Kapitel 7

Freitagvormittag

Harry Hole ging neben Ståle Aune durch den Flur der Polizeihochschule. Mit seinen 193 Zentimetern war Harry gut zwanzig Zentimeter größer als sein zwanzig Jahre älterer und deutlich runderer Freund.

»Es überrascht mich, dass ausgerechnet du einen derart klaren Fall nicht lösen kannst«, sagte Aune und versicherte sich, dass seine gepunktete Fliege richtig saß. »Das ist nicht so schwer, du bist Lehrer geworden, weil deine Eltern das auch waren. Oder genauer gesagt, dein Vater. Noch post mortem suchst du bei ihm die Anerkennung, die du als Polizist nie bekommen hast. Oder besser gesagt, die du als Polizist nicht haben wolltest, weil die Rebellion gegen deinen Vater ja gerade darauf ausgerichtet war, nicht so zu werden wie er. Für dich war er eine jämmerliche Figur, weil er es nicht geschafft hat, das Leben deiner Mutter zu retten. Du hast deine eigene Unzulänglichkeit auf ihn übertragen und bist Polizist geworden, um gutzumachen, dass auch du nicht dazu in der Lage warst, sie zu retten. Du wolltest uns alle vor dem Tod bewahren, genauer gesagt vor den Mördern.«

»Hm. Wie viel zahlen dir die Leute eigentlich für dieses Zeugs? Pro Stunde?«

Aune lachte. »Apropos Stunde, was ist denn bei Rakels Arzttermin rausgekommen? Wegen ihrer Kopfschmerzen.«

»Der Termin ist erst heute«, sagte Harry. »Ihr Vater hatte im ­Alter Migräne.«

»Erblich vorbelastet. Als würde man sich die Zukunft vorhersagen lassen und es dann sein ganzes Leben bereuen. Wir Menschen haben das Unabwendbare noch nie gemocht. Wie den Tod.«

»Erbe ist nicht unabwendbar. Großvater hat gesagt, dass er wie sein Vater nach dem ersten Drink Alkoholiker war. Während mein Vater sein Leben lang Alkohol genossen hat – wirklich genossen –, ohne Alkoholiker zu werden.«

»Dann hat der Alkoholismus eine Generation übersprungen, das kommt vor.«

»Oder die Genetik ist nur eine willkommene Entschuldigung für meinen schwachen Charakter.«

»Ja, aber es muss auch erlaubt sein, die Genetik für den eigenen schwachen Charakter an den Pranger zu stellen.«

Harry lächelte, und eine Studierende, die ihnen auf dem Flur entgegenkam, missverstand ihn und erwiderte das Lächeln.

»Katrine hat mir die Bilder vom Tatort in Grünerløkka geschickt«, sagte Aune. »Was hältst du davon?«

»Ich lese keine Kriminalberichte.«

Die Tür des Hörsaals zwei stand offen. Die Vorlesung richtete sich an die Studierenden des letzten Semesters, aber Oleg hatte gesagt, dass er und ein paar Erstsemesterkollegen versuchen wollten, sich auch hineinzuschmuggeln. Entsprechend voll war der Hörsaal. Einige Studierende saßen auf der Treppe oder lehnten an den Wänden, und Harry erkannte sogar die Gesichter einiger Kollegen.

Er trat an das Pult und schaltete das Mikrofon ein. Ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Suchte automatisch nach Oleg. Die Gespräche verstummten, und es wurde still. Harry befeuchtete sich die Lippen. Das Seltsame war nicht, dass er Lehrer geworden war, sondern dass es ihm auch noch gefiel. Dass er, der als wortkarg und verschlossen galt, sich vor einer Gruppe anspruchsvoller Studierender ungehemmter fühlte als an der Kasse eines 7-Eleven, wenn er das Päckchen Camel Light, das man ihm fälschlicherweise hingelegt hatte, gegen ein Päckchen Camel umtauschen wollte. In diesen Momenten glaubte er immer, das Gemurmel der Leute hinter sich zu hören, und es war tatsächlich schon vorgekommen – an schlechten Tagen mit dünnem Nervenkostüm –, dass er mit den Camel Light aus dem ­Laden gegangen war, eine Zigarette geraucht und den Rest weggeworfen hatte. Hier im Hörsaal befand er sich in seiner Komfortzone. Fachwissen. Mord. Harry räusperte sich. Er hatte Olegs ernstes Gesicht nicht entdeckt, dafür aber ein anderes, das er gut kannte. Eins mit schwarzer Augenklappe. »Wie ich sehe, haben sich einige von Ihnen im Hörsaal vertan. Das hier ist der Kurs drei ›Mordermittlung‹ für Studierende im letzten Semester.«

Gelächter. Niemand machte Anstalten, den Raum zu verlassen.

»Okay«, sagte Harry. »All jene, die hier sind, um eine von meinen trockenen Vorlesungen über Mordermittlungen zu hören, muss ich enttäuschen. Unser heutiger Gast ist seit vielen Jahren Berater des Dezernats für Gewaltverbrechen und einer der bekanntesten Psychologen Skandinaviens im Fachgebiet Gewalt und Mord. Seine Publikationsliste ist lang. Aber bevor ich Ståle Aune das Wort erteile, das kriege ich dann nämlich nicht mehr wieder, möchte ich noch darauf hinweisen, dass es nächsten Mittwoch um ein weiteres Kreuzverhör geht, bezogen auf einen Fall, der als Das fünfte Zeichen bekannt ist. Die Details zu dem Fall, Tatortberichte und Verhörprotokolle finden Sie wie üblich auf der Website PHS/Ermittlung. Ståle?«

Applaus brandete auf. Harry ging die Treppe nach unten, während Aune mit vorgestrecktem Bauch und einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen zum Pult schritt.

»Das Othello-Syndrom!«, rief Aune und senkte seine Stimme, als er das Mikrofon erreichte: »Das Othello-Syndrom ist ein Fachausdruck für das, was wir als morbide Eifersucht bezeichnen. Das Motiv für die meisten Morde in diesem Land. Genau wie in William Shakespeares Tragödie Othello. Roderigo ist verliebt in General Othellos junge Frau Desdemona, während der gerissene Offizier Jago Othello hasst, weil dieser ihn nicht zum Leutnant befördert hat. Jago glaubt, doch noch Karriere machen zu können, wenn Othello erst einmal weg ist, weshalb er Roderigo hilft, einen Keil zwischen Othello und dessen junge Frau zu treiben. Jago tut das, indem er Othellos Hirn und Herz mit einem Virus infiziert, einem ebenso tödlichen wie resistenten Virus, den es in vielen Spielarten gibt. Eifersucht. Othello wird krank, die Eifersucht löst epileptische Anfälle bei ihm aus, er liegt von Krämpfen geschüttelt auf der Bühne. Schließlich tötet Othello seine Frau und am Ende des Stückes sich selbst.« Aune zupfte an den Ärmeln seiner Tweedjacke. »Ich erzähle Ihnen das alles nicht, weil Shakespeare Prüfungsstoff ist, sondern weil ein bisschen Allgemeinbildung nicht schaden kann.« Gelächter. »Also was – meine nicht eifersüchtigen Damen und Herren – ist das Othello-Syndrom?«

»Was verschafft mir die Ehre des hohen Besuchs?«, flüsterte Harry Hole. Er hatte sich am hinteren Rand des Hörsaals neben Mikael Bellman gestellt. »Interessiert an Eifersucht?«

»Nein«, sagte Bellman. »Ich möchte, dass Sie die Ermittlungen in dem aktuellen Mordfall übernehmen.«

»Ich fürchte, Sie haben sich die Mühe umsonst gemacht.«

»Ich will, dass Sie so vorgehen, wie Sie das schon früher gemacht haben. Sie sollen eine kleine Gruppe leiten, die parallel und unabhängig von der großen Ermittlergruppe arbeitet.«

»Danke, Herr Polizeipräsident, aber meine Antwort lautet nein.«

»Wir brauchen Sie, Harry.«

»Ja. Hier.«

Bellman lachte kurz. »Ich zweifle nicht daran, dass Sie ein guter Dozent sind, aber hier sind Sie ersetzbar. Anders als Ermittler.«

»Ich bin fertig mit Mord.«

Mikael Bellman schüttelte lächelnd den Kopf. »Kommen Sie, Harry. Wie lange, glauben Sie, können Sie sich hier verstecken und so tun, als ob Sie ein anderer wären? Sie sind kein Vegetarier wie der da vorne, Harry. Sie sind ein Raubtier, genau wie ich.«

»Meine Antwort lautet nein.«

»Und Raubtiere haben bekanntlich scharfe Zähne, weshalb sie auf der obersten Stufe der Nahrungskette stehen. Da vorne sehe ich Oleg sitzen. Wer hätte gedacht, dass er einmal auf der Polizeihochschule anfangen würde.«

Harrys Nackenhaare stellten sich warnend auf. »Ich führe das Leben, das ich führen will, Bellman. Ich kann nicht zurück, meine Antwort ist endgültig.«

»Besonders wenn man bedenkt, dass es für eine Aufnahme entscheidend ist, keine Vorstrafen zu haben.«

Harry antwortete nicht. Aune erntete erneut Lacher, und Bellman lachte mit. Dann legte er eine Hand auf Harrys Schulter, beugte sich zu ihm vor und senkte die Stimme noch weiter: »Auch wenn das jetzt ein paar Jahre her ist, ich habe noch immer Kontakte, die jederzeit bezeugen würden, dass Oleg damals Heroin gekauft hat. Strafrahmen zwei Jahre. Er würde dafür kaum noch ins Gefängnis müssen, aber Polizist wird man damit nicht.«

Harry schüttelte den Kopf. »So etwas würden nicht einmal Sie tun, Bellman.«

Bellman gluckste leise. »Nicht? Mag sein, dass es Ihnen so vorkommt, als würde ich zu große Geschütze auffahren, aber es ist wirklich wichtig für mich, dass dieser Fall gelöst wird.«

»Aber welchen Vorteil hätten Sie, wenn das Leben meiner Familie zerstört wird, weil ich ablehne?«

»Wohl keinen, aber vergessen wir nicht, dass ich – wie war noch gleich das Wort dafür? – Sie hasse

Harry starrte auf die Rücken vor sich. »Sie sind kein Mann, der sich von Gefühlen leiten lässt, Bellman. Das ist nicht Ihr Ding. Wie wollen Sie begründen, dass Sie diese wichtige Information über den Polizeischüler Oleg Fauke so lange zurückgehalten haben? Es ist keine gute Idee zu bluffen, wenn der Gegner weiß, wie schlecht Ihre Karten sind.«

»Wenn Sie die Zukunft des Jungen darauf verwetten wollen, dass ich bluffe, dann nur zu, Harry. Nur dieser eine Fall. Lösen Sie ihn für mich, und die Sache ist ein für alle Mal aus der Welt. Ich brauche Ihre Antwort bis heute Nachmittag.«

»Nur aus Neugier, Bellman. Warum ist gerade dieser Fall so wichtig für Sie?«

Bellman zuckte mit den Schultern. »Politik. Raubtiere brauchen Fleisch. Und vergessen Sie nicht, dass ich ein Tiger bin, Harry. Und Sie nur ein Löwe. Der Tiger wiegt mehr und hat mehr Hirn pro Kilo Körpergewicht. Die Römer im Colosseum wussten, dass der Löwe stirbt, wenn sie ihn zu dem Tiger in die Arena schicken.«

Harry sah, wie sich im Hörsaal ein Kopf umdrehte. Oleg lächelte ihn mit nach oben gestrecktem Daumen an. Der Junge war jetzt bald zweiundzwanzig. Harry hob ebenfalls den Daumen und versuchte zu lächeln. Als er sich wieder umdrehte, war Bellman verschwunden.

»In der Regel erkranken Männer am Othello-Syndrom«, dröhnte Aunes Stimme. »Während männliche Täter mit Othello-Syndrom die Tendenz haben, ihre Hände zum Morden zu benutzen, verwenden weibliche Othellos Schlagwaffen oder Messer.«

Harry hörte genau hin. Auf das dünne, dünne Eis über dem schwarzen Wasser unter seinen Füßen.

»Du siehst so ernst aus«, sagte Aune, als er von der Toilette zurück in Harrys Büro kam, den Rest seines Kaffees trank und den Mantel anzog. »Hat dir die Vorlesung nicht gefallen?«

»Doch, sehr. Bellman war da.«

»Habe ich gesehen. Was wollte er?«

»Er hat versucht, mich unter Druck zu setzen. Ich soll die Ermittlungen in dem aktuellen Mordfall übernehmen.«

»Und was hast du geantwortet?«

»Nein.«

Aune nickte. »Gut. Es frisst die Seele auf, wenn man so engen Kontakt mit dem Bösen hat, wie du und ich es gehabt haben. Für andere ist das vielleicht nicht zu erkennen, aber es hat schon ­einige von uns kaputtgemacht. Und es ist an der Zeit, dass unsere Liebsten endlich die Aufmerksamkeit bekommen, die bisher den Soziopathen vorbehalten war. Unsere Schicht ist um, Harry.«

»Willst du damit sagen, dass du raus bist?«

»Ja.«

»Nicht dass ich das nicht gut nachvollziehen könnte, aber gibt’s auch einen konkreten Anlass?«

Aune zuckte mit den Schultern. »Nur dass ich zu viel gearbeitet habe und zu wenig zu Hause war. Und wenn ich an Mordfällen arbeite, bin ich auch dann nicht zu Hause, wenn ich zu Hause bin. Das kennst du ja, Harry. Und Aurora, sie …« Aune blies die Wangen auf und atmete wieder aus. »Die Lehrer meinen, dass es langsam bergauf geht. Es kommt vor, dass Kinder in ihrem Alter extrem verschlossen sind und etwas ausprobieren. Eine Wunde auf dem Handrücken bedeutet noch nicht, dass sie sich systematisch selbst verletzen, das kann auch eine Art Experiment sein. Aber es ist immer besorgniserregend für einen Vater, wenn er nicht mehr zu seinem Kind durchdringt. Vielleicht besonders frustrierend für einen berühmten Psychologen.«

»Sie ist jetzt fünfzehn, oder?«

»Und noch bevor sie sechzehn ist, kann das alles vergessen sein und weit hinter uns liegen. Solche Phasen sind verdammt typisch für dieses Alter. Aber wenn man sich um seine Liebsten kümmern will, sollte man das nicht bis nach einem Fall aufschieben, bis zum Ende des Arbeitstages, sondern man sollte ­sofort für sie da sein. Oder was meinst du, Harry?«

Harry drückte seine unrasierte Oberlippe zwischen Daumen und Zeigefinger zusammen und nickte langsam. »Hm, schon.«

»Dann gehe ich jetzt«, sagte Aune, nahm seine Tasche und zog einen Stapel Fotos heraus. »Hier sind übrigens die Tatortfotos, die Katrine mir geschickt hat. Ich brauche sie, wie gesagt, nicht.«

»Und was soll ich damit?«, fragte Harry und starrte auf den Leichnam einer Frau auf einem blutigen Bett.

»Für den Unterricht, dachte ich. Du sprichst doch über diesen alten Fall, Das fünfte Zeichen, ich schließe daraus, dass du tatsächliche Mordfälle besprichst und echte Dokumente nutzt.«

»Die gelöst wurden«, sagte Harry und versuchte seinen Blick von dem Foto der Frau loszureißen. Das Setting kam ihm irgendwie bekannt vor. Wie ein Echo. Hatte er die Frau schon einmal gesehen? »Wie heißt das Opfer?«

»Elise Hermansen.«

Bei dem Namen klingelte nichts bei ihm. Harry sah sich das nächste Foto an. »Und die Wunden am Hals, was ist das?«

»Du hast wirklich nichts über diesen Fall gelesen? Der prangt doch auf jeder Titelseite. Kein Wunder, dass Bellman dich zu shanghaien versucht. Eisenzähne, Harry.«

»Eisenzähne? Ein Satanist?«

»Wenn du die VG liest, steht da auch etwas von meinem Kollegen Hallstein Smith. Er hat getwittert, dass da ein Vampirist sein Unwesen treibt.«

»Vampirist? Also ein Vampir?«

»Wenn das so einfach wäre«, sagte Aune und holte eine ausgerissene Zeitungsseite aus seiner Tasche. »Ein Vampir findet sich in der Zoologie und der Fiktion. Ein Vampirist ist laut Smith und einigen anderen Psychologen ein Mensch, der Befriedigung empfindet, wenn er das Blut anderer Menschen trinkt. Lies da …«

Harry las die Twitter-Meldung, auf die Aune deutete. Sein Blick blieb am letzten Satz hängen. Ein Vampirist wird immer wieder zuschlagen.

»Hm. Dass es davon nur wenige gibt, heißt ja nicht, dass in dieser Meldung nicht ein bisschen Wahrheit steckt, oder?«

»Bist du verrückt? Das ist völliger Unsinn, dabei mag ich ambitionierte Menschen wie Smith. Er hat aber in seinem Studium ­einen fatalen Fehler gemacht und sich so den Spitznamen Affe eingehandelt. Und ich fürchte, dass er deshalb in Psychologenkreisen weiterhin als nicht glaubwürdig gilt. Dabei war er ein wirklich vielversprechender Psychologe, bis er sich in das Thema Vampirismus verstiegen hat. Seine Artikel waren gar nicht schlecht, aber sie wurden natürlich in keiner einzigen Fachzeitschrift publiziert. Jetzt hat ihn wenigstens mal die VG zitiert.«

»Und warum glaubst du nicht an Vampirismus?«, fragte Harry. »Du hast doch selbst gesagt, dass es nichts gibt, was es nicht gibt.«

»Ja, schon, es gibt alles. Oder es wird es irgendwann geben. Unsere sexuelle Phantasie handelt von dem, was wir imstande sind, uns auszudenken und zu fühlen. Und das ist bekanntermaßen ziemlich grenzenlos. Dendrophilie zum Beispiel, sexuelle Erregung durch Bäume. Oder Kakorrhaphiaphilie, das bedeutet, dass du geil davon wirst zu versagen. Aber damit man von -philie oder -ismus sprechen kann, muss es für diese Abnormität schon eine gewisse Verbreitung und einen gemeinsamen Nenner geben. Smith und seine gleichgesinnten mythomanischen Psychologen haben sich ihren eigenen Ismus geschaffen. Aber sie irren sich, es gibt keine Gruppe sogenannter Vampiristen, die einem festen Handlungsmuster folgt, über das man Aussagen treffen könnte.« Aune knöpfte sich den Mantel zu und ging zur Tür. »Während die Tatsache, dass du unter Angst vor Nähe leidest und es nicht schaffst, deinen besten Freund zum Abschied in den Arm zu nehmen, schon genug Stoff für eine psychologische Theorie bietet. Grüß bitte Rakel von mir, und sag ihr, dass ich ihre Kopfschmerzen bannen werde? Harry?«

»Was? Ja, natürlich. Grüßen. Ich hoffe, die Sache mit Aurora klärt sich.«

Harry blieb sitzen und starrte vor sich hin, nachdem Aune gegangen war. Am Abend war er ins Wohnzimmer gekommen, als Rakel sich einen Film angesehen hatte. Nach einem Blick auf den Bildschirm hatte er sich gefragt, ob das ein James-Gray-Film war. Zu sehen war ein neutrales Straßenbild ohne Schauspieler, ohne auffällige Autos, kein besonderer Kamerawinkel, zwei Sekunden eines Films, den Harry nicht kannte. Obwohl, ein Bild ist nie ganz neutral. Harry hatte keine Ahnung, wieso ihm ge­rade dieser Regisseur eingefallen war. Abgesehen davon, dass er ein paar Monate zuvor einen James-Gray-Film gesehen hatte. Vielleicht also eine simple, automatische Kopplung. Ein Film, den er gesehen hatte, und irgendwann später ein Zwei-Sekunden-Ausschnitt, der ein oder zwei Details enthielt, die so schnell durch sein Hirn schossen, dass er nicht ausmachen konnte, wor­in der Wiedererkennungseffekt bestand.

Harry griff zu seinem Handy.

Zögerte. Dann suchte er die Nummer von Katrine Bratt heraus. Sah, dass ihr letzter Kontakt mehr als sechs Monate zurücklag. Eine SMS, in der sie ihm zum Geburtstag gratuliert hatte. Er hatte damals knapp mit »danke« geantwortet. Ohne Großbuchstaben oder Punkt. Er wusste, dass sie wusste, dass das nichts zu bedeuten hatte und er lediglich keine langen SMS mochte.

Sein Anruf wurde nicht angenommen.

Als er ihre Direktnummer im Präsidium wählte, ging Magnus Skarre ans Telefon. »Oha, Harry Hole persönlich.« Die Ironie war so offenkundig, dass Harry kein Raum für Deutungen blieb. Er hatte nicht viele Fans im Morddezernat, und Skarre gehörte definitiv nicht dazu. »Nein, ich habe Bratt heute nicht gesehen. Was ungewöhnlich ist für eine frischernannte Ermittlungsleiterin. Wir haben hier nämlich verdammt viel zu tun.«

»Könntest du ihr sagen, dass ich …«

»Ruf lieber wieder an, Hole, wir müssen so schon genug im Kopf behalten.«

Harry legte auf. Trommelte mit den Fingern auf die Tischplatte und sah zu dem Stapel Hausarbeiten, der auf der einen Seite des Schreibtischs lag. Und dem Stapel mit Fotos auf der anderen. Dachte an Bellmans Raubtieranalogie. Löwe? Tja, warum nicht? Er hatte gelesen, dass Löwen, die allein jagten, eine Erfolgsquote von nur 15 Prozent hatten. Und dass Löwen, wenn sie große ­Beutetiere töteten, diesen nicht die Kehle durchbeißen konnten, sondern sie ersticken mussten. Sie schlugen ihre Zähne in den Hals ihrer Opfer und drückten die Luftröhre zu. Was ­dauern konnte. Bei großen Tieren, zum Beispiel Wasserbüffeln, war es möglich, dass der Löwe sich und sein Opfer stundenlang quälte und dann trotzdem irgendwann aufgeben musste. Genau wie bei einer Mordermittlung. Harte Arbeit und kein Lohn.

Er hatte Rakel versprochen, sich für immer davon fernzuhalten. Er hatte es sich selbst versprochen.

Harry sah noch einmal auf den Stapel Fotos. Elise Hermansen. Der Name war hängengeblieben. Ebenso die Details des Fotos, wie sie auf dem Bett lag. Aber es waren nicht die Details, sondern der Gesamteindruck. Der Film, den Rakel gesehen hatte, hieß übrigens The Drop – Bargeld. Und der Regisseur war nicht James Gray. Harry hatte sich geirrt. 15 Prozent. Und dennoch.

Es war die Art, wie sie dort lag. Wie drapiert. Arrangiert. Das Echo eines vergessenen Traumes. Ein Ruf im Wald. Die Stimme eines Mannes, dessen Namen er vergessen wollte. Eines Mannes, der ihnen entkommen war.

Harry erinnerte sich an einen bekannten Gedanken: Der Moment, in dem er die Kontrolle verlor, den Deckel von der Flasche schraubte und den ersten Schluck nahm, war nicht entscheidend. Die Entscheidung war lange vorher gefallen. Danach war es nur noch eine Frage der Gelegenheit. Die kommen würde. Irgendwann würde die Flasche vor ihm stehen. Sie wartete schon lange auf ihn. Und er auf sie. Der Rest war bewegte elektrische Ladung, Magnetismus, die Unabänderlichkeit physikalischer Gesetze.

Verdammt. Verdammt.

Harry stand abrupt auf, nahm seine Lederjacke und hastete aus seinem Büro.

Er warf einen Blick in den Spiegel und sah, dass die Jacke saß, wie sie sitzen sollte. Er hatte ein letztes Mal ihr Profil gelesen und verachtete sie bereits. W in einem Namen, der wie sein eigener mit V geschrieben werden sollte. Das allein war Grund genug für Strafe. Er hätte ein anderes Opfer vorgezogen, jemanden, der mehr nach seinem Geschmack war. Wie Katrine Bratt. Aber die Entscheidung war ihm abgenommen worden. Die Frau mit dem W im Namen wartete auf ihn.

Er knöpfte den letzten Knopf der Jacke zu und ging nach draußen.

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