Kapitel 6

Freitagmorgen

Harry wachte auf. Das Echo seines Traumes, eines Schreis, erstarb. Er zündete sich eine Zigarette an und versuchte heraus­zufinden, was das für ein Aufwachen gewesen war. Es gab fünf verschiedene Arten. Da war zunächst das Job-Aufwachen. Viele Jahre war das die beste Art gewesen, wenn er nahtlos in den Fall geglitten war, in dem er ermittelte. Manchmal hatten der Schlaf und die Träume die Perspektive etwas verschoben, und er hatte im Bett liegend jeden Aspekt des Falls von diesem neuen Blickwinkel aus betrachtet. Mit etwas Glück hatte er so Neues entdeckt, einen kleinen Teil der dunklen Seite des Mondes. Nicht weil der Mond sich bewegt, sondern weil er seinen Standpunkt verändert hatte.

Die zweite Art war das Allein-Aufwachen, geprägt von dem Bewusstsein, allein im Bett zu sein, allein im Leben, allein in der Welt. Dieses Aufwachen erfüllte ihn mal mit einem süßen Gefühl von Freiheit, dann wieder mit einer Melancholie, die man vielleicht auch Einsamkeit nennen konnte. Möglicherweise zeigte es lediglich in einem Augenblick von Klarheit, was das Leben des Menschen eigentlich war, nämlich eine Reise, die mit dem Gefühl der Verbundenheit begann, der sicheren, direkten Verbindung über die Nabelschnur, und bis zum Tod führte, der uns endgültig von allem und jedem trennte. Ein kurzer Moment der Weitsicht im Augenblick des Aufwachens, bevor unsere Schutzwälle wieder an Ort und Stelle sind und unsere tröstenden Illusionen wieder greifen und uns das Leben erträglich erscheinen lassen.

Dann gab es noch das Angst-Aufwachen. Das kam in der Regel, wenn er länger als drei Tage am Stück besoffen gewesen war. Die Angst war unterschiedlich intensiv, kam aber immer schlag­artig. Selten durch eine konkrete äußere Gefahr oder Bedrohung ausgelöst, mehr eine Panik, überhaupt aufzuwachen, am Leben zu sein, hier und jetzt. Manchmal spürte er aber auch so etwas wie die Angst, nie wieder Angst zu haben. Und endgültig und unumkehrbar verrückt zu werden.

Die vierte Art, das Es-ist-jemand-hier-Aufwachen, hatte Ähnlichkeit mit dem Angst-Aufwachen. Es setzte das Hirn in zwei Richtungen in Gang. Rückwärts: Wie zum Henker konnte das passieren? Und vorwärts: Wie komm ich aus der Nummer raus? Manchmal legte sich diese Fight-or-flight-Reaktion erst nach ­einiger Zeit, wenn es schon nicht mehr um das »Aufwachen« ging.

Und schließlich gab es noch die fünfte Art. Ein ganz neues Aufwachen für Harry Hole. Das Zufriedenheits-Aufwachen. Zu Beginn war er vollkommen überrascht gewesen, dass es möglich war, glücklich aufzuwachen. Er war automatisch alle Parameter durchgegangen, aus denen dieses idiotische »Glück« tatsächlich bestand, und ob es nicht nur das Echo eines ebenso naiven wie angenehmen Traums war.

In dieser Nacht hatte er jedenfalls keinen angenehmen Traum gehabt. Der Schrei, dessen Echo er gehört hatte, war der Schrei des Dämons gewesen, das Gesicht auf der Netzhaut des Mörders, den sie nicht gefasst hatten.

Trotzdem hatte Harry Hole das Gefühl, glücklich aufgewacht zu sein. Oder? Doch. Nachdem diese Art des Aufwachens sich häufte und Morgen für Morgen wiederholte, war er langsam zu der Erkenntnis gelangt, dass er wohl schlicht und ergreifend ein zufriedener Mann war, der mit Ende vierzig doch noch das Glück gefunden hatte und sich in diesem neueroberten Land tatsächlich hatte niederlassen können. Wenigstens vorläufig.

Die Hauptursache dafür lag weniger als eine Armlänge von ihm entfernt und atmete ruhig und gleichmäßig. Ihre Haare lagen wie die Strahlen einer rabenschwarzen Sonne auf dem Kopfkissen.

Was ist Glück? Harry hatte in einem Artikel über Glücksforschung gelesen, dass es ausgehend vom Glücksgehalt des Blutes, dem Serotoninspiegel, nur wenig äußere Ereignisse gab, die den Pegel über einen längeren Zeitraum reduzieren oder anheben konnten. Man kann einen Fuß verlieren, die Nachricht erhalten, dass man unfruchtbar ist, oder zusehen müssen, wie das eigene Haus abbrennt. Der Serotoninspiegel sinkt durch derartige Schicksalsschläge spontan ab, sechs Monate später ist man aber wieder so glücklich oder unglücklich wie vorher. Ähnlich verhält es sich, wenn man sich ein noch größeres Haus oder ein teureres Auto kauft.

Forscher hatten herausgefunden, dass es darüber hinaus bestimmte Dinge gab, die für das Empfinden von Glück entscheidend waren. Eine der wichtigsten Ursachen war eine gute Ehe.

Und genau die führte er. Es klang so banal, dass er lachen musste, wenn er das manchmal den wenigen Menschen gegenüber sagte, die er als seine Freunde bezeichnete oder mit denen er Umgang hatte: »Meine Frau und ich führen eine glückliche Ehe.«

Ja, er hielt das Glück in seiner hohlen Hand. Wenn er könnte, würde er die drei Jahre seit ihrer Hochzeit gerne in einem Copy-and-paste-Verfahren vervielfältigen und sie wieder und wieder leben. Aber so etwas hatte man nicht in der Hand, und vielleicht war das der Grund für die leichte Unruhe, die er trotz allem spürte? Die Zeit ließ sich nicht aufhalten, und Dinge ändern sich. Das Leben war wie der Rauch seiner Zigarette, der sich selbst in einem geschlossenen Raum bewegte und sich beständig auf nicht vor­hersehbare Weise veränderte. Da sein Leben jetzt perfekt war, würde jede Veränderung eine Verschlechterung bedeuten. Ja, so musste es sein. Glücklich, wie er war, hatte er das Gefühl, über dünnes Eis zu laufen, er wollte vorbereitet sein, wenn es brach, und so schnell wie möglich das kalte Wasser wieder verlassen. Deshalb hatte er auch damit begonnen, seine innere Uhr so zu programmieren, dass er früher als nötig aufwachte. Wie heute, wo er die erste Vorlesung zum Thema Mordermittlungen erst um elf Uhr hatte. Er wollte wach sein, einfach daliegen und das ungewohnte Glück spüren, solange es dauerte. Er verdrängte das Bild des Täters, den sie nicht gefasst hatten. Es war nicht mehr Harrys Verantwortung, nicht mehr Harrys Revier. Und der Mann mit dem Dämonengesicht tauchte auch immer seltener in seinen Träumen auf.

Harry stieg, so leise er konnte, aus dem Bett, obwohl ihr Atem nicht mehr so gleichmäßig ging und er den Verdacht hatte, dass sie sich schlafend stellte, um den Moment nicht kaputtzumachen. Er zog sich die Hose an, ging nach unten ins Erdgeschoss, steckte ihre Lieblingskapsel in die Espressomaschine, goss Wasser in den Tank und öffnete für sich selbst das kleine Glas mit dem Pulverkaffee. Er kaufte kleine Gläser, weil frisch geöffneter Pulverkaffee so viel besser schmeckte. Dann setzte er Wasser auf, schob seine nackten Füße in ein Paar Schuhe und ging nach draußen auf die Treppe.

Er sog die scharfe Herbstluft ein. Die Nächte begannen hier oben in Besserud am Holmenkollenveien bereits kalt zu werden. Er ließ seinen Blick über die Stadt und den Fjord schweifen, auf dem blauen Wasser zeichneten sich nur noch wenige Segelboote als kleine weiße Dreiecke ab. In zwei Monaten, oder weniger, würde hier oben der erste Schnee fallen. Aber das war in Ordnung, das große, braun gebeizte Holzhaus war für den Winter gebaut, nicht für den Sommer.

Er zündete sich die zweite Zigarette des Tages an und ging die steile, geschotterte Einfahrt hinunter. Hob die Füße bei jedem Schritt an, um nicht auf die losen Schnürsenkel zu treten. Er hätte eine Jacke anziehen können oder wenigstens ein T-Shirt, aber zu frieren war ein Luxus, den man sich leisten konnte, wenn man jederzeit in ein warmes Zuhause zurückkehren konnte. Er blieb am Briefkasten stehen und nahm die Aftenposten heraus.

»Guten Morgen, Herr Nachbar.«

Harry hatte den Tesla nicht aus der asphaltierten Einfahrt des Nachbarhauses kommen hören. Das Fenster auf der Fahrerseite stand offen, und dahinter saß die blonde Frau Syvertsen, die immer wie aus dem Ei gepellt aussah. Sie war für Harry, der aus einfachen Verhältnissen im Osten der Stadt stammte und noch nicht lange hier oben wohnte, der Inbegriff der klassischen Holmenkollenfrau. Hausfrau mit zwei Kindern und zwei Haushälterinnen, ohne Ambitionen, selbst zu arbeiten, obwohl der norwegische Staat ihr ein fünfjähriges Universitätsstudium finanziert hatte. Was andere als Freizeit bezeichneten, war für sie Arbeit: sich fit zu halten (Harry sah nur die Trainingsjacke, wusste aber, dass sie darunter einen enganliegenden Gymnastikanzug trug und für ihre knapp vierzig Jahre noch verdammt gut aussah), alle Termine zu managen (also immer zu wissen, welches Hausmädchen sich gerade um die Kinder kümmerte und wann und wohin die Familie in die Ferien fuhr: Sollte es das Haus in Nizza sein, die Skihütte im Hemsedal oder das Sommerhaus im Sørland?) oder ihr Netzwerk zu pflegen (Lunch mit Freundinnen, Essen mit Verwandten und potentiell wichtigen Kontakten). Ihr wichtigster Job war bereits abgehakt: sich einen Ehemann angeln, der genug Geld hatte, um ihr diese sogenannte Arbeit zu finanzieren.

In diesem Punkt hatte Rakel einen fundamentalen Fehler gemacht. Sie war in der großen Holzvilla in Besserud aufgewachsen und hatte früh gelernt, welche Manöver im Leben nötig ­waren, sie war klug und attraktiv genug, um all ihre Ziele zu erreichen, hatte sich aber trotzdem für einen alkoholabhängigen Mordermittler mit Niedriglohn entschieden, der – zurzeit nüchtern – für ein noch geringeres Gehalt an der Polizeihochschule unterrichtete.

»Sie sollten aufhören zu rauchen«, sagte Frau Syvertsen und musterte ihn von oben bis unten. »Sonst habe ich eigentlich nichts auszusetzen. Wo trainieren Sie?«

»Im Keller«, sagte Harry.

»Sie haben sich einen eigenen Fitnessraum einrichten lassen? Wer ist Ihr PT?«

»Ich«, sagte Harry, nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und betrachtete sein Spiegelbild im Fenster der Rücksitze. Schlank, aber nicht mehr so mager wie noch vor ein paar Jahren. Drei Kilo mehr Muskelmasse. Zwei Kilo angenehmere Tage. Und ein gesünderes Leben. Aber das Gesicht, das ihn aus dem Fenster ansah, belegte, dass es nicht immer so gewesen war. Das Delta der dünnen roten Adern in den Augenwinkeln und dicht unter seiner Haut erzählte von einer Vergangenheit, geprägt von Alkohol, Chaos, Schlaflosigkeit und schlechten Gewohnheiten. Die Narbe, die vom Ohr zum Mundwinkel verlief, erzählte von dramatischen Situationen und mangelnder Impulskontrolle. Und die Tatsache, dass er die Zigarette zwischen Zeigefinger und Ehering am Ringfinger hielt, weil ihm der Mittelfinger fehlte, belegte, dass Mord und Totschlag Spuren in Fleisch und Blut hinterließen.

Sein Blick fiel auf die Zeitung. Das Wort »Mord« lief quer über die Titelseite. Und für einen Augenblick war das Echo des Schreis wieder zu hören.

»Ich habe auch schon darüber nachgedacht, mir einen Fitnessraum einzurichten«, sagte Frau Syvertsen. »Können Sie nächste Woche nicht mal vormittags vorbeikommen und mir ein paar Tips geben?«

»Eine Matte, ein paar Hanteln und eine Reckstange«, sagte Harry. »Andere Tips kann ich Ihnen nicht geben.«

Frau Syvertsen lächelte breit und nickte vielsagend. »Einen schönen Tag noch, Harry.«

Der Tesla rollte lautlos davon, und er ging zurück Richtung Haus. Er blieb im Schatten der großen Fichten stehen und sah es sich an. Ein solider Bau. Nicht uneinnehmbar, nichts war uneinnehmbar, aber hier bräuchte es schon einiges. Die ­dicke Eichentür hatte drei Schlösser, und alle Fenster waren vergittert. Herr Syvertsen hatte sich beklagt und gemeint, das fortähnliche Bollwerk erinnere ihn an Johannesburg und drücke die Preise, weil es das Viertel so gefährlich wirken ließe. Rakels Vater hatte die Gitter nach dem Krieg anbringen lassen. Harrys Ermittlerjob hatte Rakel und ihren Sohn Oleg zwischenzeitlich in Gefahr gebracht. Oleg war inzwischen erwachsen. Er war mit seiner Freundin zusammengezogen und hatte auf der Polizeihochschule angefangen. Rakel sollte selber entscheiden, wann die Gitter wieder wegkamen, denn die brauchten sie nicht mehr. Harry war jetzt nur noch ein unterbezahlter Lehrer.

»Ah, Frühstück im Bett«, murmelte Rakel lächelnd, gähnte betont laut und richtete sich auf.

Harry stellte das Tablett vor sie auf die Decke.

»Frühstück im Bett« war das Synonym für die morgendliche Extrastunde, die sie sich jeden Freitagmorgen gönnten, weil er erst spät in die Hochschule und sie nicht ins Außenministerium musste, wo sie als Juristin arbeitete.

Er kroch zu ihr unter die Decke und gab ihr wie gewöhnlich den Teil der Aftenposten mit der Innenpolitik und dem Sportteil, während er die Außenpolitik und die Kulturnachrichten las. Er setzte die Lesebrille auf, an die er sich mittlerweile gewöhnt hatte, und las als Erstes die Kritik des neuen Albums von Sufjan Stevens, wobei ihm einfiel, dass Oleg ihn in der folgenden Woche zu einem Konzert von Sleater-Kinney eingeladen hatte. Leicht nerviger, neurotischer Rock, wie Harry ihn mochte. Oleg hörte selber härtere Sachen, weshalb Harry sich umso mehr über die Einladung freute.

»Was Neues?«, fragte Harry und blätterte um.

Er wusste, dass sie den Artikel über den Mord gelesen hatte, der auf der Titelseite prangte, aber auch, dass sie ihm davon nichts sagen würde. Das war eine ihrer stillen Vereinbarungen.

»Mehr als dreißig Prozent der amerikanischen Tinder-Nutzer sind verheiratet«, sagte sie. »Aber Tinder will davon nichts wissen. Und bei dir?«

»Die neue Father-John-Misty-Scheibe scheint hinter den Er­wartungen zurückzubleiben. Oder der Kritiker wird alt und miesepetrig. Ich tippe eigentlich auf Letzteres. In der Mojo und im Uncut wurde sie in den höchsten Tönen gelobt.«

»Harry?«

»Mir sind junge, miesepetrige Kritiker lieber, die werden mit dem Alter vielleicht aufgeschlossener. Wie ich. Nicht wahr?«

»Wärst du eifersüchtig, wenn ich bei Tinder wäre?«

»Nein.«

»Nein?« Sie richtete sich etwas weiter auf. »Warum nicht?«

»Mir fehlt vermutlich die Phantasie. Ich bin dumm und glaube, dass ich mehr als genug für dich bin. Es ist nicht so dumm, dumm zu sein, weißt du?«

Sie seufzte. »Bist du denn nie eifersüchtig?«

Harry blätterte um. »Doch, aber Ståle Aune hat mir gerade erst eine Reihe von Gründen genannt, warum es besser ist, solchen Gefühlen möglichst wenig Raum zu geben, Liebste. Er kommt heute vorbei und hält einen Gastvortrag über morbide Eifersucht.«

»Harry?« Er hörte dem Unterton in ihrer Stimme an, dass sie nicht so schnell aufgeben würde.

»Fang deine Sätze bitte nicht immer mit meinem Namen an, du weißt doch, wie nervös mich das macht.«

»Aus gutem Grund, ich wollte dich nämlich gerade fragen, ob du manchmal Lust auf andere Frauen als mich hast?«

»Wolltest du fragen, oder fragst du?«

»Ich frage.«

»Okay.« Sein Blick blieb an einem Foto von Polizeipräsident Mikael Bellman und seiner Frau auf einer Filmpremiere hängen. Die schwarze Augenklappe, die er seit neuestem trug, stand ihm, und Harry wusste, dass Bellman das wusste. Der junge ­Polizeipräsident erklärte in dem dazugehörigen Artikel, dass die Medien und allen voran die Kriminalfilme wie der, den er gerade gesehen hatte, ein falsches Bild von Oslo zeichneten. Er betonte, dass die Stadt unter seiner Führung so friedlich sei wie niemals zuvor. Die Wahrscheinlichkeit, dass man Selbstmord beging, sei viel höher als die, ermordet zu werden.

»Also«, sagte Rakel und rückte näher an ihn heran. »Hast du Lust auf andere?«

»Ja«, sagte Harry und unterdrückte ein Gähnen.

»Oft?«, fragte sie.

Er nahm den Blick von der Zeitung. Zog die Stirn in Falten, starrte vor sich hin und dachte über die Frage nach. »Nein, nicht oft.« Er richtete seinen Blick wieder auf die Zeitung. Das neue Munch-Museum und die Deichmansche Bibliothek neben dem neuen Opernhaus nahmen langsam Form an. Die Hauptstadt der Fischer und Bauern, die zweihundert Jahre lang alle Abweichler mit künstlerischen Ambitionen, von denen sie sich bedroht fühlte, nach Kopenhagen und Europa geschickt hatte, war auf dem besten Weg, Kulturstadt zu werden. Wer hätte das geglaubt? Oder besser: Wer glaubte das?

»Wenn du die Wahl hättest«, frotzelte Rakel, »die nächste Nacht entweder mit mir oder deiner Traumfrau zu verbringen? Also ohne dass das irgendwelche Folgen hätte?«

»Hast du heute nicht einen Arzttermin, den du nicht versäumen darfst?«

»Eine einzige Nacht, Harry. Ohne Folgen.«

»Das ist jetzt wohl der Moment, wo ich sagen sollte, dass du meine Traumfrau bist, oder?«

»Jetzt komm schon.«

»Du musst mir schon ein bisschen helfen. Mach mal einen ­Vorschlag.«

»Audrey Hepburn.«

»Nekrophilie?«

»Red dich nicht raus, Harry!«

»Hm. Hast du ganz bewusst eine bereits verstorbene Frau vorgeschlagen, weil das für dich weniger bedrohlich ist, anstatt eine Frau, mit der ich tatsächlich eine Nacht verbringen könnte? Aber okay, ich nehme deinen manipulativen Vorschlag an, und angesichts von Frühstück bei Tiffany antworte ich mit einem lauten und deutlichen Ja.«

»Wenn dem so ist, warum tust du es dann nicht? Warum gehst du nicht fremd?«, fragte Rakel leicht empört.

»Zum einen, weil ich gar nicht weiß, ob meine Traumfrau auch ja sagen würde, und ich kann ganz schlecht damit umgehen, abgewiesen zu werden. Zum anderen, weil die Voraussetzung ohne irgendwelche Folgen gar nicht garantiert ist.«

»Ach?«

Harry konzentrierte sich wieder auf die Zeitung. »Du würdest mich möglicherweise verlassen. Auf jeden Fall würde es unsere Beziehung belasten.«

»Du könntest es geheim halten.«

»Das würde ich nicht aushalten.« Die frühere Sozialsenatorin Isabelle Skøyen kritisierte den amtierenden Senat, keine Notfallpläne für den Tropensturm zu haben, der laut Vorhersage der Meteorologen Anfang der folgenden Woche mit ungeahnter Wucht auf die Westküste treffen und wenige Stunden später mit beinahe unverminderter Kraft auch über Oslo ziehen sollte. Skøyen betonte, dass die Antwort des Senats (»Wir sind nicht in den Tropen, weshalb es für Tropenstürme auch kein Budget gibt«) von unvergleichlicher Arroganz und Verantwortungslosigkeit zeugte. »Diese Leute scheinen zu glauben, dass der Klimawandel nur im Ausland stattfindet«, sagte Skøyen, die sich in einer Pose hatte ablichten lassen, die man bereits von ihr kannte. Was Harry als klares Zeichen deutete, dass sie ihr Comeback in der Politik plante.

»Wenn du sagst, dass du es nicht aushalten würdest, einen Seitensprung geheim zu halten, meinst du dann wirklich nicht aushalten?«, fragte Rakel.

»Ich will das einfach nicht. Solche Geheimnisse sind verdammt anstrengend. Außerdem hätte ich sicherlich ein schlechtes Gewissen.« Er blätterte um, aber es gab keine weiteren Seiten mehr. »Gewissen ist anstrengend.«

»Anstrengend für dich, ja. Und was ist mit mir, machst du dir gar keine Gedanken darüber, wie weh mir so etwas tun würde?«

Harry starrte einen Moment lang auf das Kreuzworträtsel, dann legte er die Zeitung auf die Decke und wandte sich ihr zu. »Wenn du nichts von dem Seitensprung wüsstest, würdest du doch auch nichts spüren.«

Rakel legte eine Hand um sein Kinn und zwang ihn, sie anzusehen. »Aber was, wenn ich davon erführe? Und wenn du erfahren würdest, dass ich mit einem anderen zusammen war. Würde das nicht weh tun?«

Er spürte einen stechenden Schmerz, als sie ihm ein vermutlich graues Brusthaar ausriss, das da nicht sein sollte.

»Garantiert«, sagte er. »Deshalb das schlechte Gewissen, sollte es andersherum sein.«

Sie ließ sein Kinn los. »Mann, Harry, du redest, als würdest du in einem Mordfall ermitteln. Fühlst du denn nichts?«

»Mann, Harry?« Er verzog den Mund zu einem Lächeln und sah sie über die Brille hinweg an. »Sagt man das noch?«

»Jetzt antworte schon, sonst schick ich dich dahin … wo … der Pfeffer wächst.«

Harry lachte. »Ich versuche, dir nur so ehrlich wie möglich zu antworten. Aber dafür muss ich nachdenken und rational sein, so bin ich eigentlich nicht. Wäre ich meinen ersten Gefühlen gefolgt, hätte ich vermutlich gesagt, was du hören willst. Das als Warnung: Ich bin nicht ehrlich, ich bin ein gerissener Hund. Die Ehrlichkeit, die ich dir jetzt zeige, ist nur eine langfristige Investition in meine Glaubwürdigkeit. Es könnte nämlich irgendwann der Tag kommen, an dem ich tatsächlich lügen muss, und dann wäre es natürlich toll, wenn du mich für ehrlich halten würdest.«

»Lass dieses Lächeln, Harry. Du willst damit also sagen, dass du ein untreues Schwein wärst, wenn das nicht so viele Probleme mit sich bringen würde?«

»Sieht ganz so aus.«

Rakel schubste ihn, schwang verächtlich schnaubend die Beine aus dem Bett und verschwand durch die Tür. Dann hörte Harry ein neuerliches Schnauben unten vom Treppenabsatz.

»Setzt du noch Kaffeewasser auf?«, rief er.

»Cary Grant«, rief sie. »Und Kurt Cobain. Gleichzeitig.«

Er hörte sie unten herumkramen. Dann brodelte das Wasser im Wasserkocher. Harry legte die Zeitung auf das Nachtschränkchen und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. Lächelte. Glücklich. Als er aufstand, glitt sein Blick über ihren Teil der Zeitung, der noch auf dem Kopfkissen lag. Er sah ein Bild, einen Tatort und davor das Absperrband der Polizei. Er schloss die Augen und trat ans Fenster. Öffnete sie wieder, starrte zwischen die Fichten und spürte, dass er es jetzt schaffen könnte, den Namen zu vergessen. Den Namen dessen, den sie nicht gefasst hatten.

Er wachte auf. Er hatte wieder von seiner Mutter geträumt. Und von einem Mann, der behauptete, sein Vater zu sein. Er spürte nach, was das für ein Aufwachen gewesen war. Er war ausgeruht. Entspannt. Zufrieden. Die Ursache dafür lag weniger als eine Armlänge von ihm entfernt. Er drehte sich zu ihr. Er war gestern wieder in den Jagdmodus gewechselt. Unbeabsichtigt. Aber als er sie – die Polizistin – in der Bar gesehen hatte, schien es, als würde das Schicksal seinen Lauf nehmen. Oslo war eine kleine Stadt, man sah sich immer wieder. Trotzdem war er nicht Amok gelaufen, er hatte die Kunst der Selbstbeherrschung gelernt. Er studierte die Linien ihres Gesichts, die Haare, den Arm, der in ­einem etwas unnatürlichen Winkel auf dem Bett lag. Sie war kalt und atmete nicht, der Geruch nach Lavendel war beinahe verflogen, aber das war okay. Sie hatte ihre Arbeit getan.

Er warf die Decke zur Seite, trat an den Garderobenschrank und nahm die Uniform heraus. Bürstete sie und fühlte schon jetzt, wie das Blut schneller durch seine Adern pumpte. Es würde ein guter Tag werden.

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