Kapitel 23
Dienstag, später Nachmittag
»Was? Verdammt!«, rief Katrine Bratt und schleuderte ihm den Lappen entgegen, den sie vom Schreibtisch genommen hatte. Er klatschte dicht über Harry, der sich auf dem Stuhl geduckt hatte, an die Wand. »Als hätten wir nicht schon genug Ärger, aber du musst dich ja auch noch der letzten Polizeivorschrift widersetzen, die wir hier im Land haben. Von den Gesetzen ganz zu schweigen. Was hast du dir eigentlich dabei gedacht?«
Rakel, dachte Harry und kippte den Stuhl nach hinten, so dass die Lehne gegen die Wand stieß. Ich habe an Rakel gedacht. Und an Aurora.
»Was?«
»Ich dachte, dass wir vielleicht ein Menschenleben retten könnten, wenn wir diese Abkürzung nehmen und Valentin Gjertsen dadurch einen Tag früher kriegen.«
»Vergiss es, Harry! Du weißt doch ganz genau, dass das so nicht funktioniert. Wenn jeder so denken und handeln würde …«
»Du hast recht, ich weiß. Ich weiß aber auch, dass Valentin Gjertsen uns wirklich nur um ein Haar entwischt ist. Er hat Mehmet gesehen, ihn aus der Kneipe wiedererkannt, Lunte gerochen und sich durch die Hintertür rausgeschlichen, während Mehmet in der Umkleide war, um mich anzurufen. Und ich weiß, dass du mir längst verziehen und mich in höchsten Tönen für mein proaktives Vorgehen gelobt hättest, wäre es tatsächlich Valentin Gjertsen gewesen, der da im Dampfbad saß. Genau dafür habt ihr die Abteilung im Heizungsraum doch eingesetzt.«
»Arschloch!«, fauchte Katrine, und Harry sah, dass sie sich auf ihrem Schreibtisch nach etwas anderem umsah, das sie ihm an den Kopf werfen konnte. Zu seinem Glück kamen weder die Stiftebox noch der Stapel gerichtlicher Schreiben aus den USA, die Facebook-Freigabe betreffend, in Frage. »Ich habe dir keine Lizenz gegeben, damit du uns alle wie Cowboys aussehen lässt. Euer Anschlag auf das türkische Bad ist wirklich auf jeder Titelseite. Bewaffnet im Dampfbad, Zivilisten in der Schusslinie, Nackter Neunzigjähriger mit Waffe bedroht. Und keine Festnahme! Das ist einfach …«, sie hob die Hände und sah zur Decke, als wollte sie das Urteil höheren Mächten überlassen, »stümperhaft.«
»Bin ich gekündigt?«
»Willst du gekündigt werden?«
Harry sah Rakel vor sich. Schlafend, mit zuckenden Augenlidern, als sendete sie Morsesignale aus dem Lande Koma. »Ja«, sagte er. Und sah Aurora vor sich, Unruhe und Schmerz in den Augen, der Schaden, den sie genommen hatte, war nie wiedergutzumachen. »Und nein, willst du mir kündigen?«
Katrine stand stöhnend auf und trat ans Fenster. »Ja, ich will kündigen, aber nicht dir.«
»Hm.«
»Hm«, äffte sie ihn nach.
»Willst du mehr dazu sagen?«
»Ich will Truls Berntsen kündigen.«
»Versteht sich von selbst.«
»Ja, aber nicht, weil er unerträglich und faul ist. Er ist das Leck, er hat die Infos an die VG weitergegeben.«
»Und wie hast du das herausgefunden?«
»Anders Wyller hat ihm eine Falle gestellt. Er ist dafür ein bisschen weit gegangen, ich glaube, dass er mit Mona Daa noch irgendeine Rechnung offen hatte. Aber egal, sie wird uns keinen Ärger machen. Wenn sie wirklich einen Beamten für Informationen bezahlt und dadurch riskiert hat, dass er wegen Korruption angeklagt wird.«
»Und warum hast du Berntsen dann nicht längst gekündigt?«
»Rate mal!«, sagte sie und ging zurück zu ihrem Schreibtisch.
»Mikael Bellman?«
Katrine warf einen Bleistift, dieses Mal nicht in Harrys Richtung, sondern auf die geschlossene Tür. »Dieser Arsch ist da reingekommen, hat sich auf den Stuhl gesetzt, auf dem du jetzt sitzt, und gesagt, dass Berntsen ihn von seiner Unschuld überzeugt hat. Und dann hat er angedeutet, dass Wyller selbst die undichte Stelle sein könnte und die Schuld nur deshalb auf Berntsen geschoben hat. Dass wir das aber nicht weiterverfolgen, sondern uns auf die Jagd nach Valentin konzentrieren sollten, solange wir nichts beweisen könnten. Was sagst du dazu?«
»Nun. Vielleicht hat Bellman recht, vielleicht ist es richtig, mit dem Waschen schmutziger Wäsche zu warten, bis dieses Blutbad vorbei ist.«
Katrine schnitt eine Grimasse. »Bist du da selbst draufgekommen?«
Harry nahm das Zigarettenpäckchen aus der Hosentasche. »Apropos undichte Stelle. In den Zeitungen steht, dass ich in diesem Bad war, und das ist okay, ich wurde ja auch erkannt. Aber Mehmets Rolle in der ganzen Sache kennen nur wir im Heizungsraum und du. Zu seiner eigenen Sicherheit möchte ich, dass das so bleibt.«
Katrine nickte. »Ich habe das bereits mit Bellman besprochen, und er war einverstanden. Er meinte, wir könnten nur verlieren, wenn herauskäme, dass wir Zivilpersonen für die Polizeiarbeit einspannen. Und dass das alles dann wie eine Verzweiflungstat aussähe. Mehmets Rolle soll auf keinen Fall zur Sprache kommen, nicht einmal in der Ermittlergruppe, meiner Meinung nach, auch wenn Truls Berntsen nicht mehr daran teilnimmt.«
»Nicht?«
Katrine zog einen Mundwinkel hoch. »Er hat ein eigenes Büro bekommen, in dem er Berichte archivieren soll, die nichts mit den Vampiristenmorden zu tun haben.«
»Dann hast du ihn ja doch rausgeschmissen«, sagte Harry und steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Das Telefon vibrierte an seinem Bein. Er holte es hervor. Es war eine SMS von Oberarzt Steffens.
Die Tests sind fertig, Rakel ist zurück in 301.
»Ich muss los.«
»Bist du noch dabei, Harry?«
»Lass mich darüber nachdenken.«
Vor dem Präsidium fand Harry das Feuerzeug, das durch ein Loch ins Futter seiner Jackentasche gerutscht war, und zündete die Zigarette an. Betrachtete die Menschen, die auf dem Bürgersteig an ihm vorbeigingen. Sie wirkten so entspannt, so unbesorgt. Das Ganze hatte etwas zutiefst Beunruhigendes. Wo war er? Wo zum Henker war Valentin?
»Hallo«, sagte Harry, als er den Raum 301 betrat.
Oleg saß neben Rakels Bett und sah wortlos von dem Buch auf, das er las.
Harry setzte sich. »Irgendetwas Neues?«
Oleg blätterte in seinem Buch.
»Hör mal«, sagte Harry, zog sich die Jacke aus und hängte sie über die Lehne seines Stuhls. »Ich weiß, dass du denkst, dass mir meine Arbeit wichtiger ist als Rakel. Dass ich deshalb weg war. Obwohl es andere gibt, die Mordfälle lösen können, sie aber nur dich und mich hat.«
»Stimmt das etwa nicht?«, fragte Oleg, ohne von seinem Buch aufzublicken.
»Im Moment braucht sie mich nicht, Oleg. Ich kann hier drinnen niemanden retten, während ich da draußen in der Tat Leben retten kann.«
Oleg klappte das Buch zu und sah zu Harry hinüber. »Gut zu hören, dass es Philanthropie ist, die dich antreibt. Man könnte sonst leicht glauben, dass es etwas ganz anderes ist.«
»Etwas anderes?«
Oleg ließ das Buch in seine Tasche fallen. »Ehrgeiz. Du weißt schon, so eine Harry-Hole-ist-zurück-und-rettet-die-Welt-Scheiße.«
»Glaubst du wirklich, dass es darum geht?«
Oleg zuckte mit den Schultern. »Vermutlich geht es darum, was du denkst. Dass du dich selbst von diesem Bullshit überzeugst.«
»Siehst du mich wirklich so? Als Bullshiter?«
Oleg stand auf. »Weißt du, warum ich immer so wie du werden wollte? Nicht weil du so gut bist. Sondern weil es einfach keinen anderen gab. Du warst der einzige Mann im Haus. Aber jetzt, da ich dich besser kenne, wird mir klar, dass ich alles tun sollte, um nicht so wie du zu werden, Harry. Deinstallation initiiert.«
»Oleg …«
Aber er war bereits durch die Tür verschwunden.
Verdammt. Verdammte Scheiße.
Harry spürte das Telefon in seiner Tasche vibrieren und schaltete es aus, ohne einen Blick auf das Display zu werfen. Stattdessen lauschte er der Maschine. Sie kam ihm lauter vor, jeder Ausschlag der grünen Linie wurde etwas verzögert von einem Piepsen begleitet.
Wie ein Timer.
Ein Countdown für sie.
Ein Countdown für jemanden da draußen.
Vielleicht wartete Valentin jetzt irgendwo auf jemanden und sah auf die Uhr.
Harrys Finger umklammerten das Telefon und ließen es wieder los.
Er legte seine breite Hand auf Rakels schmale, sah in dem schwachen Licht, das schräg in den Raum fiel, wie die dicken blauen Adern auf seinem Handrücken Schatten warfen, und versuchte, die Piepser nicht zu zählen. Bei achthundertundsechs konnte er nicht mehr still sitzen bleiben, er stand auf und wanderte in dem Raum auf und ab. Schließlich ging er nach draußen auf den Flur und suchte den diensthabenden Arzt auf, der aber nicht ins Detail gehen wollte und nur sagte, dass Rakels Zustand stabil sei und sie überlegt hätten, sie wieder aus dem Koma zu holen.
»Hört sich nach guten Neuigkeiten an«, sagte Harry.
Der Arzt zögerte. »Wir haben das nur überlegt«, sagte er. »Es gibt auch Argumente dagegen. Reden Sie mit Steffens, wenn er kommt, er hat heute Nachtschicht.«
Harry aß etwas in der Kantine, bevor er zurück in Raum 301 ging. Der Polizist auf dem Stuhl vor der Tür nickte ihm zu.
Drinnen war es dunkel geworden. Harry schaltete die Lampe auf dem Nachttisch ein. Er schnippte eine Zigarette aus der Packung und betrachtete Rakels Augenlider. Ihre Lippen waren trocken. Er versuchte, sich an ihre erste Begegnung zu erinnern. Er hatte vor ihrem Haus gestanden, und sie war wie eine Ballerina auf ihn zugekommen. Aber stimmte das alles auch, nach so vielen Jahren? Der erste Blick, die ersten Worte. Der erste Kuss. Vielleicht war es unausweichlich, dass man so etwas mit der Zeit umschrieb, nach und nach, bis es zu einer Geschichte wurde, die Logik hatte, Schwerkraft und Sinn, und bezeugte, dass sie die ganze Zeit auf dem Weg hierher gewesen waren. Zu einer Geschichte, die sie sich gegenseitig erzählten, wie ein Stammesritual, bis sie wirklich daran glaubten. Wenn sie jetzt verschwand, wenn die Geschichte von Rakel und Harry hier zu Ende ging, an was sollte er dann glauben?
Er zündete sich die Zigarette an.
Inhalierte tief, atmete den Rauch aus und sah, wie er nach oben in Richtung Rauchmelder stieg und sich langsam auflöste.
Verschwinden. Alarm, dachte er.
Die Hand glitt in die Tasche, und die Finger legten sich um das kalte, ausgeschaltete Telefon.
Verdammt. Verdammte Scheiße.
Berufen, hatte Steffens gesagt. Ist es das, wenn man einen Job annimmt, den man hasst, weil man weiß, dass man gerade für diesen Job der Beste ist? Etwas, wozu man zu gebrauchen ist. Wie ein Rudeltier, das sich opfert. Oder stimmte es, was Oleg gesagt hatte. War es persönlicher Ehrgeiz? Sehnte er sich danach, da draußen zu sein und zu glänzen, während die, die er liebte, hier verging? Nun, er hatte nie ein besonderes Verantwortungsgefühl der Gesellschaft gegenüber empfunden, und die Anerkennung der Kollegen oder der Öffentlichkeit waren ihm egal. Aber was blieb dann übrig?
Valentin. Und die Jagd.
Zwei kurze Klopfer waren zu hören, und die Tür ging auf. Bjørn Holm schlich in den Raum und setzte sich auf den Stuhl auf der anderen Seite des Bettes.
»Rauchen in einem Krankenhaus«, sagte er. »Bis zu sechs Jahre Zuchthaus, glaube ich.«
»Zwei Jahre«, sagte Harry und reichte Bjørn die Zigarette. »Tu mir den Gefallen, mach dich mitschuldig.«
Bjørn nickte in Richtung Rakel. »Hast du keine Angst, dass sie Lungenkrebs kriegen könnte?«
»Rakel liebt das Passivrauchen. Sie betont immer, wie toll sie es findet, dass das umsonst ist und mein Körper die schlimmsten Schadstoffe schon aufgenommen hat, bevor ich ausatme. Ich bin so eine Mischung aus Sparstrumpf und Filter.«
Bjørn nahm einen Zug. »Deine Mobilbox sagt, dass dein Handy ausgeschaltet ist, deshalb bin ich davon ausgegangen, dass du hier bist.«
»Hm. Für einen Techniker hattest du schon immer gute deduktive Fähigkeiten.«
»Danke. Wie geht’s?«
»Sie diskutieren, sie wieder aus dem Koma zu holen. Ich habe mich entschieden, darin ein gutes Zeichen zu sehen. Irgendwas Eiliges?«
»Keiner von den Gästen der Sauna, die wir vernommen haben, hat Valentin auf dem Phantombild erkannt. Der Typ am Eingang hat ausgesagt, dass zu dieser Zeit ein reges Kommen und Gehen herrscht. Er kannte aber unseren Mann und meinte, er käme für gewöhnlich mit Mantel und tief in die Augen gezogener Baseballkappe. Unter dem Mantel soll er immer schon einen Bademantel getragen haben. Außerdem soll er grundsätzlich bar bezahlt haben.«
»Damit es keine elektronischen Spuren gibt. Bademantel drunter? So minimiert er das Risiko, dass jemand das Tattoo sieht, wenn er sich umzieht. Wie ist er vom Bad nach Hause gekommen?«
»Wenn er ein Auto hat, muss er die Schlüssel in der Tasche seines Bademantels gehabt haben. Oder eventuell Geld für ein Busticket. In der Kleidung, die in der Umkleide lag, war absolut nichts, nicht mal ein paar Flusen. Wir finden sicher DNA, die Klamotten rochen aber nach Waschmittel. Ich glaube, sogar der Mantel war in der Waschmaschine.«
»Passt zu der manischen Reinlichkeit, die uns an den Tatorten aufgefallen ist. Dass er Schlüssel und Geld mit ins Dampfbad nimmt, deutet darauf hin, dass er auf einen plötzlichen Rückzug vorbereitet war.«
»Stimmt. Auf den Straßen in Sagene hat niemand einen Typ im Bademantel gesehen, den Bus hat er also wohl nicht genommen.«
»Sein Wagen stand direkt an der Hintertür. Es ist kein Zufall, dass er seit drei Jahren auf freiem Fuß ist. Er ist gut.« Harry rieb sich den Nacken. »Tja, wir haben ihn vertrieben. Was nun?«
»Wir checken die Überwachungskameras der Geschäfte und der Tankstelle in der Nähe des Platzes. Suchen nach einer Baseballcap und einem Bademantel unter einem Mantel. Morgen früh werde ich den Mantel übrigens aufschneiden. Im Futter der Tasche ist ein kleines Loch, mit etwas Glück hat sich da irgendwas ins Innenfutter verirrt.«
»Er wird die Überwachungskameras gemieden haben.«
»Glaubst du?«
»Ja, wenn wir ihn auf einer sehen, dann nur, weil er gesehen werden will.«
»Vermutlich hast du recht.« Bjørn Holm knöpfte seinen Parka auf. Seine blasse Stirn glänzte vor Schweiß.
Harry blies den Zigarettenrauch in Richtung Rakel. »Was ist, Bjørn?«
»Wie meinst du das?«
»Du musstest nicht herkommen, um mir das zu erzählen.«
Bjørn antwortete nicht. Harry wartete. Die Maschine piepste und piepste.
»Es geht um Katrine«, sagte Bjørn. »Ich verstehe da was nicht. Ich habe auf der Anrufliste meines Telefons gesehen, dass sie mich gestern Nacht angerufen hat, aber als ich sie zurückgerufen habe, meinte sie nur, das sei sicher so ein Hosentaschenanruf gewesen.«
»Und?«
»Um drei Uhr nachts? Sie schläft ja nicht auf ihrem Telefon.«
»Und warum hast du sie das nicht gefragt?«
»Weil ich sie nicht bedrängen will. Sie braucht Zeit. Raum. Sie ist ein bisschen wie du.« Bjørn nahm Harry die Zigarette ab.
»Ich?«
»Ein Eigenbrötler.«
Harry nahm ihm die Zigarette weg, als Bjørn gerade einen Zug nehmen wollte.
»Das stimmt doch«, protestierte Bjørn.
»Was willst du?«
»Ich werde verrückt, wenn ich noch länger rumlaufe und keine Ahnung habe, wie es weitergeht. Deshalb dachte ich …«
Bjørn kratzte wütend seinen Bart. »Du und Katrine, ihr seid doch so was wie Vertraute. Könntest du …?«
»Checken, wie deine Aktien stehen?«
»So in etwa. Ich muss sie zurückhaben, Harry.«
Harry drückte die Zigarette am Stuhlbein aus und sah zu Rakel. »Natürlich. Ich rede mit Katrine.«
»Aber ohne, dass sie …«
»Kapiert, dass das von dir kommt?«
»Danke«, sagte Bjørn. »Du bist ein guter Freund, Harry.«
»Ich?« Harry steckte die Kippe zurück in die Packung. »Ich bin ein Eigenbrötler.«
Als Bjørn gegangen war, schloss Harry die Augen. Lauschte der Maschine. Dem Countdown.