Kapitel 24
Dienstagabend
Er hieß Olsen und war der Wirt des Olsens, dabei hatte der Laden schon vor über zwanzig Jahren, als er ihn übernommen hatte, so geheißen. Für einige ein unwahrscheinlicher Zufall, aber wie unwahrscheinlich war es wirklich, wenn ständig unwahrscheinliche Dinge passieren, jeden Tag, jede Sekunde? Denn dass irgendjemand den Lottojackpot knackte, war wohl das einzige vollkommen Sichere, auch wenn der Gewinner selbst es für mehr als unwahrscheinlich, ja für ein Wunder hielt. Olsen glaubte deshalb nicht an Wunder, musste aber einräumen, dass das, was gerade passiert war, zu den Grenzfällen zählte. Denn Ulla Swart war zur Tür hereingekommen und hatte sich zu Truls Berntsen an den Tisch gesetzt, der dort schon zwanzig Minuten wartete. Olsen zweifelte keine Sekunde daran, dass es sich um ein Rendezvous handelte. Seit mehr als zwanzig Jahren stand er jetzt hinter dem Tresen und sah nervöse Männer von einem Bein aufs andere treten oder mit den Fingern auf die Tischplatte trommeln, während sie auf ihre Traumfrauen warteten. Ulla Swart war in jüngeren Jahren das hübscheste Mädchen von ganz Manglerud gewesen, während Truls Berntsen von all den Idioten, die am Manglerud Center herumgelungert und im Olsens verkehrten, der größte Verlierer gewesen war. Truls, oder Beavis, war der Schatten von Mikael Bellman gewesen, der die Beliebtheitsliste auch nicht gerade angeführt hatte. Aber Mikael hatte wenigstens gut ausgesehen und war redegewandt gewesen, so dass es ihm gelungen war, den hippen Hockeyjungs und den Motorradfreaks das Mädchen vor der Nase wegzuschnappen, auf das alle scharf gewesen waren. Inzwischen war er sogar Polizeipräsident, irgendetwas musste an diesem Mikael also wohl dran sein. Aber Truls Berntsen? Einmal Verlierer, immer Verlierer. Und deshalb grenzte das, was sich gerade in seinem Laden abspielte, an ein Wunder.
Olsen trat an den Tisch, nahm die Bestellung auf und bekam mit, worüber bei diesem unwahrscheinlichen Rendezvous geredet wurde.
»Ich war ein bisschen zu früh hier«, sagte Truls und warf einen Blick auf sein fast leeres Bierglas.
»Nein, nein, ich bin zu spät«, sagte Ulla, stellte die Handtasche ab und knöpfte sich den Mantel auf. »Ich wäre fast nicht gekommen.«
»Oh?« Truls nahm schnell einen kleinen Schluck aus seinem Glas, damit sie nicht sah, wie sehr seine Hände zitterten.
»Ja, weißt du, Truls … das ist nicht so einfach.« Sie warf ihm ein kurzes Lächeln zu und bemerkte Olsen, der lautlos hinter sie getreten war.
»Ich warte noch ein bisschen, danke«, sagte sie, und er verschwand.
Warten?, dachte Truls. Warum warten? Damit sie abhauen konnte, wenn sie es sich doch noch anders überlegte oder er ihre Erwartungen nicht erfüllte? Aber welche Erwartungen hatte sie? Sie waren hier doch zusammen groß geworden.
Ulla sah sich um. »Mein Gott, letztes Mal war ich beim Klassentreffen hier, vor zehn Jahren! Erinnerst du dich?«
»Nein«, sagte Truls. »Ich war nicht da.«
Sie senkte den Blick und fingerte am Ärmel ihres Pullovers herum.
»Der Fall, an dem ihr arbeitet … das ist eine echt unangenehme Sache. Schade, dass ihr ihn heute nicht gekriegt habt, Mikael hat mir erzählt, was passiert ist.«
»Tja«, sagte Truls. Mikael. Musste sie ihn als Erstes aus dem Hut zaubern und wie einen Schild zwischen sie stellen? War sie nur nervös, oder wusste sie nicht, was sie wollte? »Und? Was hat er dir erzählt?«
»Dass Harry Hole den Barkeeper eingespannt hat, der den Mörder vor dem ersten Mord gesehen hat. Mikael war total wütend.«
»Den Barkeeper der Jealousy Bar?«
»Ich glaube schon.«
»Eingespannt? Und für was?«
»Um in ein türkisches Bad zu gehen und dort Ausschau nach dem Mörder zu halten. Wusstest du das nicht?«
»Ich habe mich heute … auf ein paar andere Fälle konzentriert.«
»Ist ja auch egal. Schön, dich zu sehen. Ich kann zwar nicht lange bleiben, aber …«
»Lange genug, um noch ein Bier zu trinken?«
Er sah ihr Zögern. Verdammt.
»Wegen der Kinder?«, fragte er.
»Was?«
»Ist eins krank?«
Truls sah Ullas Verwirrung, dann ergriff sie aber doch den Rettungsring, den er ihr darbot. Ihnen beiden.
»Unser Kleinster kränkelt etwas.« Sie schien zu frösteln und sich in ihrem Pullover verkriechen zu wollen, als sie sich im Lokal umsah. Es waren nur vier Tische besetzt, und Truls tippte, dass sie keinen der anderen Gäste kannte, sie sah anschließend auf jeden Fall etwas entspannter aus. »Du, Truls?«
»Ja?«
»Darf ich dich etwas Seltsames fragen?«
»Klar.«
»Was willst du?«
»Wollen?« Er trank noch einen Schluck, um sich ein kurzes Time-out zu gönnen. »Jetzt, meinst du?«
»Ich meine, was wünschst du dir. Was wünschen wir uns?«
Ich wünsche mir, dir die Kleider vom Leib zu reißen, dich zu ficken und zu hören, wie du nach mehr jammerst, dachte Truls. Und anschließend wünsche ich mir, dass du an den Kühlschrank gehst, mir ein kaltes Bier holst, dich in meine Armbeuge legst und sagst, dass du mir zuliebe alle verlassen wirst. Die Kinder, Mikael, das verfluchte Haus, dessen Veranda ich betoniert habe, alles. Um mit mir, Truls Berntsen, zusammen sein zu können. Denn jetzt, nach diesem Augenblick hier, ist es mir unmöglich, mit jemand anders als mit dir zusammen zu sein. Mit dir, dir und nochmals dir. Und dann wünsche ich mir, dass wir es noch einmal machen.
»Wir wünschen uns doch, geschätzt zu werden, nicht wahr?«
Truls schluckte. »Klar.«
»Geschätzt zu werden von dem, den wir lieben. Die anderen sind nicht so wichtig, oder?«
Truls spürte, dass sein Gesicht sich zu einer Grimasse verzog, von der er nicht einmal selbst wusste, was sie aussagte.
Ulla beugte sich vor und senkte die Stimme. »Und manchmal, wenn wir das Gefühl haben, nicht geschätzt zu werden, wenn jemand auf uns herumtrampelt, haben wir das Bedürfnis zurückzutreten, nicht wahr?«
»Ja«, sagte Truls und nickte. »Dann haben wir das Bedürfnis zurückzutreten.«
»Dieses Bedürfnis verschwindet aber, sobald wir merken, dass wir doch geschätzt werden. Und weißt du was? Heute Abend hat Mikael gesagt, dass er mich liebt. In einem Nebensatz und nicht direkt, aber …« Sie biss sich auf ihre sinnliche, pralle Unterlippe, auf die Truls starrte, seit er sechzehn war. »Mehr braucht es nicht, Truls. Ist das nicht seltsam?«
»Sehr seltsam«, sagte Truls und bohrte den Blick in sein leeres Bierglas. Er fragte sich, wie er es ausdrücken sollte. Wie er sagen konnte, was er sagen wollte. Dass es manchmal nichts zu bedeuten hatte – nicht den geringsten Scheiß –, wenn jemand sagte, dass er einen liebt. Besonders dann nicht, wenn diese Worte von einem derart schwanzgesteuerten Arsch wie Mikael Bellman kamen.
»Ich glaube, ich sollte meinen Kleinen jetzt wirklich nicht länger warten lassen.«
Truls hob den Blick und sah Ulla mit tiefbesorgter Miene auf ihre Uhr schauen. »Natürlich nicht«, sagte er.
»Ich hoffe wirklich, dass wir beim nächsten Mal mehr Zeit haben.«
Truls schluckte die Frage nach dem Wann herunter. Er stand auf und versuchte, sie nicht zu lang festzuhalten, als sie ihn umarmte. Als die Tür hinter ihr zufiel, ließ er sich auf die Bank sacken und spürte die Wut in sich aufsteigen. Die schwere, zähe, schmerzhafte, angenehme Wut.
»Noch ein Bier?« Wieder hatte Olsen sich lautlos genähert.
»Ja. Oder nein. Ich muss mal telefonieren. Tut’s das da drüben noch?« Er nickte in Richtung der Kabine mit der Glastür, in der Mikael während der Abiparty, bei der alle so besoffen waren, dass niemand mehr bemerkte, was unter Brusthöhe vor sich ging, Stine Michaelsen im Stehen fickte, während Ulla am Tresen stand und für alle Bier holte.
»Na klar.«
Truls ging hinein und suchte auf seinem Handy eine Nummer heraus.
Drückte die glänzenden Tasten des alten Münztelefons.
Wartete. Er hatte ein enges Hemd angezogen, um zu betonen, dass er einen breiteren Brustkorb, größere Oberarmmuskeln und eine schmalere Taille bekommen hatte. Dass er nicht mehr so war, wie Ulla ihn in Erinnerung hatte. Aber sie hatte ihn kaum angesehen. Truls blies sich auf und spürte, dass seine Schultern die Wände der Kabine berührten, die tatsächlich noch enger war als das verfluchte Büro, in das sie ihn heute verfrachtet hatten.
Bellman. Bratt. Wyller. Hole. Sollten sie doch alle zum Teufel gehen.
»Mona Daa.«
»Berntsen. Was bezahlen Sie für die Wahrheit über die Aktion heute im türkischen Bad?«
»Haben Sie einen Aufmacher?«
»Klar. Osloer Polizei riskiert Leben eines unschuldigen Barkeepers, um Valentin zu schnappen.«
»Wir werden uns schon einig werden.«
Er wischte den beschlagenen Badezimmerspiegel ab und starrte sich an.
»Wer bist du?«, flüsterte er. »Wer bist du?«
Dann schloss er die Augen und öffnete sie wieder.
»Ich bin Alexander Dreyer. Du kannst mich Alex nennen.«
Aus dem Wohnzimmer hinter sich hörte er ein überdrehtes Lachen, dann das Geräusch einer Maschine oder eines Helikopters, gefolgt von angsterfüllten Schreien, die den Übergang von »Speak to Me« zu »Breathe« markierten. Es waren genau diese Schreie, die er reproduzieren wollte, aber keine von ihnen hatte genau so schreien wollen.
Endlich war der Spiegel wieder klar und sauber, so dass er das Tattoo sehen konnte. So viele, vor allem Frauen, hatten ihn gefragt, warum er sich ausgerechnet einen Dämon in die Brust hatte stechen lassen. Als hätte er das entschieden. Sie wussten nichts. Hatten keine Ahnung, wer er war.
»Wer bist du, Alex? Ich? Ich bin Sachbearbeiter bei Storebrand. Ich will aber nicht über das Unternehmen reden, sprechen wir lieber über dich. Was machst du denn, Tone? Willst du für mich schreien, wenn ich dir die Brustwarzen abschneide und sie aufesse?«
Er ging aus dem Bad ins Wohnzimmer und warf einen Blick auf das Bild, das neben dem weißen Schlüssel auf dem Schreibtisch lag. Tone. Sie war seit zwei Jahren bei Tinder und wohnte in der Professor Dahls gate. Arbeitete in einer Gärtnerei. Sonderlich schön war sie nicht. Etwas zu dick. Er hätte sie lieber etwas schlanker. Marte war schlank. Marte mochte er. Die Sommersprossen standen ihr.
Aber Tone? Er fuhr mit der Hand über den rotbraunen Schaft des Revolvers.
Die Pläne hatten sich nicht geändert, obwohl er heute um ein Haar aufgeflogen wäre. Er hatte den Mann nicht erkannt, der ins Dampfbad gekommen war, es war aber nicht zu übersehen gewesen, dass dieser Mann ihn erkannt hatte. Mit weit aufgerissenen Augen war er wie paralysiert in dem lichten Dampf an der Tür stehen geblieben und dann gleich wieder nach draußen getreten. Trotzdem hatte die Luft nach seiner Angst gerochen.
Der Wagen hatte wie üblich am Rand der wenig befahrenen Straße gestanden, die man über die Hintertür erreichte. Er wäre niemals regelmäßig in ein Bad gegangen, das keinen solchen Fluchtweg hatte. Oder das nicht so sauber war. Und die Schlüssel hatte er immer in der Tasche des Bademantels.
Er fragte sich, ob er Tone mit dem Revolver erschießen sollte, nachdem er sie gebissen hatte. Nur um Verwirrung zu stiften. Außerdem war er gespannt auf die Schlagzeilen. Andererseits wäre das ein Verstoß gegen die Regeln. Und der andere war wegen der Sache mit der Bedienung schon jetzt wütend.
Er drückte den Revolver gegen seinen Bauch, um den kalten Stahl zu spüren, dann legte er ihn wieder weg. Wie nah war dieser Polizist ihm gekommen? In der VG stand, dass die Polizei auf irgendeinen Gerichtsbeschluss aus den USA wartete, um Facebook zwingen zu können, die Adressen freizugeben. Von diesen Sachen verstand er nichts, er machte sich darüber aber auch keine Sorgen. Weder Alexander Dreyer noch Valentin Gjertsen kümmerte das. Seine Mutter hatte immer gesagt, dass sie ihn nach Valentino benannt habe, dem größten Lover der frühen Filmgeschichte. Da musste sie sich also an die eigene Nase fassen, dass er seinem Namen alle Ehre machte. Anfangs war er kaum ein Risiko eingegangen. Denn wenn man ein Mädchen vergewaltigte, bevor man selbst strafmündig und die Glückliche nicht minderjährig war, sollte sie klug genug sein, um zu wissen, dass sie selbst eine Anklage wegen Unzucht mit Minderjährigen riskierte, sollte das Gericht zu dem Schluss kommen, dass es keine Vergewaltigung, sondern freiwilliger Sex war. War man erst strafmündig, war das Risiko für eine Anklage deutlich höher. Außer man vergewaltigte diejenige, die für den Namen Valentino verantwortlich war. Wobei Vergewaltigung … als sie begonnen hatte, sich einzuschließen, und er ihr erklärt hatte, dass es entweder sie oder die Nachbarstochter, die Lehrerin, die Tante oder zufällige Opfer auf der Straße treffen würde, hatte sie die Tür wieder geöffnet. Die Psychologen, denen er das erzählt hatte, waren allesamt nicht bereit gewesen, ihm zu glauben … bis sie ihm dann doch irgendwann geglaubt hatten, alle.
Pink Floyd begannen jetzt »On the Run«. Nerviges Schlagzeug, pulsierende Synthesizer, ein Geräusch von laufenden Füßen. Flucht. Vor der Polizei? Vor Harry Holes Handschellen? Armseliger Perverser?
Er nahm das Glas mit der Limonade vom Tisch. Trank einen Schluck, starrte hinein und schleuderte es an die Wand. Das Glas zersplitterte, und die gelbe Flüssigkeit rann an der weißen Tapete hinunter. Er hörte Fluchen aus der Nachbarwohnung.
Dann ging er ins Schlafzimmer. Überprüfte die Fußfesseln und die Handschellen am Bettgitter. Warf einen Blick auf die Frau mit den Sommersprossen, die in seinem Bett schlief. Mit gleichmäßigem Atem. Die Drogen wirkten, wie sie sollten. Ob sie träumte? Von dem blauschwarzen Gnom? Oder tat nur er das? Einer der Psychologen hatte gesagt, dass der immer wiederkehrende Alptraum eine halbverdrängte Kindheitserinnerung war und er seinen Vater auf seiner Mutter hatte sitzen sehen. Natürlich war das Schwachsinn, er hatte seinen Vater nie gesehen, laut Aussage seiner Mutter hatte er sie einmal vergewaltigt und war dann verschwunden. Ein bisschen wie die Jungfrau Maria und der Heilige Geist. Und so war er selbst zum Erlöser geworden. Warum nicht? Er würde zurückkommen und richten.
Er streichelte Marte über die Wange. Es war lange her, dass eine echte, lebendige Frau in seinem Bett gelegen hatte. Und er zog Harrys Holes Bedienung seiner toten japanischen Freundin definitiv vor. Es war wirklich schade, dass er sie gehen lassen musste. Dass er nicht dem Willen des Dämons gehorchen konnte, sondern auf den anderen hören musste, die Stimme der Vernunft. Und diese Stimme hatte voller Zorn klare Anweisungen gegeben. Ein Wald an einer verlassenen Straße im Nordosten der Stadt.
Er ging zurück ins Wohnzimmer und setzte sich in einen Sessel. Das glatte Leder drückte sich wohlig gegen die nackte Haut, die nach der glühend heißen Dusche noch immer kribbelte. Er schaltete das neue Telefon mit der neuen Sim-Karte ein. Die Tinder-App lag gleich neben der VG-App. Er tippte zuerst auf das VG-Zeichen. Das Warten machte einen Teil der Spannung aus. War er noch immer die Top-Schlagzeile? Er konnte die B-Promis gut verstehen, die alles Erdenkliche taten, um in die Schlagzeilen zu kommen. Eine Sängerin, die Essen mit einem Clown von Fernsehkoch zubereitete, weil sie – wie sie bestimmt selbst glaubte – nicht in Vergessenheit geraten durfte.
Harry Hole starrte ihn mürrisch an.
Barkeeper von Elise Hermansen von der Polizei eingespannt.
Er tippte auf Beitrag lesen und scrollte nach unten.
Einer Quelle zufolge wurde der Barkeeper in das Dampfbad geschickt, um für die Polizei zu spionieren …
Der Typ im türkischen Bad. Ein Mann der Polizei. Harry Holes Mann.
… weil er der Einzige im Umfeld der Polizei ist, der Valentin Gjertsen mit Sicherheit identifizieren kann.
Mit einem Schmatzen löste sich die Haut vom Leder, als er aufstand. Er ging zurück ins Bad.
Starrte in den Spiegel. Wer bist du? Wer? Du bist der Einzige. Der Einzige, der das Gesicht gesehen hat und kennt, das ich jetzt sehe.
Es wurde weder der Name von dem Typen genannt noch ein Foto gezeigt. Und er hatte den Barkeeper nicht angesehen, als er an jenem Abend in die Jealousy Bar gekommen war. Weil Blickkontakt etwas ist, an das die Menschen sich erinnern. Aber jetzt hatten sie Blickkontakt gehabt. Und er erinnerte sich. Dann fuhr er mit dem Finger über das Gesicht des Dämons. Er wollte raus, musste raus.
Im Wohnzimmer kam »On the Run« zum Ende, das Lachen eines verrückten alten Mannes mündete in die gewaltige, langgezogene Explosion eines herabstürzenden Flugzeugs.
Valentin Gjertsen schloss die Augen und sah die Flammen vor sich.
»Worin besteht das Risiko, sie zu wecken?«, fragte Harry und starrte auf den Gekreuzigten über Dr. Steffens’ Kopf.
»Auf diese Frage gibt es viele richtige Antworten«, sagte Steffens. »Und eine ehrliche.«
»Und die wäre?«
»Dass wir es nicht wissen.«
»Wie Sie nicht wissen, was ihr fehlt?«
»Ja.«
»Hm. Was wissen Sie eigentlich?«
»Allgemein betrachtet, wissen wir eine ganze Menge. Aber wenn die Menschen wüssten, wie viel wir nicht wissen, hätten sie Angst, Harry. Eine unnötige Angst. Also versuchen wir, diesen Teil nicht so intensiv zu kommunizieren.«
»Wirklich?«
»Wir sagen immer, dass wir in der Reparaturbranche sind, in erster Linie sind wir aber wohl in der Trostbranche.«
»Und warum erzählen Sie mir das, Steffens, statt mich zu trösten?«
»Weil ich mir sicher bin, dass Sie längst wissen, dass Wahrheit eine Illusion ist. Als Mordermittler verkaufen auch Sie etwas anderes, als Sie vorgeben. Sie geben den Menschen das Gefühl, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird, dass Ordnung und Sicherheit herrschen. Aber es gibt keine vollkommene, keine objektive Wahrheit, wie es auch keine wahrhafte Gerechtigkeit gibt.«
»Hat sie Schmerzen?«
»Nein.«
Harry nickte. »Darf ich hier rauchen?«
»Im Arztzimmer eines öffentlichen Krankenhauses?«
»Kein schlechter Ort, wenn Rauchen wirklich so gefährlich ist, wie Sie es sagen.«
Steffens lächelte. »Ein Pfleger hat mir gesagt, dass die Putzfrauen Asche unter dem Bett von Zimmer 301 gefunden haben. Ich würde es vorziehen, wenn Sie draußen rauchen. Wie nimmt Ihr Sohn das Ganze eigentlich auf?«
Harry zuckte mit den Schultern. »Mit Trauer, Angst und Wut.«
»Ich habe ihn eben kommen sehen. Oleg, nicht wahr? Ist er im Zimmer geblieben? Wollte er nicht mit herkommen?«
»Er wollte nicht mit mir herkommen. Oder mit mir reden. Seiner Meinung nach lasse ich sie im Stich, wenn ich an den Ermittlungen teilnehme, während sie hier liegt.«
Steffens nickte. »Die Jugend ist einfach schon immer beneidenswert selbstsicher gewesen, wenn es darum geht, moralisch zu urteilen. In einem Punkt hat er aber vielleicht recht, vermehrte Polizeiaktivität ist nicht immer der effektivste Weg, um kriminelle Elemente zu bekämpfen.«
»Ach?«
»Wissen Sie, was die Kriminalität in den USA in den neunziger Jahren vermindert hat?«
Harry schüttelte den Kopf, legte die Hände auf die Armlehnen und sah zur Tür.
»Betrachten Sie das als Pause von all dem, worüber Sie sich das Hirn zermartern«, sagte Steffens. »Raten Sie.«
»Raten«, sagte Harry. »Es ist doch allgemein bekannt, dass die Kriminalität durch Bürgermeister Giulianis Nulltoleranz und vermehrte Polizeipräsenz gesunken ist.«
»Und eben das stimmt nicht. Die Kriminalität ging nämlich nicht nur in New York zurück, sondern in den ganzen USA. Es lag an den liberaleren Abtreibungsgesetzen, die in den siebziger Jahren erlassen wurden.« Steffens lehnte sich in seinem Stuhl zurück und machte eine kurze Pause, damit Harry selbst denken konnte, bevor er sein Fazit zog. »Alleinstehende, leichtfertige junge Frauen, die Sex mit mehr oder minder zufälligen Partnern haben, die am nächsten Morgen wieder verschwinden oder spätestens dann, wenn sie realisieren, dass die Frauen schwanger sind. Aus diesen Schwangerschaften sind über die Jahrhunderte hinweg Kriminelle wie am Fließband hervorgegangen. Kinder ohne Vater, ohne Grenzen und ohne Mütter, die es sich leisten können, ihnen eine Ausbildung zu finanzieren, oder das moralische Rückgrat haben, sie auf Gottes Weg zu geleiten. Diese Frauen hätten nur zu gerne ihre eigenen Föten umgebracht, wenn sie sich damit nicht strafbar gemacht hätten. Und dann, in den Siebzigern, durften sie plötzlich tun, was sie wollten. Die Auswirkungen dieses Massenmordes, der als Folge der liberalen Abtreibungsgesetze begann, wurden für die USA fünfzehn bis zwanzig Jahre später offenbar.«
»Hm. Und was sagt der Mormone dazu? Oder sind Sie das nicht mehr?«
Steffens legte lächelnd die Fingerkuppen aneinander. »Ich stütze die Kirche in vielem, Hole, aber nicht in ihrem Kampf gegen die Abtreibung, da unterstütze ich die Heiden. In den neunziger Jahren konnten normale Menschen wieder ohne Furcht vor Raubüberfällen, Vergewaltigung oder Mord über amerikanische Straßen gehen. Weil derjenige, der sie ermordet hätte, bereits aus seiner Mutter geschabt worden war, Hole. Aber ich stütze die Heiden nicht in ihrem Bestreben nach selbstbestimmter Abtreibung. Ob ein Fötus zwanzig Jahre später ein Segen oder ein Fluch für die Gesellschaft ist, sollte von der Gesellschaft entschieden werden und nicht von einer leichtfertigen Frau, die sich auf der Suche nach einem Sexpartner nachts auf den Straßen herumtreibt.«
Harry sah auf die Uhr. »Sie schlagen also staatlich regulierte Abtreibung vor?«
»Kein angenehmer Job, ich weiß. Wer das tut, muss sich schon dazu … berufen fühlen.«
»Sie machen Witze, oder?«
Steffens hielt Harrys Blick ein paar Sekunden stand. Dann lächelte er. »Natürlich. Ich glaube voll und ganz an die Unantastbarkeit des Individuums.«
Harry stand auf. »Ich gehe davon aus, dass ich informiert werde, sollten Sie sie aus dem Koma holen? Es ist bestimmt gut, wenn sie ein bekanntes Gesicht sieht, wenn sie aufwacht, oder?«
»Auch das ist eine Frage der Einschätzung, Harry. Sagen Sie Oleg, dass er bei mir vorbeikommen kann, wenn er etwas wissen will.«
Harry trat vor das Krankenhaus. Er fror in der Kälte, nahm zwei schnelle Züge von seiner Zigarette, stellte fest, dass sie nicht schmeckte, drückte sie aus und hastete wieder hinein.
»Wie geht’s Ihnen, Antonsen?«, fragte er den Polizisten, der vor Zimmer 301 Wache hielt.
»Danke«, sagte Antonsen und sah zu ihm auf. »In der VG ist ein Bild von Ihnen.«
»Ach ja?«
»Wollen Sie es sehen?« Antonsen nahm sein Handy.
»Nur wenn ich extrem gut aussehe.«
Antonsen grinste. »Dann wollen Sie es wahrscheinlich nicht sehen. Aber ich muss sagen, dass Sie da im Dezernat echt zur Sache gehen. Waffengewalt gegen einen Neunzigjährigen und ein Barkeeper als Spion?«
Harry erstarrte, die Hand auf der Klinke. »Wiederholen Sie das Letzte noch mal.«
Antonsen hielt sich das Handy vor die Nase und kniff die Augen zusammen. Er schien weitsichtig zu sein. »Barkee–«, begann er, als Harry ihm auch schon das Handy aus der Hand nahm.
Harrys Blick scannte das Display. »Verdammte Scheiße! Haben Sie ein Auto, Antonsen?«
»Nein, ich fahre Rad. Oslo ist ja nicht so groß, außerdem kann man sich so fit …«
Harry warf Antonsen das Handy in den Schoß und riss die Tür zu Zimmer 301 auf. Oleg hob den Blick. Als er sah, dass es Harry war, schaute er wieder auf sein Buch.
»Oleg. Du hast ein Auto, du musst mich nach Grünerløkka fahren. Jetzt!«
Oleg schnaubte, ohne aufzusehen. »Als ob.«
»Das war keine Frage, sondern ein Befehl. Komm!«
»Befehl?« Olegs Gesicht verzog sich zu einer wütenden Grimasse. »Du bist nicht mal mein Vater. Wofür ich dankbar bin.«
»Du hattest recht. Es ist wirklich so, dass der Dienstgrad entscheidend ist. Me, Hauptkommissar, you, Polizeianwärter. Also hör auf mit dem Gejammer und setz deinen Arsch in Bewegung!«
Oleg glotzte ihn mit offenem Mund an.
Harry drehte sich um und stürmte über den Flur voraus.
Mehmet Kalak ließ Coldplay und U2 liegen und probierte stattdessen aus, wie Ian Hunter auf seine Kundschaft wirkte.
»All the Young Dudes« dröhnte aus den Lautsprechern.
»Und?«, fragte Mehmet.
»Nicht schlecht, aber die Version von David Bowie ist besser«, sagte die Kundschaft. Genauer gesagt, Øystein Eikeland, der sich auf die andere Seite des Tresens gesetzt hatte, nachdem sein Job beendet war. Da sie die Kneipe ganz für sich hatten, schob Mehmet den Lautstärkeregler hoch.
»Daran ändert sich auch nichts, wenn du den so laut singen lässt!«, rief Øystein und hob seinen Daiquiri an.
Es war sein fünfter. Da er sie selbst gemixt hatte und als Eignungsprüfung für seine Ausbildung zum Barkeeper verstand, betrachtete er die Unkosten als Werbekosten, die steuerlich absetzbar waren. Berücksichtigte man dann noch, dass er zum Selbstkostenpreis trank, die Werbekosten aber in voller Höhe absetzbar waren, machte Mehmet durch ihn eigentlich Gewinn.
»Ich sollte Schluss machen, dabei müsste ich im Grunde noch einen mixen, damit ich auch die Miete zahlen kann«, nuschelte er.
»Du bist als Gast besser«, sagte Mehmet. »Was nicht heißt, dass du hinterm Tresen als Barkeeper nichts getaugt hast. Du bist einfach nur der beste Gast, den ich …«
»Danke, lieber Mehmet, ich …«
»… muss jetzt nach Hause gehen.«
»Soll ich?«
»Ja, sollst du.« Um zu unterstreichen, dass er es wirklich so meinte, schaltete Mehmet die Musik aus.
Øystein drehte den Kopf und öffnete den Mund, als hoffte er, dass das, was er auf dem Herzen hatte, von ganz allein über seine Lippen kam. Aber es kam nichts. Er versuchte es noch einmal, schloss den Mund wieder und nickte nur. Schließlich knöpfte er sich die Taxijacke zu, rutschte vom Barhocker und ging auf unsicheren Beinen zur Tür.
»Kein Trinkgeld?«, rief Mehmet ihm lachend nach.
»Trinkgeld is nicht abzugsfä…, abgezugsfä…, ach, vergiss es.«
Mehmet nahm Øysteins Glas und wusch es mit ein wenig Spülmittel unter dem Wasserhahn aus. Für die paar Gäste, die am Abend in der Kneipe gewesen waren, lohnte es sich nicht, die Spülmaschine anzuschmeißen.
Das Telefon, das auf dem Tresen lag, leuchtete auf. Es war Harry. Während er sich die Hände abtrocknete, um das Handy zu nehmen, wurde ihm bewusst, dass mit der Zeit etwas nicht stimmen konnte. Der Zeit, bis die Tür hinter Øystein ins Schloss gefallen war. Die Sekunden waren länger als sonst gewesen. Jemand musste die Tür für einen Moment festgehalten haben. Er hob den Blick.
»Ruhiger Abend?«, fragte der Mann, der vor dem Tresen stand.
Mehmet versuchte, Luft zu holen, um eine Antwort geben zu können, aber es gelang ihm nicht. »Ruhig ist gut«, sagte Valentin Gjertsen. Der Mann aus dem Dampfbad.
Mehmet streckte stumm seine Hand nach dem Telefon aus.
»Wenn Sie so gut wären, das Handy nicht in die Hand zu nehmen, tue ich Ihnen auch einen Gefallen.«
Mehmet hätte das Angebot sicher nicht angenommen, wäre da nicht der große Revolver auf ihn gerichtet gewesen.
»Danke, Sie werden es nicht bereuen.« Der Mann drehte sich um. »Schade, dass Sie keine Gäste haben. Für Sie, meine ich. Mir passt das ganz gut, so habe ich Ihre volle Aufmerksamkeit. Na ja, wahrscheinlich hätte ich die auch sonst, Sie sind doch sicher gespannt, was ich will. Ob ich gekommen bin, um etwas zu trinken oder Sie umzubringen. Nicht wahr?«
Mehmet nickte langsam.
»Letzteres wäre ja ein naheliegender Gedanke, da Sie die einzige lebende Person sind, die mich identifizieren kann. Das ist wirklich so, wussten Sie das? Obwohl der plastische Chirurg, der … na ja, genug davon. Egal, da Sie das Telefonat nicht angenommen haben und Sie mich der Polizei eigentlich ja nur aus Bürgerpflicht gemeldet haben, will ich Ihnen den versprochenen Gefallen auch tun. Können Sie mir folgen?«
Mehmet nickte wieder und versuchte, den unausweichlichen Gedanken, dass er sterben musste, zu verdrängen. Sein Hirn suchte krampfhaft nach anderen Möglichkeiten, kam aber immer wieder zu demselben Schluss. Er musste sterben. Wie eine Antwort auf seine Gedanken, hörte er plötzlich ein lautes Klopfen am Fenster neben der Eingangstür. Mehmet sah an Valentin vorbei. Ein paar Hände und ein bekanntes Gesicht drückten sich ans Glas, um in die Kneipe zu schauen. Komm rein, verdammt, komm rein!
»Sie rühren sich nicht vom Fleck«, sagte Valentin leise, ohne sich umzudrehen. Sein Körper verdeckte den Revolver für die Person am Fenster.
Warum zum Henker kam er nicht rein?
Die Antwort kam in der nächsten Sekunde, als es laut an der Tür klopfte.
Valentin hatte abgeschlossen.
Das Gesicht war gleich darauf wieder am Fenster, und Mehmet sah den Mann mit den Armen rudern, um Aufmerksamkeit zu erregen. Vermutlich hatte er sie noch nicht gesehen.
»Sie rühren sich nicht vom Fleck, geben ihm aber ein Zeichen, dass geschlossen ist«, sagte Valentin. In seiner Stimme war nicht einmal ein Anflug von Stress zu hören.
Mehmet stand einfach nur mit hängenden Armen da.
»Jetzt, sonst sterben Sie.«
»Das tue ich so doch auch.«
»Das können Sie nicht mit hundertprozentiger Sicherheit wissen. Aber wenn Sie nicht tun, was ich sage, verspreche ich Ihnen, Sie zu töten. Und dann auch noch die Person da draußen. Sehen Sie mich an. Ich halte meine Versprechen.«
Mehmet sah zu Valentin, schluckte und beugte sich etwas zur Seite, so dass sein Oberkörper ins Licht ragte. Als der Mann vor dem Fenster ihn sah, schüttelte Mehmet den Kopf.
Nach ein paar Sekunden kam von draußen irgendein vages Zeichen, dann war Geir Sølle weg.
Valentin beobachtete alles im Spiegel.
»So«, sagte er. »Wo waren wir? Ja, bei der guten und der schlechten Nachricht. Die schlechte ist, dass der naheliegende Gedanke, dass ich gekommen bin, um Ihnen das Leben zu nehmen, so naheliegend ist, dass er … tatsächlich der Wahrheit entspricht. Das ist – mit anderen Worten – an die hundert Prozent sicher. Ich werde Sie töten.« Valentin sah Mehmet voller Bedauern an, ehe er zu lachen begann. »Sie machen das längste Gesicht, das ich je gesehen habe! Ich kann das ja nachvollziehen, aber vergessen Sie nicht die gute Nachricht. Den Gefallen. Ich lasse Ihnen nämlich die Wahl, wie Sie sterben wollen. Folgende Alternativen stehen zur Auswahl, okay? Sind Sie bei der Sache? Gut. Also, ich kann Ihnen entweder in den Kopf schießen oder dieses Röhrchen in den Hals stechen.« Valentin hielt etwas hoch, das wie ein metallener, am Ende messerscharf zugeschnittener Strohhalm aussah.
Mehmet starrte Valentin nur an. Das Ganze war so absurd, dass er sich zu fragen begann, ob das alles nur ein Traum war, aus dem er bald aufwachen würde. Oder war das der Traum des Mannes vor ihm? Doch dann streckte dieser Valentin ihm das Röhrchen entgegen, und Mehmet wich automatisch einen Schritt zurück und hatte plötzlich das Waschbecken im Rücken.
Valentin schmatzte mit den Lippen. »Also nicht das Röhrchen?«
Das Licht brach sich auf dem Metall des Röhrchens, Mehmet nickte vorsichtig. Stiche waren immer seine größte Angst gewesen. Etwas durch die Haut in den Körper gestochen zu bekommen. Als Junge war er sogar einmal von zu Hause weggelaufen und hatte sich im Wald versteckt, als er geimpft werden sollte.
»Abgemacht ist abgemacht, also nicht das Röhrchen.« Valentin legte es auf den Tresen und nahm ein paar schwarze, antik aussehende Handschellen aus seiner Tasche, ohne dass sich der Lauf der Waffe auch nur einen Millimeter von Mehmet entfernte. »Legen Sie die Kette um die Stange am Spiegelregal, ketten Sie Ihre Handgelenke an und legen Sie den Kopf ins Waschbecken.«
»Ich …«
Mehmet sah den Schlag nicht kommen. Er registrierte lediglich das Knacken in seinem Schädel, die plötzliche Dunkelheit und dass er etwas ganz anderes sah, als er die Augen wieder öffnete. Er musste mit dem Revolver niedergeschlagen worden sein, dachte er, und was er jetzt an seiner Schläfe spürte, konnte nur die Mündung der Waffe sein.
»Das Röhrchen«, flüsterte eine Stimme an seinem Ohr. »Ihre Entscheidung.«
Mehmet nahm die merkwürdigen, schweren Handschellen, legte die Kette um die Metallstange vor dem Regal und kettete seine Handgelenke an. Etwas Warmes lief ihm über den Nasenrücken und die Oberlippe, und er schmeckte den süßen metallischen Geschmack von Blut.
»Lecker?«, fragte Valentin mit heller Stimme.
Mehmet sah nach oben und begegnete Valentins Blick im Spiegel.
»Ich mag das ja selber eigentlich gar nicht«, sagte Valentin lächelnd. »Das schmeckt doch nur nach Eisen und Prügel. Ja, Eisen und Prügel. Eigenes Blut, das geht ja noch, aber das anderer? Da schmeckt man sogar, was die gegessen haben. Apropos gegessen, hat der zum Tode Verurteilte einen letzten Wunsch? Ich frage nicht, weil ich dir noch was kochen will, bloß aus Neugier.«
Mehmet blinzelte. Ein letzter Wunsch? Die Worte wollten nicht bis zu ihm vordringen, und trotzdem folgten die Gedanken der Frage wie im Traum. Er wünschte sich, dass die Jealousy Bar eines Tages Oslos coolste Kneipe war, dass Bes¸iktas¸ Meister wurde und er zu »Ready for Love« von Paul Rodgers beerdigt wurde. Sonst noch was? Er strengte sich wirklich an, es kam ihm aber nichts mehr in den Sinn. Stattdessen spürte er, dass sich in seinem Inneren ein falsches Lachen aufbaute.
Harry sah eine Gestalt aus der Jealousy Bar hasten, als er sich näherte. Licht fiel noch durch das große Fenster auf den Bürgersteig, Musik war jedoch keine mehr zu hören. Er trat ans Fenster und sah hinein. Erblickte den Rücken einer Person hinter dem Tresen, konnte aber nicht erkennen, ob es Mehmet war. Ansonsten schien die Kneipe leer zu sein. Harry ging zur Tür und drückte die Klinke vorsichtig hinunter. Geschlossen. Eigentlich sollte doch bis Mitternacht geöffnet sein.
Harry nahm den Schlüsselbund mit dem gebrochenen Plastikherzen und steckte den Schlüssel vorsichtig ins Schloss. Zog seine Glock 17 mit der rechten Hand, während er mit der linken den Schlüssel herumdrehte und die Tür öffnete. Mit gezückter Waffe trat er ein und schob die Tür leise mit dem Fuß zu. Trotzdem drangen von der Straße Geräusche herein, so dass die Gestalt hinter dem Tresen sich aufrichtete und in den Spiegel sah.
»Polizei«, sagte Harry. »Keine Bewegung!«
»Harry Hole.« Die Gestalt trug eine Schirmmütze, so dass Harry keine Gesichtszüge erkennen konnte. Aber er brauchte kein Gesicht, denn obwohl es mehr als drei Jahre her war, dass er die helle Stimme gehört hatte, kam es ihm wie gestern vor.
»Valentin Gjertsen«, sagte Harry und hörte das Zittern in seiner eigenen Stimme.
»Endlich treffen wir uns wieder, Harry. Ich habe an dich gedacht. Hast du auch an mich gedacht?«
»Wo ist Mehmet?«
»Du bist guter Dinge, du hast an mich gedacht.« Das hohe Lachen. »Warum? Wegen all meiner Verdienste? Oder wegen der Opfer, wie ihr das nennt? Nein, warte. Nein, eher wegen deiner Verdienste. Schließlich bin ich der, den du nie gekriegt hast, nicht wahr?«
Harry antwortete nicht. Er blieb an der Tür stehen.
»Es ist nicht auszuhalten, nicht wahr? Gut! Und deshalb bist du so gut, Harry. Du bist so wie ich, du hältst es nicht aus.«
»Ich bin nicht wie Sie, Valentin.« Harry lockerte die Finger, legte sie erneut um den Schaft der Waffe und fragte sich, was ihn abhielt, näher zu treten.
»Nicht? Rücksicht auf andere Menschen hält dich nicht ab, zu tun, was du tun willst, oder? Du hast the eyes on the prize, Harry. Guck dich doch mal an. Du willst nur deine Trophäen, koste es, was es wolle. Die Leben der anderen, dein Leben, wenn du ehrlich bist, ist das alles für dich doch nur zweitrangig. Du und ich, wir sollten uns mal zusammensetzen und uns besser kennenlernen. Denn es gibt nicht so viele wie uns.«
»Halten Sie Ihren Mund, Valentin! Nehmen Sie die Hände hoch, damit ich Sie sehen kann, und sagen Sie mir, wo Mehmet ist.«
»Wenn Mehmet der Name deines Spions ist, dann muss ich mich bewegen, um ihn dir zeigen zu können. Dann wird auch die Situation klarer, in der wir uns hier befinden.«
Valentin Gjertsen trat einen Schritt zur Seite. Mehmet hing mit den Armen an der Metallstange des Regals. Sein Kopf war nach unten ins Waschbecken gebeugt, so dass die langen schwarzen Locken sein Gesicht verdeckten. Valentin hielt einen Revolver mit langem Lauf an Mehmets Hinterkopf.
»Bleib stehen, wo du bist, Harry. Wir haben hier, wie du siehst, eine ziemlich ausgeglichene Balance des Schreckens. Von da, wo du stehst, sind es bis hier vielleicht acht oder zehn Meter? Die Chancen, dass dein erster Schuss mich gleich außer Gefecht setzt, so dass ich Mehmet nicht mehr töten kann, sind ziemlich gering, oder was meinst du? Erschieße ich Mehmet zuerst, kannst du bestimmt zweimal auf mich schießen, bevor ich die Waffe auf dich richten kann. Dann stehen die Chancen für mich ziemlich schlecht. Wir haben es mit anderen Worten mit einer Lose-lose-Situation zu tun, die Frage lautet also, ob du bereit bist, deinen Spion zu opfern, um mich zu bekommen? Oder wir retten ihn, und du fängst mich später? Was meinst du?«
Harry zielte über das Korn seiner Waffe auf Valentin. Er hatte recht. Es war zu dunkel und die Distanz zu groß, um ihn sicher mit einem Kopfschuss zu treffen.
»Ich deute dein Schweigen als Einverständnis, Harry. Und da ich in der Ferne auch schon Martinshörner zu hören glaube, gehe ich davon aus, dass wir wenig Zeit haben.«
Harry hatte sie gebeten, ohne Sirenen zu kommen, aber dann wären sie länger unterwegs gewesen.
»Wenn du deine Pistole weglegst, Harry, verschwinde ich.«
Harry schüttelte den Kopf. »Du bist hier, weil er dein Gesicht gesehen hat, du wirst also erst ihn und dann mich erschießen, weil sonst auch ich dein Gesicht sehe.«
»Dann mach in den nächsten fünf Sekunden einen Vorschlag, sonst erschieße ich ihn und setze darauf, dass dein erster Schuss danebengeht, bevor ich dich treffe.«
»Behalten wir die Balance des Schreckens bei«, sagte Harry. »Aber rüsten wir ab.«
»Du willst doch nur Zeit gewinnen, denk dran, der Countdown läuft. Vier, drei …«
»Wir drehen unsere Waffen gleichzeitig um und halten sie mit der rechten Hand am Lauf, so dass Schaft und Abzug zu sehen sind.«
»Zwei …«
»Sie gehen an der Wand entlang zum Ausgang, während ich auf der anderen Seite des Raumes an den Nischen entlang in Richtung Tresen gehe.«
»Eins …«
»Der Abstand zwischen uns wird so in etwa gleich groß bleiben, und keiner von uns kann schießen, ohne dass der andere reagieren kann.«
Es war still in der Bar. Die Sirenen kamen deutlich vernehmbar immer näher. Und wenn Oleg das tat, um was er ihn gebeten hatte, Korrektur, was er ihm befohlen hatte, saß er weiterhin zwei Straßen entfernt im Auto und rührte sich nicht vom Fleck.
Das Licht wurde schlagartig dunkler, und Harry wurde klar, dass Valentin den Dimmer hinter der Bar betätigt hatte. Als er sich zum ersten Mal zu Harry umdrehte, war es so dunkel, dass Harry das Gesicht unter der Schirmmütze erneut nicht erkennen konnte.
»Wir drehen die Revolver bei drei«, sagte Valentin und streckte die Hände nach vorne aus.
»Eins, zwei … drei.«
Harry nahm den Schaft mit der linken Hand, legte die Finger der rechten um den Lauf und hob die Waffe in die Höhe. Sah Valentin dasselbe tun. Der charakteristische rotbraune Schaft der Ruger Redhawk sah wie eine kleine Flagge aus, die er am Nationalfeiertag schwenkte.
»Siehst du«, sagte Valentin. »So was schaffen nur zwei Männer, die sich wirklich verstehen. Ich mag dich, Harry. Ich mag dich wirklich. Und jetzt gehen wir los …«
Valentin ging an der Wand entlang, während Harry in Richtung der Nischen ging. Es war so still, dass Harry das Knirschen von Valentins Stiefeln hörte, als sie sich langsam mit größtmöglichem Abstand aneinander vorbeischoben. Wie zwei Gladiatoren, die genau wussten, dass der erste Ausfall den Tod bedeutete, mindestens für einen von ihnen. Harry erkannte, dass er den Tresen erreicht hatte, als er das tiefe Brummen des Kühlschranks hörte, das gleichmäßige Tropfen des Wasserhahns und das insektenartige Surren des Verstärkers. Er tastete sich im Dunkel weiter, ohne die Gestalt aus den Augen zu lassen, die sich jetzt vor den Fenstern abzeichnete. Als er hinter dem Tresen war, hörte er wieder die Geräusche der Straße, die durch die sich langsam öffnende Tür hereindrangen, gefolgt von sich rasch entfernenden Schritten.
Er nahm das Handy aus der Tasche und legte es ans Ohr.
»Hast du gehört?«
»Ja, alles«, antwortete Oleg. »Ich sage den Streifenwagen Bescheid, Beschreibung?«
»Kurze schwarze Jacke, dunkle Hose, Schirmmütze ohne Logo, aber die hat er bestimmt längst weggeworfen. Das Gesicht habe ich nicht gesehen. Er ist Richtung Thorvald Meyers gate gelaufen, also …«
»Dahin, wo am meisten los ist. Ich geb’s durch.«
Harry steckte das Handy in die Tasche und legte Mehmet die Hand auf die Schulter. Keine Reaktion.
»Mehmet …?«
Mit einem Mal waren da weder der Kühlschrank noch der Verstärker zu hören, nur das gleichmäßige Tropfen. Dann schaltete er das Licht ein. Legte die Hand in Mehmets Locken und hob seinen Kopf vorsichtig aus dem Waschbecken. Das Gesicht war blass. Zu blass.
Etwas ragte aus seinem Hals.
Es sah aus wie ein Strohhalm aus Metall.
Aus der Spitze tropfte es rot in das Waschbecken, dessen Ablauf von all dem Blut bereits verstopft war.