Kapitel 29
Mittwochabend
Harry öffnete die Augen und starrte ins Dunkel.
Wo war er? Was war geschehen? Wie lange war er weg gewesen? Sein Kopf fühlte sich an, als wäre er mit einer Eisenstange bearbeitet worden. Monoton hämmerte sein Herzschlag gegen sein Trommelfell. Das Einzige, woran er sich erinnern konnte, war, dass er eingesperrt war. Und soweit er das beurteilen konnte, auf kalten Fliesen lag. Kalt wie in einem Kühlschrank. Unter ihm war etwas Nasses, Zähes. Er hob die Hand und starrte sie an. War das Blut?
Dann wurde Harry ganz langsam bewusst, dass es nicht sein Herzschlag war, der gegen das Trommelfell wummerte.
Es war eine Bassgitarre.
Kaiser Chiefs? Wahrscheinlich. Auf jeden Fall eine dieser gehypten englischen Bands, die er eigentlich vergessen hatte. Sie waren nicht schlecht, ihnen fehlte aber das Besondere, weshalb sie in der großen Suppe mit all den Sachen gelandet waren, die er vor mehr als einem und weniger als zwei Jahrzehnten gehört hatte und die sich in seiner Erinnerung nicht wirklich festsetzen wollten. Während er sich an jeden Ton und jede Textzeile der bescheuertsten Achtziger-Songs erinnerte, war die Zeit danach beinahe wie ausgelöscht. Genau wie die Zeit von gestern bis jetzt. Nichts. Nur dieser hartnäckige Bass. Oder der Herzschlag. Oder hämmerte wer an die Tür?
Harry schloss die Augen, roch an seiner Hand und hoffte, dass es weder Blut noch Kotze oder Pisse war.
Der Bass begann unrhythmisch zu werden.
Es war die Tür.
»Wir haben geschlossen!«, brüllte Harry und bereute es gleich, weil sein Schädel zu platzen drohte.
Das Lied ging zu Ende, und The Smiths übernahmen. Er musste sein Telefon mit der Anlage gekoppelt haben, als er Bad Company leid geworden war. »There Is a Light That Never Goes Out.« Und wenn schon. Aber das Hämmern an der Tür ging weiter. Harry presste sich die Hände auf die Ohren. Als das Lied zu Ende ging und nur noch die Streicher spielten, hörte er eine Stimme seinen Namen rufen. Und da kaum jemand mitbekommen hatte, dass der neue Inhaber der Jealousy Bar jetzt Harry hieß, und er die Stimme kannte, streckte er eine Hand nach oben, bekam den Rand des Tresens zu fassen und zog sich hoch. Erst nur bis auf die Knie. Dann in eine etwas gebeugte Haltung, die aber schon etwas mit Stehen zu tun haben musste, weil seine Schuhsohlen sich jetzt in die Pampe auf dem Boden drückten. Er sah die beiden leeren Jim-Beam-Flaschen, die offen auf dem Tresen lagen, und ihm wurde klar, dass er versucht hatte, sich mit seinem eigenen Bourbon zu marinieren.
Das Gesicht vor dem Fenster schien allein zu sein. Er fuhr sich mit dem gestreckten Zeigefinger über den Hals, um zu signalisieren, dass er geschlossen hatte, bekam als Antwort aber nur einen gestreckten Mittelfinger. Das Hämmern ging jetzt an der Scheibe weiter und schnitt sich so unmittelbar in die weichen Teile seines Gehirns, dass Harry beschloss, die Tür zu öffnen. Er ließ den Tresen los, machte einen ersten Schritt und fiel hin. War es denn möglich, dass beide Füße eingeschlafen waren? Er rappelte sich wieder hoch und schaffte es mit Hilfe von Stühlen und Tischen bis zur Tür.
»Mein Gott!«, stöhnte Katrine, als er öffnete. »Du bist voll!«
»Möglich«, sagte Harry. »Wünschte mir aber, voller zu sein.«
»Wir suchen dich überall, du verfluchter Idiot! Warst du die ganze Zeit hier?«
»Ich weiß nicht, was du mit ganzer Zeit meinst, aber auf dem Tresen liegen zwei leere Flaschen. Wollen wir hoffen, dass ich mir Zeit genommen habe, die zu genießen.«
»Wir haben tausendmal angerufen!«
»Hm, vielleicht habe ich das Telefon im Flugmodus. Coole Playlist, hör mal! Die wütende Tante da ist Martha Wainwright. ›Bloody Mother Fucking Asshole‹, erinnert dich das an jemanden?«
»Verdammt, Harry, was denkst du dir eigentlich?«
»Denken … ich bin … im Flugmodus … siehst du doch.«
Sie packte ihn am Kragen seiner Jacke. »Da draußen werden Menschen ermordet, Harry! Und du stehst hier … und versuchst, witzig zu sein?«
»Ich versuche jeden verdammten Tag, witzig zu sein, Katrine. Und weißt du was, das macht niemanden gesünder oder kränker. Und es scheint auch keinen Einfluss auf die Mordstatistik zu haben.«
»Harry, Harry …«
Er schwankte, und ihm wurde bewusst, dass sie ihre Hände wohl nur an seinen Kragen gelegt hatte, um ihn auf den Beinen zu halten.
»Wir haben ihn verloren, Harry. Wir brauchen dich.«
»Okay. Aber lass mich erst kurz einen Drink nehmen.«
»Harry!«
»Du, deine Stimme ist … verdammt laut!«
»Wir gehen jetzt. Mein Wagen steht draußen.«
»In meiner Bar ist Happy Hour, und ich bin gerade nicht in der Lage zu arbeiten, Katrine.«
»Du sollst auch nicht arbeiten, du sollst nach Hause und wieder nüchtern werden. Oleg wartet auf dich.«
»Oleg?«
»Wir haben ihn gebeten, euer Haus oben am Holmenkollen aufzuschließen. Er hatte eine solche Angst vor dem, was er dort finden könnte, dass er Bjørn gebeten hat vorzugehen.«
Harry schloss die Augen. Verdammt. Verdammte Scheiße. »Ich kann nicht, Katrine.«
»Du kannst was nicht?«
»Ruf Oleg an und sag ihm, dass ich okay bin. Und dass er lieber zu seiner Mutter gehen soll.«
»Er war wirklich ziemlich eindeutig. Er will warten, bis du kommst, Harry!«
»Ich will nicht, dass er mich so sieht. Und du kannst mich so auch nicht brauchen. Und darüber diskutiere ich nicht.« Er legte die Hand an die Tür. »Geh jetzt!«
»Gehen? Und dich hierlassen?«
»Ich komme schon klar. Von jetzt ab nur noch Wasser. Und Coldplay.«
Katrine schüttelte den Kopf. »Du kommst mit heim.«
»Ich gehe nicht nach Hause.«
»Nicht zu dir.«