Kapitel 25
Dienstagnacht
Katrine Bratt sprang aus dem Auto, lief zu der Absperrung vor der Jealousy Bar und bemerkte den Mann, der rauchend an einem der Streifenwagen lehnte. Das Blaulicht fiel in regelmäßigen Abständen auf das gleichermaßen abschreckende wie anziehende Gesicht. Ein Schauer lief Katrine über den Rücken, als sie zu ihm ging.
»Es ist kalt«, sagte sie.
»Der Winter naht«, sagte Harry und blies den Zigarettenrauch nach oben, so dass er im Blaulicht leuchtete.
»Das ist Emilia.«
»Hm, die hatte ich ganz vergessen.«
»Morgen soll die hier in Oslo sein.«
»Hm.«
Katrine musterte ihn. Sie hatte gedacht, bereits alle nur erdenklichen Varianten von Harry Hole gesehen zu haben. Aber diese kannte sie nicht. So leer, so kaputt, so resigniert. Am liebsten hätte sie ihm die Wange gestreichelt und ihre Arme um ihn gelegt. Doch sie konnte nicht. Und dafür gab es so viele Gründe.
»Was ist drinnen passiert?«
»Valentin hatte eine Ruger Redhawk und hat mich glauben lassen, dass ich um ein Menschenleben verhandele. Aber Mehmet war bereits tot, als ich zur Tür hereinkam. Er hat ihm ein Metallrohr in die Halsschlagader gestochen und ihn ausbluten lassen wie einen scheiß Fisch. Nur weil er … weil ich …« Harry begann zu blinzeln und sprach nicht weiter, scheinbar, um einen Tabakfaden von der Zunge zu nehmen.
Katrine wusste nicht, was sie sagen sollte, und sagte nichts. Stattdessen fiel ihr Blick auf den wohlbekannten schwarzlackierten Volvo Amazon mit dem Rallyestreifen, der auf der anderen Straßenseite parkte. Bjørn stieg aus. Katrine spürte, wie sich ihr Herz zusammenzog, als diese Lien auf der Beifahrerseite ausstieg. Was machte Bjørns Chefin hier? An einem Tatort? Hatte Bjørn ihr ein romantisches Stelldichein an einem Mordschauplatz mit all seinen Sehenswürdigkeiten versprochen? Zum Teufel! Bjørn hatte sie bemerkt. Sie kamen auf sie zu.
»Ich gehe rein, wir reden später«, sagte sie, schlüpfte unter der Absperrung hindurch und ging schnell zur Tür unter dem Schild mit dem gebrochenen Plastikherzen.
»Da bist du«, sagte Bjørn. »Ich habe dich heute Abend zu erreichen versucht.«
»Ich war«, Harry nahm einen Zug von seiner Zigarette, »ein bisschen beschäftigt.«
»Das ist Berna Lien, die neue Chefin der Kriminaltechnik. Berna, Harry Hole.«
»Ich habe schon viel von Ihnen gehört«, sagte die Frau mit einem Lächeln.
»Und ich von Ihnen nichts«, sagte Harry. »Sind Sie gut?«
Sie sah sichtlich verunsichert zu Bjørn. »Gut?«
»Valentin Gjertsen ist gut«, sagte Harry. »Und ich bin nicht gut genug und hoffe deshalb, dass andere auf unserer Seite besser sind, sonst geht dieses Blutbad immer weiter.«
»Ich habe vielleicht etwas«, sagte Bjørn.
»Lass hören.«
»Deshalb habe ich dich zu erreichen versucht. Der Mantel von Valentin. Beim Aufschneiden habe ich wirklich ein paar Dinge im Futter gefunden. Eine Zehn-Øre-Münze und zwei Zettel. Da der Mantel in der Waschmaschine gewaschen wurde, war darauf keine Druckerschwärze mehr zu erkennen, einer der Zettel war aber gefaltet, und darauf war noch was zu lesen. Nicht viel, aber es war zu erkennen, dass es sich um eine Quittung von einem bestimmten DNB-Bankautomaten in der Oslo City am Hauptbahnhof handelt. Das würde dazu passen, dass er nie die Kreditkarte benutzt, sondern immer alles bar bezahlt. Leider können wir weder die Kontonummer noch die Bankleitzahl oder die Uhrzeit erkennen, aber Teile des Datums sind lesbar.«
»Viel?«
»Genug, um zu wissen, dass es dieses Jahr war, im August, außerdem haben wir Teile der letzten Ziffer für den Tag. Dabei kann es sich nur um eine Eins handeln.«
»Also 1, 11, 21, oder 31?«
»Vier mögliche Tage … Ich habe eine Frau bei Nokas erreicht, die sich um die Bankautomaten der DNB-Bank kümmert. Sie hat mir erklärt, dass die Daten der Überwachungskameras drei Monate gespeichert werden, diese Aufnahmen existieren also noch. Die Automaten am Hauptbahnhof gehören zu den meistbenutzten in ganz Norwegen. Offiziell wegen all der Läden ringsherum.«
»Aber?«
»Heute akzeptiert doch jeder Karten. Außer …?«
»Hm, die Drogendealer am Bahnhof und entlang des Flusses.«
»An den beliebtesten Automaten sind das mehr als zweihundert Transaktionen pro Tag«, sagte Bjørn.
»Vier Tage, also insgesamt knapp tausend«, sagte Berna Lien, die ganz bei der Sache war. Harry trat die qualmende Zigarette aus.
»Morgen früh bekommen wir die Filme, und mit effektivem Spulen und ein paar Pausen können wir pro Minute bestimmt zwei verschiedene Gesichter überprüfen. Das macht dann sieben, acht Stunden, vielleicht weniger. Wenn wir Valentin identifizieren können, müssen wir nur noch den Zeitpunkt auf dem Film mit der dazu registrierten Auszahlung abgleichen.«
»Und schwupps, haben wir Valentin Gjertsens neue Identität«, unterbrach sie Berna Lien, die stolz auf ihre Abteilung zu sein schien. »Was meinen Sie, Hole?«
»Ich meine, Frau Lien, dass es schade ist, dass derjenige, der Valentin hätte identifizieren können, da drinnen liegt, mit dem Kopf im Waschbecken und ohne Puls.« Harry knöpfte seinen Mantel zu. »Aber danke fürs Kommen.«
Berna Lien sah beleidigt von Harry zu Bjørn, der sich räusperte. »Ich dachte, du hättest Valentin direkt gegenübergestanden?«
Harry schüttelte den Kopf. »Habe ich, aber sein neues Gesicht habe ich nicht gesehen.«
Bjørn nickte langsam, ohne Harry aus den Augen zu lassen. »Verstehe. Schade. Sehr schade.«
»Hm.« Harry senkte den Kopf und starrte auf die ausgetretene Kippe vor seiner Schuhspitze.
»Tja, dann gehen wir mal rein und sehen uns die Sache an.«
»Viel Spaß.«
Er folgte ihnen mit dem Blick. Die Pressefotografen waren bereits da, und auch die ersten Reporter trafen langsam ein. Vielleicht wussten sie etwas, vielleicht auch nicht, vielleicht fehlte ihnen der Mut, auf jeden Fall ließen sie Harry in Frieden.
Acht Stunden.
Acht Stunden von morgen früh an.
Vielleicht hatte Valentin dann schon die nächste umgebracht.
Verdammte Scheiße!
»Bjørn!«, rief Harry, als sein Kollege gerade die Hand auf die Klinke der Jealousy Bar legte.
»Harry?«, sagte Ståle Aune, der in der Türöffnung stand, »Bjørn?«
»Tut mir leid, dass wir so spät noch klingeln«, sagte Harry. »Können wir kurz reinkommen?«
»Natürlich.« Aune hielt die Tür auf, und Harry und Bjørn traten ein. Eine kleine Frau, schlanker als ihr Mann, aber mit ebenso grauen Haaren, kam mit schnellen, energischen Schritten auf sie zu. »Harry!«, sang sie. »Ich habe dich schon an der Stimme erkannt. Es ist wirklich viel zu lange her, dass du hier warst. Wie geht es Rakel, weißt du mehr?«
Harry schüttelte den Kopf und ließ sich von Ingrid schmatzend auf die Wangen küssen. »Kaffee? Oder ist es dafür zu spät? Grüner Tee?«
Bjørn und Harry antworteten mit Ja und Nein, und Ingrid verschwand in der Küche.
Sie gingen ins Wohnzimmer und nahmen in den tiefen Sesseln Platz. An den Wänden standen Regale mit unzähligen Büchern. Aune hatte wirklich alles, von Reisebüchern über alte Atlanten bis hin zu Lyrik, Comics und hochwissenschaftlicher Fachliteratur. Das meiste aber waren Romane.
»Siehst du, ich lese das Buch, das ich von dir bekommen habe«, sagte Ståle, hob das dünne Buch an, das aufgeschlagen auf dem Tisch neben dem Sessel lag, und zeigte es Bjørn. »Édouard Levé. Selbstmord. Das habe ich von Harry zum Sechzigsten bekommen. Er fand wohl, dass es an der Zeit ist.«
Bjørn und Harry lächelten. Offensichtlich gezwungen, denn Ståle runzelte die Stirn. »Stimmt was nicht, Jungs?«
Harry räusperte sich. »Valentin hat heute Abend jemanden umgebracht.«
»Das schmerzt mich zu hören«, sagte Ståle und schüttelte den Kopf.
»Und wir haben keinen Grund zur Annahme, dass er damit aufhören will.«
»Nein, das habt ihr wohl nicht«, stellte der Psychologe fest.
»Deshalb sind wir jetzt hier, und das ist nicht einfach für mich, Ståle.«
Ståle Aune seufzte. »Hallstein Smith funktioniert nicht, und ihr wollt, dass ich übernehme?«
»Nein, wir brauchen …« Harry hielt inne, als Ingrid hereinkam und das Tablett zwischen den schweigenden Männern auf dem Couchtisch abstellte.
»Klingt nach Schweigepflicht«, sagte sie. »Wir reden ein andermal, Harry. Grüß Oleg von mir und sag, dass wir an Rakel denken.«
»Wir brauchen jemanden, der Valentin Gjertsen identifizieren kann«, sagte Harry, als sie gegangen war. »Und die letzte lebende Person, von der wir wissen, dass sie ihn gesehen hat …«
Harry machte die Kunstpause nicht, um die Spannung zu erhöhen, sondern damit Ståle die Sekunde bekam, die das Hirn braucht, um seine blitzschnellen, nahezu unbewussten und trotzdem unangenehm präzisen Schlussfolgerungen zu ziehen. Wobei es eigentlich egal war. Wie bei einem Boxer, der weiß, dass er getroffen wird, und für den Bruchteil einer Sekunde die Chance bekommt, sein Gewicht etwas nach hinten zu verlagern, um nicht auch noch in den Schlag zu fallen.
»… ist Aurora.«
In der Stille, die folgte, hörte Harry das Rascheln der Seiten, als Ståle das aufgeschlagene Buch aus den Händen rutschte.
»Was sagst du da, Harry?«
»Am Tag von Rakels und meiner Hochzeit, bei der ihr ja wart, hat Valentin Aurora bei dem Handballturnier, an dem sie teilgenommen hat, aufgesucht.«
Ståle blinzelte ratlos. »Sie … hat …«
Harry wartete, damit die Neuigkeit verarbeitet werden konnte.
»Hat er sie angefasst? Ihr etwas angetan?«
Harry hielt Ståles Blick stand, antwortete aber nicht, wartete. Er sah ihn die Informationen zusammensetzen. Sah ihn die letzten drei Jahre in neuem Licht sehen. Ein Licht, das alle Fragen beantwortete.
»Ja«, flüsterte Ståle und schnitt eine schmerzerfüllte Grimasse. Er nahm die Brille ab. »Ja, natürlich hat er das. Wie blind ich gewesen bin.« Er starrte in die Luft. »Und wie habt ihr davon erfahren?«
»Aurora war gestern bei mir und hat mir alles erzählt«, sagte Harry.
Ståle Aunes Blick glitt wie in Zeitlupe zurück zu Harry. »Du … weißt das seit gestern und hast mir nichts gesagt?«
»Das musste ich ihr versprechen.«
Ståle Aunes Stimme wurde lauter und wieder leiser. »Ein fünfzehnjähriges Mädchen, das einen solchen Übergriff erlebt hat, braucht alle nur erdenkliche Hilfe, Harry. Das weißt du ganz genau und behältst es trotzdem für dich?«
»Ja.«
»Aber in Gottes Namen, warum, Harry?«
»Weil Valentin ihr damit gedroht hat, dich zu töten, sollte sie dir sagen, was passiert ist.«
»Mich?« Ein Schluchzen kam über Ståles Lippen. »Mich? Das spielt doch keine Rolle! Ich bin ein alter Mann mit einem schlechten Herzen, Harry. Sie ist ein junges Mädchen und hat noch ihr ganzes Leben vor sich!«
»Es spielt eine Rolle, du bist derjenige, den sie auf dieser Welt am meisten liebt, und ich habe es ihr versprochen!«
Ståle Aune setzte die Brille wieder auf und richtete zitternd seinen Zeigefinger auf Harry. »Ja, du hast es versprochen! Und dieses Versprechen so lange gehalten, wie es für dich nichts zu bedeuten hatte! Aber jetzt, da dir klarwird, dass du sie brauchst, um noch einen Harry-Hole-Fall zu lösen, hat dieses Versprechen keine Bedeutung mehr für dich.«
Harry protestierte nicht.
»Raus, Harry! Du bist nicht länger ein Freund des Hauses und hier nicht mehr gern gesehen!«
»Es eilt, Ståle.«
»Raus, auf der Stelle!« Ståle Aune war aufgestanden.
»Wir brauchen sie.«
»Ich rufe die Polizei! Die anständige Polizei.«
Harry hob den Blick, wusste, dass es nichts nützte, dass sie warten, den Dingen Zeit geben mussten und nur darauf hoffen konnten, dass Ståle Aune bis zum nächsten Tag das große Ganze sah.
Er nickte. Drückte sich aus dem Sessel hoch.
Harry sah das blasse, reglose Gesicht von Ingrid in der Türöffnung, als er an der Küche vorbeiging.
Er band sich im Flur die Schuhe und wollte gerade gehen, als er eine dünne Stimme hörte.
»Harry?«
Er drehte sich um und erkannte erst nicht, woher die Stimme kam. Dann kam sie aus dem Dunkel der Treppe langsam nach unten ins Licht. Sie trug einen viel zu großen, gestreiften Pyjama. Vielleicht von ihrem Vater, dachte Harry.
»Tut mir leid«, sagte Harry. »Ich musste das tun.«
»Ich weiß«, sagte Aurora. »Im Internet steht, dass der Tote Mehmet heißt. Und ich habe euch gehört.«
Ståle kam sofort angerannt, er ruderte wild mit den Armen, Tränen quollen ihm aus den Augen. »Aurora! Du darfst nicht …!«
Ihm versagte die Stimme.
»Papa«, sagte Aurora und setzte sich ruhig auf eine Treppenstufe über ihnen. »Ich will helfen.«