Kapitel 19

Montagabend

Mona Daa hatte sich extra Joggingschuhe angezogen, trotzdem hallten ihre Schritte zwischen den Containern wider. Sie hatte ihr kleines Elektroauto am Tor geparkt und war ohne Zögern auf das dunkle, verlassene Containergelände gegangen, das heute eine Art Friedhof des ehemals so belebten Hafens darstellte. Die aneinandergereihten Container waren die Grabsteine der toten oder vergessenen Waren. Irgendwann einmal bestellt von mittlerweile bankrotten Empfängern, verschifft von Absendern, die es nicht mehr gab oder die ihre Waren nicht zurücknehmen konnten, so dass die Güter in ewigem Transit hier auf Sjursøya gestrandet waren und nun einen grellen Kontrast zu all der Erneuerung und Verschönerung des gleich nebenan liegenden Bjørvika-Areals bildeten, wo ein Prachtbau neben dem anderen in die Höhe gezogen wurde. Die Krone bildete das eisklotzartige Opernhaus. Mona war überzeugt, dass es als Monument des Ölzeitalters überdauern würde, wie ein Tadsch Mahal der Sozialdemokratie.

Mona nutzte die mitgebrachte Taschenlampe, um sich zu orientieren. Buchstaben und Zahlen auf dem Asphalt wiesen ihr den Weg. Sie trug schwarze Tights und eine schwarze Trainingsjacke. In der einen Tasche hatte sie Pfefferspray und ein Vorhängeschloss, in der anderen die Pistole, eine 9-mm-Walther, die sie sich von ihrem Vater, ohne dass er es wusste, ausgeborgt hatte. Er hatte nach dem Medizinstudium als Sanitätsleutnant gearbeitet, seine Waffe aber nie zurückgegeben. Unter dem dünnen Stoff der Jacke und dem Brustgurt mit dem Pulsmesser schlug ihr Herz immer schneller.

H23 lag zwischen zwei Reihen von dreifach übereinandergestapelten Containern. Es war wirklich ein Käfig, in dem ein großes Tier transportiert worden sein musste. Ein Elefant oder eine Giraffe, vielleicht auch ein Flusspferd. Die eine Schmalseite des Käfigs konnte komplett geöffnet werden, war jetzt aber mit einem verrosteten Vorhängeschloss verriegelt. In der Mitte der längeren Seite war eine kleinere, unverschlossene Tür, vermutlich für die Tierpfleger, wenn sie Futter brachten oder den Käfig reinigten.

Die Scharniere kreischten, als sie die Tür an den Gitterstäben aufzog und sich ein letztes Mal umsah. Vermutlich war er bereits hier und überzeugte sich, irgendwo in den Schatten zwischen den Containern versteckt, dass sie wie vereinbart allein kam.

Zweifel oder Zögern war jetzt fehl am Platz, sie machte es so, als müsste sie während eines Wettkampfs schwere Gewichte heben. Sagte sich, dass die Entscheidung längst gefallen war, sie nicht mehr darüber nachzudenken brauchte und einfach zur Tat schreiten musste. Sie ging hinein, nahm das mitgebrachte Vorhängeschloss aus der Tasche und verriegelte damit die Tür. Den Schlüssel steckte sie sich in die Tasche.

Der Käfig roch nach Urin, ob von Tieren oder Menschen, wusste sie nicht. In der Mitte des Käfigs hob sie den Blick.

Er konnte von links oder rechts kommen. Oder war er auf einen der gestapelten Container geklettert und redete von oben mit ihr? Sie schaltete das Mikro ihres Handys ein und legte es auf den stinkenden Stahlboden. Dann schob sie den linken Ärmel hoch und warf einen Blick auf ihre Uhr. 19.59. Auch den rechten Ärmel schob sie hoch. Ihr Puls lag bei 128.

»Hallo, Katrine, ich bin’s.«

»Gut, dass du anrufst, Harry. Ich hab dich zu erreichen versucht, hast du meine Nachrichten nicht bekommen? Wo bist du?«

»Zu Hause.«

»Penelope Rasch ist tot.«

»Komplikationen. Ich habe es in der Onlineausabe der VG ge­lesen.«

»Und?«

»Ich musste mir in den letzten Stunden über ein paar andere Dinge Gedanken machen.«

»Ach ja? Und was?«

»Rakel ist im Krankenhaus. Ullevål.«

»Oh. Was Ernstes?«

»Ja.«

»Mein Gott, Harry. Ernst, etwa in …?«

»Wir wissen es nicht. Ich bin vorläufig raus bei den Ermittlungen. Ich bleibe bis auf weiteres im Krankenhaus.«

Pause.

»Katrine?«

»Ja? Ja, natürlich. Tut mir leid, das ist alles nur ein bisschen viel auf einmal. Trotzdem, ich habe vollstes Verständnis für dich. Ich bin ganz auf deiner Seite. Aber Harry, Mensch, Scheiße, hast du jemanden, mit dem du darüber reden kannst? Willst du, dass ich komme …?«

»Danke, Katrine, aber konzentriere dich auf diesen Kerl. Ich werde die Gruppe auflösen, du musst also mit dem zurechtkommen, was du hast. Arbeite mit Smith zusammen. Er hat zwar noch kürzere soziale Antennen als ich, aber er hat keine Angst und ist in der Lage, sich gedanklich auf unbekanntes Terrain zu wagen. Und Anders Wyller ist interessant. Gib ihm etwas mehr Verantwortung und schau, wie er sich macht.«

»Daran hatte ich auch schon gedacht, Harry. Ruf an, wenn etwas ist, egal, was.«

»Mach ich.«

Harry legte auf und erhob sich. Ging zur Kaffeemaschine und hörte, wie seine Füße über den Boden schlurften. Er hatte noch nie geschlurft, nie, dachte er, als er mit der Kanne in der Hand dastand und sich in der leeren Küche umsah. Er wusste nicht mehr, wo er die Kaffeetasse hingestellt hatte, stellte die Kanne wieder ab, setzte sich an den Küchentisch und wählte Bellmans Nummer. Der Anrufbeantworter meldete sich. Egal, dachte er, viel zu sagen gab es ja eh nicht.

»Hier ist Hole. Meine Frau ist krank, ich steige aus. Endgültig.«

Er blieb sitzen und sah aus dem Fenster auf die Lichter der Stadt.

Dachte an den tonnenschweren Wasserbüffel, an dessen Kehle ein Löwe hing. Seine Wunden bluteten, er hatte aber noch viel Blut, und wenn es ihm gelang, den Löwen abzuschütteln, konnte er ihn mit seinen Hufen tottrampeln oder mit den Hörnern aufspießen. Aber es eilte, die Luftröhre wurde immer enger, und er brauchte Luft. Außerdem waren weitere Löwen auf dem Weg, das Rudel hatte das Blut gewittert.

Er sah die Lichter und dachte, dass sie ihm nie weiter entfernt vorgekommen waren.

Der Verlobungsring. Valentin hatte ihr einen Ring gegeben und war zurückgekommen. Genau wie der Verlobte. Verdammt. Er verdrängte den Gedanken. Es war an der Zeit, den Kopf auszuschalten. Ausschalten, zusperren und nach Hause gehen.

So, ja.

Um 20.14 Uhr hörte Mona Daa ein Geräusch aus dem Dunkeln, das immer undurchdringlicher wurde, seit sie in den Käfig getreten war. Sie sah eine Bewegung. Etwas kam auf sie zu. Sie war die wenigen Fragen, die sie vorbereitet hatte, wieder und wieder durchgegangen und hatte sich gefragt, ob sie mehr Angst davor hatte, dass er kam oder dass er nicht kam. Jetzt wusste sie die Antwort. Sie spürte das Herz bis zum Hals schlagen und umklammerte die Pistole in ihrer Jackentasche. Im Keller ihrer Eltern hatte sie aus sechs Metern Abstand ein paar Probeschüsse auf den alten Regenmantel an der Wand abgegeben und getroffen.

Es kam aus dem Dunkeln und bewegte sich ins Licht der Scheinwerfer des Frachtschiffs, das wenige Hundert Meter entfernt bei den Betonsilos vor Anker lag.

Es war ein Hund.

Er lief um den Käfig herum und sah zu ihr hinein.

Wahrscheinlich ein herrenloses Tier. Er war dünn, trug kein Halsband, und sein Fell war so ungepflegt, dass er kaum woanders leben konnte als hier draußen auf dem Containerfriedhof. Als kleines Mädchen mit Katzenallergie hatte sie sich immer ­einen solchen Hund gewünscht. Hatte davon geträumt, dass er ihr eines Tages einfach nach Hause nachlief und ihr nie wieder von der Seite wich.

Mona begegnete dem kurzsichtigen Blick des Hundes, glaubte zu verstehen, was das Tier dachte – ein Mensch im Käfig –, und sein stilles Lachen hören zu können.

Nachdem der Hund sie eine Weile betrachtet hatte, stellte er sich parallel zum Seitengitter, hob das Hinterbein und pinkelte auf den Stahlboden.

Dann lief er weiter und verschwand im Dunkeln.

Ohne die Ohren gespitzt oder Witterung aufgenommen zu haben.

In diesem Moment war Mona klargeworden, dass niemand kommen würde.

Sie sah auf ihre Pulsuhr. 119. Sinkend.

Er war nicht hier. Aber wo war er dann?

Harry sah etwas im Dunkeln.

Vor dem Haus, außerhalb der Lichtkegel von Fenstern und Treppenlampe. Es war der Umriss einer Person, die mit hängenden Armen regungslos dastand und zum Küchenfenster emporblickte, hinter dem Harry saß.

Er senkte den Kopf und starrte auf seine Kaffeetasse, als hätte er die Gestalt da draußen nicht gesehen. Seine Dienstwaffe lag oben im ersten Stock.

Sollte er hinaufgehen und sie holen?

Andererseits, wenn es wirklich der Gejagte war, der sich dem Jäger näherte, wollte er ihn nicht vertreiben.

Harry stand auf, streckte sich und wusste, dass er in der hell­erleuchteten Küche gut zu sehen war. Er ging ins Wohnzimmer, dessen Fenster auf derselben Seite lagen, und nahm ein Buch. Dann machte er zwei schnelle Schritte zur Seite, schlüpfte durch die Tür in den Flur, nahm die Heckenschere, die Rakel neben ihre Stiefel gestellt hatte, riss die Haustür auf und stürmte nach draußen.

Die Gestalt rührte sich noch immer nicht. Harry blieb stehen.

Kniff die Augen zusammen.

»Aurora?«

Harry kramte im Küchenschrank herum. »Kardamom, Zimt, Kamille. Rakel hat verdammt viele Teesorten. Ich trinke eigentlich nur Kaffee und weiß wirklich nicht, was ich dir empfehlen kann.«

»Zimt klingt gut«, sagte Aurora.

»Hier«, sagte Harry und reichte ihr die Packung.

Sie nahm einen Teebeutel heraus, und Harry beobachtete, wie sie den Beutel in das dampfende Wasser tauchte.

»Du bist im Präsidium einfach abgehauen«, sagte er.

»Ja«, erwiderte sie nur und wickelte den Beutel um einen Teelöffel.

»Und an der Bushaltestelle auch.«

Sie antwortete nicht, ihre Haare hingen ihr wieder ins Gesicht.

Er setzte sich und trank einen Schluck Kaffee. Gab ihr die Zeit, die sie brauchte. Befüllte die Stille nicht mit Worten, die Antworten verlangten.

»Ich hab nicht gesehen, dass du das warst«, sagte sie schließlich. »Das heißt, doch, ich hab’s gesehen, aber da hatte ich schon Angst, und es dauert manchmal eine ganze Weile, bis mein Hirn meinen Körper davon überzeugt hat, dass alles gut ist. Da war mein Körper schon eine ganze Strecke gelaufen.«

»Hm, hast du Angst vor etwas?«

Sie nickte. »Es geht um Papa.«

Harry bereitete sich innerlich vor, er wollte nicht weiter, wollte diesen Raum nicht betreten. Aber es führte kein Weg daran vorbei.

»Was hat er getan?«

Tränen stiegen ihr in die Augen. »Er hat mich vergewaltigt und gesagt, dass ich das niemals jemandem sagen darf. Denn dann würde er sterben …«

Die Übelkeit kam so plötzlich, dass Harry für einen Moment die Luft wegblieb. Magensäure stieg ihm den Hals hoch.

»Papa hat gesagt, dass er dann stirbt …?«, fragte Harry.

»Nein, nein!« Der plötzliche, wütende Protest hallte zwischen den Küchenwänden wider. »Der Mann, der mich vergewaltigt hat, hat gesagt, dass er Papa umbringt, sollte ich mit jemandem darüber reden. Er hat gesagt, dass er das schon mal fast getan hätte und dass ihm beim nächsten Mal niemand mehr in die Quere kommt.«

Harry blinzelte. Versuchte die seltsame Mischung aus Erleichterung und Schock zu verdauen. »Du bist vergewaltigt worden?«, fragte er bewusst ruhig.

Sie nickte, begann zu schluchzen und wischte sich die Tränen weg. »Auf dem Mädchenklo beim Handballturnier. An dem Tag, an dem ihr geheiratet habt. Rakel und du. Er hat das getan und ist dann einfach gegangen.«

Harry fühlte sich wie im freien Fall.

»Kann ich den hier irgendwo wegwerfen?« Der Teebeutel baumelte tropfend über der Tasse.

Harry streckte ihr die Hand hin.

Aurora sah ihn unsicher an, dann ließ sie den Teebeutel fallen. Harry ballte eine Faust, spürte das heiße Wasser auf seiner Haut brennen und zwischen den Fingern heraussickern. »Hat er dich verletzt?«

Sie schüttelte den Kopf. »Er hat mich festgehalten, und ich habe blaue Flecken bekommen. Mama habe ich gesagt, die kämen vom Spiel.«

»Willst du damit sagen, dass du das alles bis jetzt geheim gehalten hast?«

Sie nickte.

Harry wäre am liebsten aufgestanden und um den Tisch herumgegangen, um sie in die Arme zu nehmen. Doch er musste an das denken, was Smith über Nähe und Intimität gesagt hatte.

»Warum kommst du jetzt und erzählst mir das?«

»Weil er andere Menschen tötet. Ich habe die Zeichnung in der Zeitung gesehen. Das ist er. Der Mann mit den komischen Augen. Du musst mir helfen, Onkel Harry. Du musst mir helfen, auf Papa aufzupassen.«

Harry nickte. Er atmete durch den geöffneten Mund.

Aurora legte den Kopf besorgt schief. »Onkel Harry?«

»Ja?«

»Weinst du?«

Im Mundwinkel spürte Harry den salzigen Geschmack der ersten Träne. Verdammt!

»Tut mir leid«, sagte er mit belegter Stimme. »Wie war der Tee?«

Er hob den Kopf, begegnete ihrem Blick, der sich vollkommen verändert hatte. Als hätte sich etwas geöffnet. Als sähe sie zum ersten Mal seit langem wieder durch ihre schönen Augen nach draußen und nicht nach innen, wie bei ihren letzten Begegnungen.

Aurora stieß an die Teetasse, als sie aufstand und um den Tisch herumging. Sie beugte sich über Harry und nahm ihn in die Arme. »Alles wird gut«, sagte sie. »Alles wird gut.«

Marte Ruud ging zu dem Gast, der gerade durch die Tür des leeren Schrøder gekommen war.

»Tut mir leid, aber wir schließen in zehn Minuten. Der Zapfhahn ist schon abgedreht.«

»Geben Sie mir einen Kaffee«, sagte er mit einem Lächeln. »Ich trinke den auch schnell.«

Sie ging zurück zum Tresen. Der Koch war schon vor einer Stunde gegangen, ebenso Nina. Montagabends war so spät nur noch eine Bedienung im Laden, aber trotz der Ruhe war sie angespannt. Sie war zum ersten Mal allein. Nina wollte später, nach Kneipenschluss, noch einmal zurückkommen, um ihr bei der Abrechnung zu helfen.

Schnell kochte sie etwas Wasser im Wasserkocher und goss ­einen löslichen Kaffee auf, den sie dem Mann brachte.

»Darf ich Sie etwas fragen«, sagte er und blickte auf die dampfende Tasse. »Da jetzt nur Sie und ich hier sind.«

»Klar«, sagte Marte, obwohl sie eigentlich nein meinte und nur wollte, dass er seinen Kaffee austrank und ging, damit sie endlich schließen und auf Nina warten konnte. Sie wollte nach Hause. Am nächsten Tag hatte sie schon um Viertel nach acht die erste Vorlesung.

»Ist das hier nicht die Kneipe, in die immer dieser bekannte Kommissar geht? Harry Hole?«

Marte nickte. Sie hatte nichts über den Mann gehört, bis er plötzlich da gewesen war. Ein großer Kerl mit einer hässlichen Narbe im Gesicht. Erst danach hatte Nina lange über ihn gesprochen.

»Wo sitzt der denn immer?«

»Angeblich da«, sagte Marte und zeigte auf den Ecktisch am Fenster. »Aber er kommt nicht mehr so oft wie früher.«

»Nein, wenn er diesen armseligen Perversen, wie er ihn genannt hat, hinter Schloss und Riegel bringen will, hat er sicher anderes zu tun. Aber sein Stammlokal ist es deshalb ja noch immer, oder?«

Marte nickte lächelnd, obwohl sie alles andere als sicher war, den Mann richtig verstanden zu haben.

»Wie heißen Sie?«

Marte zögerte, die Richtung, die das Gespräch nahm, gefiel ihr nicht. »Wir schließen in sechs Minuten, wenn Sie Ihren Kaffee also noch trinken wollen, sollten Sie …«

»Wissen Sie, woher Sie Ihre Sommersprossen haben, Marte?«

Sie erstarrte, und ihr wurde kalt. Woher kannte er ihren Namen?

»Wissen Sie, als Sie klein waren und noch keine Sommersprossen hatten, sind Sie mal in der Nacht aufgewacht. Sie hatten kabuslar, Alpträume, und sind voller Angst ins Schlafzimmer Ihrer Mutter gelaufen, um getröstet zu werden. Damit sie Ihnen sagt, dass es keine Monster und Gespenster gibt. Aber auf der Brust Ihrer Mutter kauerte ein nackter blauschwarzer Gnom mit spitzen Ohren, dem das Blut aus den Mundwinkeln lief. Und als Sie wie versteinert stehen blieben und ihn anstarrten, blies er die Wangen auf, prustete all das Blut, das er im Mund hatte, in Ihre Richtung. Ihr Gesicht und Ihre Brust waren von kleinen Tröpfchen übersät. Und dieses Blut, Marte, ging einfach nicht mehr weg, wie sehr Sie sich auch gewaschen und es wegzuschrubben versucht haben.« Der Mann blies in seine Tasse. »Jetzt wissen Sie, wie Sie diese Sommersprossen bekommen haben, nicht aber, warum. Die Antwort auf Letzteres ist ebenso einfach wie unbefriedigend, Marte. Sie waren zur falschen Zeit am falschen Ort. Die Welt ist einfach nicht sonderlich gerecht.« Er führte die Tasse an die Lippen, riss den Mund auf und schüttete den noch dampfend heißen Kaffee in seinen Mund. Vor Entsetzen blieb ihr die Luft weg. Sie sah den Tropfennebel nicht, bis die heiße Flüssigkeit sie mitten ins Gesicht traf.

Wie geblendet, voller Angst, wandte sie sich um und rutschte auf dem Kaffee aus. Sie knallte mit den Knien auf den Boden, rappelte sich aber wieder hoch und stürmte, sich den Kaffee aus den Augen reibend, in Richtung Ausgang. Dabei warf sie einen Stuhl um, um ihm den Weg zu versperren. Ihre Finger legten sich um die Türklinke, drückten sie nach unten, aber die Tür rührte sich nicht, wie sehr sie auch daran zerrte. Er musste abgeschlossen haben. Knirschende Schritte drangen ihr ans Ohr, als sie Daumen und Zeigefinger um das kleine Drehschloss legte. Weiter kam sie nicht, denn seine Hände packten von hinten ihren Gürtel und zerrten sie zurück. Marte fiel auf alle viere. Sie versuchte zu schreien, brachte aber nur ein leises Wimmern heraus. Schritte. Er stand jetzt vor ihr. Sie blieb auf allen vieren, wollte den Blick nicht heben, wollte ihn nicht sehen. Als kleines Mädchen hatte sie nie Alpträume von einem blauschwarzen Gnom gehabt, sondern von einem Mann mit Hundekopf. Und in diesem Moment wusste sie, dass sie genau das sehen würde, wenn sie jetzt den Kopf hob. Deshalb starrte sie nach unten auf die Spitzen der Cowboystiefel.

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