht?«
»Es kann mir helfen, glauben Sie mir. Sind Sie bereit?«
»Jetzt? Sofort?«
Oleg sah den Blick des Oberarztes. Zögerte, wusste aber nicht, warum.
»Okay«, sagte er. »Mein Blut gehört Ihnen.«
»Gut.« Steffens steckte die Hand in die Tasche seines weißen Kittels und wandte sich Oleg zu, als eine lustige Melodie aus der anderen Tasche seines Kittels ertönte. In die Stirn des Arztes grub sich eine tiefe Falte.
»Ich dachte, hier unten wäre kein Empfang«, murmelte er verärgert und nahm das Handy aus der Tasche. Oleg bemerkte, wie das Licht des Displays sich auf Steffens’ Brillengläsern spiegelte. »Oh, der Anruf scheint aus dem Präsidium zu kommen.« Der Arzt legte das Handy ans Ohr. »Oberarzt John Doyle Steffens.«
Oleg hörte das leise Summen der anderen Stimme.
»Nein, Hauptkommissarin Bratt, ich habe Harry Hole heute noch nicht gesehen, und er war auch nicht hier, da bin ich mir ziemlich sicher. Es gibt aber auch noch andere Orte, wo man sein Telefon ausschalten muss. Vielleicht sitzt er ja in einem Flugzeug?« Steffens sah zu Oleg, der mit den Schultern zuckte. »Wir haben ihn gefunden? Ja, das habe ich verstanden, ich werde ihm das ausrichten, sollte er auftauchen. Darf ich fragen, wen Sie gefunden haben? Danke, ja, ich weiß, was Schweigepflicht ist. Ich dachte nur, es wäre für Hole ganz gut, wenn ich nicht in Rätseln sprechen müsste. Aber wenn Sie meinen, dass er versteht, um wen es sich handelt. Okay, dann richte ich ihm das genau so aus, wir haben ihn gefunden. Einen schönen Tag noch. Wiederhören, Frau Bratt.«
Steffens steckte das Telefon zurück in seine Tasche und bemerkte, dass Oleg seinen Ärmel hochgekrempelt hatte. Er griff den Arm des jungen Mannes und führte ihn mit schnellen Schritten zurück zu der Treppe, die aus dem Becken führte. »Danke, aber ich habe gerade auf dem Display gesehen, dass es schon viel später ist, als ich gedacht habe. Ein Patient wartet auf mich. Ihr Blut müssen wir dann ein andermal untersuchen, Fauke.«
Sivert Falkeid, der Leiter des Sondereinsatzkommandos Delta, saß hinten im Geländewagen und gab die letzten Befehle, während sie über den Trondheimsveien nach oben fuhren. Es waren acht Mann im Auto. Genauer gesagt, sieben Männer und eine Frau, die aber nicht zum Sondereinsatzkommando gehörte. Delta war zwar prinzipiell offen für beide Geschlechter, doch unter den hundert Bewerbern des laufenden Jahres war nicht eine Frau gewesen. Seit die Truppe bestand, hatte es nur fünf Bewerbungen von Frauen gegeben – die letzte Ende des letzten Jahrtausends –, von denen es jedoch keine durch das Nadelöhr geschafft hatte. Aber was hieß das schon, die Frau, die Falkeid gegenübersaß, wirkte durchtrainiert und zäh. Vielleicht hätte sie eine Chance gehabt?
»Wir wissen also nicht, ob dieser Dreyer zu Hause ist?«, fragte Sivert Falkeid.
»Nur dass das noch einmal gesagt ist, es geht um Valentin Gjertsen, den Vampiristen.«
»Ich mach doch nur Witze, Bratt«, sagte Falkeid und grinste breit. »Hat er ein Handy, über das wir ihn anpeilen können?«
»Möglich, dass er eins hat, aber keines, das auf Dreyer oder Gjertsen registriert ist. Ist das ein Problem?«
Sivert Falkeid warf ihr einen Blick zu. Sie hatten den Bauplan des Hauses über das städtische Bauamt erhalten, es schien unkompliziert zu sein. Fünfundvierzig Quadratmeter in der ersten Etage. Keine Hintertür oder Kellertreppe, die direkt von der Wohnung zugänglich war. Nach Plan sollten vier Mann zur Eingangstür und zwei auf die Wiese hinter dem Haus, sollte er über den Balkon zu fliehen versuchen.
»Kein Problem«, sagte er.
»Gut«, erwiderte sie. »Gehen wir leise rein?«
Er lächelte, ihr Bergener Dialekt gefiel ihm. »Was schlagen Sie vor? Sollen wir ein Loch in die Balkontür schneiden, höflich die Schuhe abputzen und dann leise reingehen?«
»Nein, aber gibt es wirklich einen Grund, Schockgranaten oder so etwas einzusetzen? Sie müssen doch nur einen Mann festnehmen, der unbewaffnet ist und keine Ahnung hat, dass wir kommen. Außerdem gibt es für leises, unspektakuläres Auftreten bessere Stilnoten.«
»Das mag ja sein«, sagte Falkeid, warf einen Blick auf das Navi und dann auf die Straße vor ihnen. »Aber wenn wir ihn überraschen, ist das Risiko, dass einem von uns oder ihm selbst etwas passiert, deutlich geringer. In neun von zehn Fällen sind die Betroffenen von dem Knall und dem Licht einer solchen Granate paralysiert, für wie hart sie sich auch halten. Ich glaube, wir haben durch diese Taktik einigen Leuten, die wir festnehmen sollten, das Leben gerettet. Und vielleicht auch einigen von uns. Außerdem haben wir diese Granaten nun einmal und sollten sie auch noch vor dem Verfallsdatum benutzen. Ganz zu schweigen davon, dass meine Jungs mal wieder ein bisschen Rock ’n’ Roll brauchen, in der letzten Zeit hatten wir zu viele Balladen.«
»Sie machen Witze, oder? Seid ihr wirklich solche Machos?«
Falkeid grinste und zuckte mit den Schultern.
»Wissen Sie was?« Bratt hatte sich vorgebeugt, ihre roten Lippen befeuchtet und die Stimme gesenkt. »Irgendwie gefällt mir das.«
Falkeid lachte. Er war glücklich verheiratet, doch wäre er das nicht, hätte er gegen ein Essen mit Katrine Bratt nichts einzuwenden gehabt. Er mochte ihre dunklen, gefährlichen Augen und ihr Bergener »R«, es erinnerte ihn immer irgendwie an das Knurren von Raubtieren.
»Noch eine Minute«, sagte er laut, und die sieben Männer klappten in einer beinahe synchronen Bewegung ihre Visiere herunter.
»Stimmt es, dass er eine Ruger Redhawk hat?«
»Die hat Harry Hole in dieser Kneipe gesehen, ja.«
»Ihr habt das gehört, Jungs.«
Sie nickten. Laut Information des Herstellers konnte das Plastik der neuen Visiere eine 9-mm-Kugel aufhalten, nicht aber die Geschosse einer großkalibrigen Redhawk. Falkeid schien das egal zu sein, falsche Sicherheit war eh trügerisch.
»Was, wenn er Widerstand leistet?«, fragte Bratt.
Falkeid räusperte sich. »Dann erschießen wir ihn.«
»Muss das sein?«
»Es wird im Nachhinein sicher den ein oder anderen klugen Kommentar dazu geben. Wir ziehen es aber vor, schon im Vorfeld klug zu sein und Leute zu erschießen, die auf uns schießen wollen. Die Lizenz dafür ist einer der Pluspunkte unseres Jobs. Sieht so aus, als wären wir da.«
Er stand am Fenster, bemerkte die beiden Fettflecke auf der Scheibe und ließ seinen Blick über die Stadt schweifen. Er sah niemanden, aber es waren Sirenen zu hören. Kein Grund zur Beunruhigung. Sirenen hörte man ja ständig. Menschen verbrannten, rutschten auf Badezimmerfliesen aus oder folterten ihre Lebensgefährten, und dann waren eben Sirenen zu hören. Nerviges, penetrantes Geheule, das ständig erforderte, dass man auf die Seite ging und Platz machte.
Auf der anderen Seite der Wand hatte jemand Sex. Mitten am Tag. Da wurde jemand betrogen. Ehepartner, Arbeitgeber, vermutlich beides.
Die Sirenen bohrten sich immer wieder durch die Stimmen aus dem Radio. Männer mit Uniformen, Autorität und Vorfahrt, aber ohne Sinn und Verstand. Sie wussten bloß, dass sie es eilig hatten und dass etwas Schreckliches passieren würde, wenn sie nicht rechtzeitig kamen.
Bombenalarm. Das war eine Sirene, die wirklich Bedeutung hatte. Die Musik des Jüngsten Gerichts. Ein verheißungsvoller Klang, bei dem sich alle Haare aufstellten. Erst recht, wenn man auf die Uhr sah und merkte, dass es nicht zwölf Uhr mittags war und der Alarm folglich kein Test sein konnte. Er selbst hätte Oslo exakt um zwölf Uhr angegriffen, dann würde niemand in die Bunker laufen, alle würden einfach dastehen und verwundert an den Himmel glotzen, um das seltsame Schauspiel zu beobachten. Oder in irgendeinem Hotelzimmer eine Nummer schieben, mit schlechtem Gewissen, dabei spürten sie ganz genau, dass sie nichts hätten anders machen können. Denn das können wir nicht, wir tun, was wir tun müssen, weil wir die sind, die wir sind. Die Vorstellung, uns allein mit unserem Willen dazu zwingen zu können, anders zu handeln, als wir aus uns heraus handeln würden, ist falsch. Ein Missverständnis. Es ist genau andersherum, unsere Willenskraft vermag nur, unserer Natur zu folgen, auch wenn die Umstände es uns schwer machen. Eine Frau vergewaltigen, ihren Widerstand brechen oder umgehen, vor der Polizei und der Rache fliehen und sich Tag und Nacht verstecken: All diese Mühsal nimmt man auf sich, nur um mit dieser einen Frau zu schlafen.
Die Sirenen waren jetzt weiter entfernt. Die Liebenden nicht mehr zu hören.
Er versuchte sich zu erinnern, wie der Katastrophenalarm geklungen hatte, bei dem man auf Eilmeldungen im Radio achten sollte. Gab es den überhaupt noch? Als er klein gewesen war, hatte es eigentlich nur einen Radiosender gegeben, doch welchen musste man heute hören, um mitzubekommen, was so ungeheuer wichtig war, nicht aber wichtig genug, um die Menschen direkt in die Bunker zu schicken? Oder gab es einen Notfallplan, bei dem sie auf alle Sender zugreifen und mit einer Stimme verkünden konnten, dass es … ja was … zu spät war? Viel zu spät? Dass die Bunker geschlossen waren, die dich ohnehin nicht hätten retten können, da nichts dich retten konnte.
Dann konnte man nur noch die, die man liebte, um sich versammeln, Abschied nehmen und sterben. Er hatte gelernt, dass viele Menschen ihre Leben darauf ausrichteten, nicht allein zu sterben. Den wenigsten gelang das, aber welche Opfer waren sie bereit, in Kauf zu nehmen. All das nur, um nicht über die Klinge springen zu müssen, ohne von jemandem an der Hand gehalten zu werden? Nun. Er hatte ihre Hände gehalten. Wie viele waren es gewesen? Zwanzig? Dreißig? Trotzdem hatten sie nicht weniger entsetzt oder einsam ausgesehen. Nicht einmal diejenigen, die er geliebt hatte. Dass sie es nicht gelernt hatten, seine Liebe zu erwidern, war verständlich, aber trotzdem waren sie von Liebe umgeben gewesen. Er dachte an Marte Ruud. Er hätte sie besser behandeln sollen, hätte sich nicht gehenlassen dürfen. Hoffentlich hatte sie einen schnellen, schmerzfreien Tod gehabt.
Er hörte die Dusche auf der anderen Seite der Wand und stellte das Radio in seinem Telefon lauter.
»… wenn Vampiristen in Teilen der Fachliteratur als intelligent, aber frei von Anzeichen für mentale Leiden oder soziale Störungen beschrieben werden, erweckt das den Eindruck, als hätten wir es mit starken, gefährlichen Feinden zu tun. Das ist in unserem Fall nicht ganz richtig. Valentin Gjertsen entspricht eher dem sogenannten Sacramento-Vampir, also dem Vampiristen Richard Chase. Bei beiden finden wir schon in der Jugend mentale Störungen, Bettnässen, Brandstiftung, Impotenz. Beide hatten die Diagnose Paranoia und Schizophrenie. Chase ist den üblichen Weg gegangen, er hat Tierblut getrunken, sich Hühnerblut injiziert und ist davon krank geworden, während Valentin als Junge mehr davon besessen war, Katzen zu quälen. Auf dem Hof seines Großvaters hielt er junge Katzen in der Scheune versteckt, die er gequält hat, ohne dass ein Erwachsener das je mitbekommen hätte. Sowohl Valentin Gjertsen als auch Chase waren vollkommen besessen, nachdem sie das erste Mal als Vampiristen getötet hatten. Chase ermordete seine sieben Opfer im Laufe von nur wenigen Wochen. Und genau wie Gjertsen hat er die meisten Opfer in ihren eigenen Wohnungen ermordet. Er ist im Dezember 1977 durch Sacramento gelaufen und hat nach nicht verschlossenen Türen gesucht. Fand er eine, hat er das als Einladung verstanden, einzutreten, wie er später bei seiner Vernehmung ausgesagt hat. Eines seiner Opfer, Teresa Wallin, war im dritten Monat schwanger. Als Chase sie allein in ihrer Wohnung vorfand, schoss er dreimal auf sie, vergewaltigte die Leiche und stieß dabei mit einem Schlachtermesser auf sie ein, um ihr Blut zu trinken. Kommt Ihnen das irgendwie bekannt vor?«
Durchaus, dachte er. Aber was du nicht zu sagen wagst, ist, dass Richard Trenton Chase der Frau auch diverse Organe entnommen, ihr eine Brustwarze abgeschnitten und dann im Hinterhof Hundekot gesucht hat, den er ihr in den Mund gesteckt hat. Einmal hat er sogar den Penis eines Opfers als Strohhalm benutzt, um damit das Blut anderer Opfer zu trinken.
»Das sind aber noch nicht alle Übereinstimmungen. Genau wie Chase ist Valentin Gjertsen jetzt bald am Ende seines Wegs angekommen. Ich glaube eigentlich nicht, dass es weitere Opfer geben wird.«
»Was lässt Sie da so sicher sein, Smith? Sie arbeiten mit der Polizei zusammen, gibt es konkrete Spuren?«
»Was mich so sicher macht, hat nichts mit den Ermittlungen zu tun, auf die ich selbstverständlich nicht eingehen kann, weder direkt noch indirekt.«
»Warum also?«
Er hörte, wie Smith tief einatmete, und erinnerte sich, wie der unauffällige Psychologe sich bei ihren Sitzungen Notizen gemacht und interessiert nach seiner Kindheit gefragt hatte. Dem Bettnässen, seinen frühen sexuellen Erfahrungen, dem Wald, den er angezündet hatte. Ganz besonders hatte es ihm aber das Katzenangeln angetan, wie er es genannt hatte. Valentin hatte die alte Angel des Großvaters genommen, die Schnur über einen Balken geworfen, den Haken in das Kinn einer jungen Katze gestochen, um dann zuzusehen, wie die Katze in der Luft hing und sich verzweifelt zu befreien versuchte.
»Weil Valentin Gjertsen in keinerlei Weise besonders ist, außer vielleicht besonders böse. Er ist nicht strohdumm, aber auch nicht sonderlich intelligent. Und er hat nichts bewirkt. Etwas aufzubauen erfordert Kreativität, eine Vision. Etwas zu zerstören hingegen bedarf keiner Fähigkeiten, nur Blindheit. Was Gjertsen in den letzten Tagen davor bewahrt hat, gefasst zu werden, waren keine besonderen Tugenden, sondern schieres Glück. Solange er noch frei herumläuft, ist Valentin Gjertsen natürlich ein gefährlicher Mann, vor dem man sich hüten muss wie vor Hunden mit Schaum vor dem Maul. Aber ein Hund mit Tollwut wird sterben, und all seiner Bosheit zum Trotz ist Valentin Gjertsen nur – um die Worte Harry Holes zu zitieren – ein armseliger Perverser, der derart außer Kontrolle ist, dass er bald einen großen Fehler begehen wird.«
»Sie wollen die Menschen in Oslo also beruhigen …«
Er hörte ein Geräusch und schaltete den Podcast aus. Lauschte. Direkt vor der Eingangstür schlichen Füße über den Boden. Jemand konzentrierte sich auf etwas.
Vier Männer in schwarzen Delta-Uniformen standen an der Wohnungstür von Alexander Dreyer. Katrine Bratt wartete etwas entfernt auf dem Flur, beobachtete aber alles.
Einer der Männer hielt einen anderthalb Meter langen Rammbock in Form einer Pringles-Packung mit zwei Griffen.
Die vier Männer waren hinter ihren Visierhelmen nicht mehr auseinanderzuhalten. Sie ging aber davon aus, dass der Mann, der jetzt drei behandschuhte Finger in die Höhe streckte, Sivert Falkeid war.
In der Stille des Countdowns hörte sie die Musik aus der Nachbarwohnung. Pink Floyd? Sie hasste Pink Floyd. Obwohl hassen vielleicht das falsche Wort war, sie hatte nur ein tiefes Misstrauen Leuten gegenüber, die Pink Floyd liebten. Bjørn hatte gesagt, dass er nur einen einzigen Pink-Floyd-Song mochte. Und dann hatte er ein Album aus einer Zeit hervorgeholt, als sie noch klein gewesen waren, und auf dem war so etwas wie ein haariges Ohr zu erkennen. Was dann kam, war ein geradliniger Blues, unterlegt mit dem Heulen eines Hundes. Wie in einer TV-Show, wenn dem Produzenten die Ideen ausgegangen waren. Bjørn hatte nur gemeint, dass er jedem Song mit anständigem Bottleneck-Spiel volle Amnestie gewähre, und dass die Tatsache, dass doppelte Basstrommeln ebenso fehlten wie geröhrte Vokale oder die Huldigung schwarzer Mächte und von Würmern zerfressener Leichen – wie Katrine es liebte –, ein weiterer Pluspunkt sei. Sie vermisste Bjørn. Und ja, in dem Moment, in dem Falkeid den letzten Finger einzog, die Faust ballte und der Rammbock auf die Tür des Mannes zuraste, der im Laufe der letzten sieben Tage mindestens vier, wahrscheinlich aber fünf Menschen umgebracht hatte, dachte sie an den Mann, den sie verlassen hatte.
Es knallte, als das Schloss und die Tür aufbrachen. Der dritte Mann warf eine Flashbanggranate in die Wohnung, und Katrine hielt sich die Ohren zu. Als die Granate drinnen aufblendete, gefolgt von zwei weiteren ohrenbetäubenden Krachern, sah Katrine nur noch die Silhouette der Delta-Kollegen. Drei der Männer verschwanden mit automatischen MP5-Waffen an der Schulter in der Wohnung, während der vierte draußen stehen blieb und die Tür sicherte.
Sie nahm die Hände von den Ohren.
Die Flashbanggranate hatte Pink Floyd nicht gestoppt.
»Sicher!«, hörte sie Falkeids Stimme.
Der Polizist vor der Tür drehte sich zu Katrine um und nickte ihr zu.
Sie holte tief Luft und ging zur Tür.
Betrat die Wohnung. Es lag noch etwas Rauch von der Granate in der Luft, ansonsten war seltsam wenig zu riechen.
Der Flur. Das Wohnzimmer. Die Küche. Alles sah so normal aus. Als wohnte hier ein vollkommen durchschnittlicher, reinlicher Mensch, der Essen kochte, Kaffee trank, fernsah und Musik hörte. Von der Decke hingen keine Fleischerhaken herab, an der Tapete waren keine Blutspritzer, und die Wände waren auch nicht mit Zeitungsartikeln über die Morde oder mit Fotos der Opfer tapeziert.
Unwillkürlich kam ihr der Gedanke, dass Aurora sich geirrt haben musste.
Sie sah durch die offene Tür ins Bad. Es war leer, kein Duschvorhang, keine Toilettenartikel, abgesehen von einem Gegenstand, der auf der Ablage unter dem Spiegel lag. Sie trat ein. Es war kein Toilettenartikel. Braunrot rostiges Metall mit Resten schwarzer Farbe. Die zusammengeklappten Zähne des Eisengebisses bildeten ein Zickzackmuster.
»Bratt!«
»Ja?« Katrine ging ins Wohnzimmer.
»Hier drinnen.« Falkeids Stimme kam aus dem Schlafzimmer. Sie klang ruhig, kontrolliert. Als wäre etwas vorbei. Katrine stieg über die Türschwelle und vermied es, die Tür zu berühren, als wüsste sie bereits sicher, dass sie an einem Tatort war. Die Schranktüren standen offen, und die Delta-Männer hatten ihre automatischen Waffen auf den nackten Körper gerichtet, der auf der Bettdecke lag und mit toten Augen nach oben starrte. Katrine konnte den Geruch, den sie wahrnahm, nicht gleich deuten und beugte sich vor. Lavendel.
Katrine nahm ihr Handy und wählte die Nummer. Er meldete sich sofort.
»Habt ihr ihn?« Bjørn Holm klang kurzatmig.
»Nein«, sagte sie. »Aber hier liegt der Körper einer Frau.«
»Tot?«
»Jedenfalls nicht lebendig.«
»Verdammt! Marte Ruud? Warte … nee, Moment … was meinst du mit nicht lebendig?«
»Nicht tot, aber auch nicht lebendig.«
»Was?«
»Eine Sexpuppe.«
»Eine … was?«
»So eine Puppe, die man ficken kann. Sieht teuer aus, made in Japan. Sehr lebensecht, ich habe die wirklich erst für einen Menschen gehalten. Wie dem auch sei, Alexander Dreyer ist Valentin Gjertsen, das Eisengebiss ist hier. Wir müssen hier noch warten und sehen, ob er auftaucht. Habt ihr was von Harry gehört?«
»Nein.«
Katrines Blick fiel auf einen Kleiderbügel und eine Unterhose, die vor dem Schrank auf dem Boden lagen. »Mir gefällt das nicht, Bjørn, er war auch nicht im Krankenhaus.«
»Das gefällt keinem. Sollen wir eine Fahndung rausgeben?«
»Nach Harry? Wofür sollte das denn gut sein?«
»Du hast recht. Pass auf, dass du nicht so viel rumläufst, in der Wohnung könnten Spuren von Marte Ruud sein.«
»Okay, ich denke aber, dass er alle Spuren beseitigt hat. Was die Wohnung angeht, hat Harry recht. Valentin ist extrem reinlich.« Noch einmal fiel ihr Blick auf den Kleiderbügel und die Unterhose. »Das heißt …«
»Ja?«, fragte Bjørn nach einer Pause.
»Verdammt!«, sagte Katrine.
»Was ist?«
»Er hat in aller Eile ein paar Sachen in eine Tasche oder einen Koffer geworfen und seine Toilettensachen aus dem Bad mitgenommen. Valentin wusste, dass wir kommen …«
Valentin öffnete. Und sah, wessen Füße er direkt vor seiner Tür gehört hatte. Das Zimmermädchen beugte sich mit der Schlüsselkarte in der Hand zu seiner Tür vor.
»Oh, sorry«, sagte sie mit einem Lächeln. »I didn’t know the room was occupied …«
»I’ll take those«, sagte er und nahm ihr die Handtücher aus den Händen. »And could you please clean again?«
»Sorry?«
»I’m not happy with the cleaning. There are fingermarks on the window glass. Please clean the room again in, let’s say, one hour?«
Ihr verblüfftes Gesicht verschwand, als er die Tür schloss.
Er legte die Handtücher auf den Tisch, setzte sich auf den Sessel und öffnete seinen Koffer.
Die Sirenen waren verstummt. Vielleicht waren sie jetzt in seiner Wohnung, Luftlinie waren es nur ein paar Kilometer bis Sinsen.
Es war weniger als eine halbe Stunde her, dass der andere angerufen und ihn gewarnt hatte, dass die Polizei seinen Aufenthaltsort und den Namen kannte, den er nutzte. Er müsse verschwinden. Valentin hatte nur die wichtigsten Sachen gepackt und das Auto stehenlassen, da es auf seinen Decknamen angemeldet war.
Er nahm die Mappe aus der Tasche und schlug sie auf. Ließ den Blick über die Bilder schweifen, die Adressen. Zum ersten Mal seit langem wurde ihm bewusst, dass er keine Ahnung hatte, was er tun sollte.
In ihm hallte die Stimme des Psychologen nach.
»… nur ein armseliger Perverser, der derart außer Kontrolle ist, dass er bald einen großen Fehler begehen wird.«
Valentin Gjertsen stand auf und zog sich aus. Nahm die Handtücher und ging ins Bad. Drehte das warme Wasser in der Dusche auf. Stand vor dem Spiegel, wartete, bis das Wasser kochend heiß war und der Spiegel beschlug. Betrachtete sein Tattoo. Hörte, wie das Telefon zu klingeln begann, und wusste, dass er das war. Die Vernunft. Die Rettung. Mit neuen Instruktionen und Befehlen. Sollte er es einfach klingeln lassen? War es an der Zeit, sich abzunabeln, den Lebensfaden abzuschneiden? An der Zeit, sich ganz zu befreien?
Er füllte die Lungen. Und schrie.