Kapitel 9

Freitagnachmittag

Um 15 Uhr hatte Katrine eine Besprechung mit der Kriminaltechnik, um 16 Uhr eine mit der Rechtsmedizin. Beide Treffen waren ernüchternd. Wiederum eine Stunde später saß sie im Büro des Polizeipräsidenten Mikael Bellman.

»Ich bin froh über deine positive Reaktion, dass wir Harry Hole ins Boot geholt haben.«

»Warum sollte ich nicht froh sein? Harry ist unser erfolgreichster Ermittler.«

»Andere Leiter hätten das vielleicht als – wie heißt das Wort, nach dem ich suche? – Provokation verstanden, wenn ihnen so ein erfahrener Haudegen in die Karten guckt.«

»Kein Problem, ich spiele immer mit offenen Karten.« Katrine lächelte knapp.

»Gut. Harry soll ja ohnehin seine eigene kleine, unabhängige Gruppe leiten, du brauchst also keine Angst zu haben, dass er sich einmischt. Und Konkurrenz belebt ja bekanntlich das Geschäft.« Bellman legte die Fingerkuppen aneinander, und Katrine bemerkte, dass einer seiner Pigmentflecken sich bis über den Ehering hinaus ausgebreitet hatte. »Ich stehe bei diesem Wettkampf natürlich auf Seiten der Konkurrentin. Ich hoffe, wir können mit schnellen Resultaten rechnen, Bratt.«

»So, so«, sagte Katrine tonlos und sah auf die Uhr.

»Wie bitte?«

Sie hörte die Irritation in seiner Stimme. »Du hoffst also auf schnelle Resultate.«

Sie war sich im Klaren darüber, dass sie den Polizeipräsidenten gerade mit voller Absicht provozierte. Nicht weil sie es wollte. Es ging einfach nicht anders.

»Und das solltest du auch tun, Hauptkommissarin Bratt. Frauenquote hin oder her, Jobs wie deinen gibt es nicht wie Sand am Meer.«

»Ich werde versuchen, mich würdig zu erweisen.«

Sie hielt seinem Blick stand. Die Augenklappe betonte, wie intensiv und schön das noch verbliebene Auge war. Und wie berechnend hart.

Sie hielt die Luft an.

Er lachte plötzlich laut. »Ich mag dich, Katrine. Aber ich muss dir einen Rat geben.«

Sie wartete, war auf alles vorbereitet.

»Bei der nächsten Pressekonferenz solltest du und nicht Hagen das Wort führen. Und am besten betonst du, wie kompliziert der Fall ist, dass wir noch keine konkreten Spuren haben und damit rechnen, dass die Ermittlungen sich eine ganze Weile hinziehen werden. Das bremst die Medien ein wenig aus und lässt uns mehr Spielraum.«

Katrine verschränkte die Arme vor der Brust. »Das kann den Mörder aber auch ermutigen und dazu bewegen, noch einmal zuzuschlagen.«

»Ich glaube nicht, dass den Mörder wirklich das antreibt, was in den Zeitungen steht.«

»Wenn du meinst. Ich muss jetzt wirklich die nächste Sitzung der Ermittlergruppe vorbereiten.«

Katrine sah die stille Warnung im Blick des Polizeipräsidenten. »Tu das, aber beherzige meinen Rat. Sag den Medien bei der nächsten Pressekonferenz, dass der Fall der schwierigste ist, mit dem du je zu tun hattest.«

»Ich …«

»Natürlich mit deinen eigenen Worten. Wann ist die nächste anberaumt?«

»Die für heute haben wir abgesagt, weil wir nichts Neues haben.«

»Okay. Und denk dran, die Freude, wenn wir den Fall lösen, wird umso größer sein, wenn wir ihn als kompliziert darstellen. Außerdem lügen wir ja nicht, wir haben wirklich nichts, oder? Noch dazu lieben die Medien große Rätsel. Betrachte das als Win-win-Situation.«

Scheiß Win-win, dachte Katrine, als sie die Treppe runter ins Dezernat nahm.

Um 18 Uhr begann sie die Besprechung mit der Ermittlergruppe. Als Erstes betonte sie, wie wichtig es sei, dass die Berichte geschrieben und im internen Netz veröffentlicht wurden, damit nicht so etwas passierte wie bei Geir Sølle, dem Tinder-Date von Elise Hermansen, der wegen des fehlenden Berichts ein zweites Mal kontaktiert werden musste.

»Natürlich ist das aufwendig, aber so vermeiden wir, dass die Leute da draußen das Gefühl kriegen, hier im Präsidium wüsste die eine Hand nicht, was die andere tut.«

»Das muss ein Computer- oder Systemfehler gewesen sein«, sagte Truls Berntsen, obwohl Katrine seinen Namen gar nicht genannt hatte. »Ich habe den Bericht geschrieben und veröffentlicht.«

»Tord?«, sagte Katrine.

»In den letzten Tagen wurde kein Systemfehler dokumentiert«, sagte Tord Gren, rückte seine Brille zurecht, sah Katrine an und deutete deren Blick richtig. »Aber es kann natürlich sein, dass mit Ihrem PC etwas nicht stimmt, Berntsen, ich werde mir den mal ansehen.«

»Apropos, Tord, kannst du uns deinen neuesten Geniestreich vorstellen?«

Der IT-Experte wurde rot, nickte und begann etwas steif zu erzählen, als würde er aus einem Manuskript vortragen.

»Standortdienste. Die meisten Handybesitzer lassen durch eine oder mehrere Apps fortlaufend aufzeichnen, wo sie sich gerade befinden, viele machen das mit Sicherheit, ohne es zu wissen.«

Pause. Tord schluckte. Katrine wusste, wie schwer es ihm fiel, vor der Gruppe zu reden. Er hatte offensichtlich sein Manuskript auswendig gelernt, nachdem sie ihn gebeten hatte, seine Arbeit in der Ermittlergruppe vorzustellen.

»Viele dieser Apps verkaufen die Standorte an kommerzielle Dritte, nicht aber an die Polizei. Ein solcher Drittnutzer ist zum Beispiel Geopard. Drittnutzer sammeln Standortdaten und können diese Daten, ohne rechtliche Beschränkung, an die Öffentlichkeit, also auch an die Polizei weiterverkaufen. Kommen ­Sexualstraftäter frei, speichern wir deren Daten, also Adresse, Handynummer und E-Mail, da wir routinemäßig Kontakt zu diesen Personen aufnehmen, wenn es zu ähnlichen Sexualstraftaten kommt. Man geht gemeinhin davon aus, dass das Risiko einer Wieder­holungstat bei dieser Art von Verbrechen sehr hoch ist. Obwohl moderne Forschungen belegen, dass diese Annahme falsch ist. Vergewaltigungen gehören tatsächlich zu den Straftaten mit der geringsten Wiederholungsrate. BBC Radio 4 hat erst kürzlich in einem Bericht die Rückfallquote bei Straftätern mit 60 Prozent für die USA und 50 Prozent für Großbritannien angegeben. ­Häufig handelt es sich dabei um die gleiche Art des Verbrechens. Bei Vergewaltigungen sehen die Zahlen ganz anders aus. Eine Statistik des amerikanischen Justizministe­riums zeigt, dass 78,8 Prozent der Straftäter, die wegen Diebstahls eines Motorfahrzeugs verhaftet worden sind, innerhalb von drei Jahren noch einmal wegen einer ähnlichen Straftat verhaftet werden. Bei Hehlerei sind es 77,4 Prozent und so weiter. Während das nur bei 2,5 Prozent der Vergewaltiger der Fall ist.«

Tord zögerte. Vermutlich spürte er, wie begrenzt die Aufnahmekapazität der Gruppe für solche Berechnungen war. Dann räusperte er sich.

»Wie dem auch sei. Wenn wir die Kontaktdaten unserer Straftäter an Geopard senden, können die uns eine Karte generieren, aus der ersichtlich wird, wo sich die Mobilgeräte dieser Personen zu einem bestimmten Zeitpunkt oder über einen begrenzten Zeitraum hinweg, zum Beispiel am Mittwochabend, befunden haben, vorausgesetzt natürlich, sie nutzen einen der relevanten Standortdienste.«

»Wie genau sind die?«, rief Magnus Skarre.

»Bis auf wenige Quadratmeter genau«, sagte Katrine. »Aber das GPS ist nur zweidimensional, wir sehen also nicht, in welcher Höhe oder auf welcher Etage sich das Telefon befunden hat.«

»Ist das wirklich gesetzeskonform?«, fragte Gina, eine der Analytikerinnen. »Ich meine, wie ist das mit dem Datenschutz …?«

»Der kann mit der technischen Entwicklung kaum Schritt halten«, fiel ihr Katrine ins Wort. »Ich habe mit dem Staatsanwalt gesprochen. Er meint, wir bewegen uns da in einer Grauzone, verstoßen aber nicht gegen geltendes Recht. Und was nicht ­verboten ist, ist bekanntlich …« Sie breitete die Arme aus, doch niemand im Raum wollte ihren Satz zu Ende bringen. »Weiter, Tord.«

»Mit Einwilligung der Staatsanwaltschaft und der Genehmigung von Gunnar Hagen haben wir Standortdaten gekauft. Die Karten der Mordnacht nennen uns die GPS-Positionen von 91 Prozent der bekannten Sexualverbrecher.« Tord hielt inne und dachte einen Moment nach. »Das war’s.«

Katrine war klar, dass Tord am Ende seines Vortrags angekommen war. Ihr war nur nicht klar, warum kein begeistertes Raunen durch den Raum ging.

»Versteht ihr denn nicht, wie viel Arbeit wir uns so sparen können? Wenn wir, wie früher, jeden Einzelnen hätten abhaken müssen …?«

Ein Räuspern war zu hören. Es kam von Wolff, dem Ältesten von ihnen allen. Er hätte längst pensioniert sein sollen. »Abhaken heißt dann wohl, dass die Karte keinen Treffer bei Elise Hermansen ergeben hat?«

»Ja«, sagte Katrine und stemmte die Hände in die Seiten. »Und dass wir nur bei den letzten neun Prozent das Alibi überprüfen müssen.«

»Wo das Telefon von einem ist, gibt einem doch noch kein Alibi«, sagte Skarre und sah sich beifallheischend um.

»Du verstehst schon, was ich meine«, sagte Katrine resigniert. Was war nur mit dieser Gruppe los? Sie waren hier, um einen Mord aufzuklären, und nicht, um sich gegenseitig die Energie zu rauben. »Kriminaltechnik«, sagte sie und setzte sich in die erste Reihe, um ihre Kollegen nicht ständig ansehen zu müssen.

»Nicht viel«, sagte Bjørn Holm und stand auf. »Das Labor hat die Farbe in der Wunde untersucht. Ziemlich spezielles Zeugs. Wir nehmen an, dass es sich um in Essig aufgelöste Eisenspäne handelt, denen aus Tee gewonnene pflanzliche Gerbsäure beigemischt war. Weitere Recherchen haben ergeben, dass diese Farbe in einer alten japanischen Tradition benutzt wurde, bei der man sich die Zähne schwarz gefärbt hat.«

»Ohaguro«, sagte Katrine. »Dunkelheit, nachdem die Sonne untergegangen ist.«

»Ja, korrekt«, sagte Bjørn und warf ihr den gleichen anerkennenden Blick zu wie manchmal beim Frühstück im Café, wenn es ihr endlich einmal gelungen war, vor ihm die Aftenposten-Quizfrage zu lösen.

»Danke«, sagte Katrine, und Bjørn setzte sich. »Dann zu unserem eigentlichen Problem. Die VG nennt es Quelle, für uns ist es ein Leck.« In dem bereits stillen Raum wurde es noch stiller.

»Eine Sache ist der bereits entstandene Schaden. Der Mörder weiß jetzt, was wir wissen, und kann sein Vorgehen anpassen. Schlimmer ist, dass wir hier in diesem Raum nicht wissen, ob wir einander vertrauen können. Deshalb stelle ich die Frage ganz direkt: Wer hat mit der VG gesprochen?«

Zu ihrer Überraschung schnellte eine Hand in die Höhe.

»Ja, Truls?«

»Müller und ich haben gestern nach der Pressekonferenz mit Mona Daa geredet.«

»Sie meinen Wyller?«

»Ja, der Neue. Wir haben nichts gesagt. Aber die Frau hat dir ihre Visitenkarte gegeben, nicht wahr, Müller?«

Alle Blicke richteten sich auf Anders Wyller, der unter seinen hellen Haaren knallrot geworden war.

»Ich … ja, aber …«

»Wir wissen alle, dass Mona Daa die Kriminalreporterin der VG ist«, sagte Katrine. »Man braucht keine Visitenkarte, um bei denen in der Zentrale anzurufen und zu ihr durchgestellt zu werden.«

»Warst du das, Wyller?«, fragte Magnus Skarre. »Komm schon, jeder Anfänger macht mal Fehler.«

»Aber ich habe nicht mit der VG gesprochen«, sagte Wyller. Seine Stimme klang verzweifelt.

»Berntsen hat doch gerade gesagt, dass ihr mit dieser Frau gesprochen habt«, sagte Skarre. »Willst du behaupten, dass Berntsen lügt?«

»Nein, aber …«

»Jetzt spuck’s schon aus.«

»Sie hat gesagt, dass sie allergisch gegen Katzen ist, und ich habe ihr daraufhin mitgeteilt, dass ich eine Katze habe.«

»Na also, sie haben miteinander geredet! Und was noch?«

»Du kannst genauso gut die Quelle sein, Skarre.« Die tiefe, ruhige Stimme kam von ganz hinten. Alle drehten sich um. Niemand hatte ihn kommen hören. Der großgewachsene Mann lag förmlich in seinem Stuhl, der direkt an der Wand stand.

»Apropos Katze«, sagte Skarre. »Schon erstaunlich, was die ­alles mit anschleppen. Ich habe nicht mit der VG gesprochen, Hole.«

»Du und jeder andere hier im Raum kann ganz unbedarft mit einem Zeugen gesprochen und dabei etwas zu viel preisgegeben haben. Und der Betreffende kann dann bei der Zeitung angerufen und ausgeplaudert haben, was er gerade direkt von den Bullen erfahren hat. Deshalb eine Polizeiquelle. Das passiert immer wieder.«

»Sorry, aber das glaubt hier niemand, Hole«, schnaubte Skarre.

»Das solltet ihr aber«, sagte Harry. »Denn hier wird doch niemand beichten, dass er mit der VG geredet hat. Außerdem, wenn ihr bei den Ermittlungen die ganze Zeit denkt, dass ihr einen Maulwurf in euren Reihen habt, kommt ihr nicht weit.«

»Was macht der eigentlich hier?«, fragte Skarre an Katrine gewandt.

»Harry wird eine Projektgruppe bilden, die parallel zu uns arbeiten wird«, sagte sie.

»Und die vorläufig noch ein Ein-Mann-Team ist«, sagte Harry. »Außerdem bin ich hier, um etwas Material anfzufordern. Die neun Prozent, von denen wir nicht wissen, wo sie sich zum Zeitpunkt des Mordes befunden haben … Kann ich von denen eine Liste haben, sortiert nach der Länge ihres letzten Knastaufenthalts?«

»Das übernehm ich«, sagte Tord, erschrak über sich selbst und sah zu Katrine.

Sie nickte. »Noch mehr?«

»Eine Übersicht, welche Sexualstraftäter Elise Hermansen hinter Gitter gebracht hat. Das wäre alles.«

»Ist notiert«, sagte Katrine. »Und da du schon mal hier bist. Lässt du uns an deinen ersten Gedanken teilhaben?«

»Nun«, sagte Harry und sah sich um. »Ich weiß, dass die Rechtsmedizin Gleitmittel gefunden hat, das aller Voraussicht nach vom Täter stammt. Es kann aber nicht ausgeschlossen werden, dass das eigentliche Motiv Rache ist und der Sex nur on top war. Und dass der Täter schon in ihrer Wohnung war, als sie nach Hause gekommen ist, muss nicht heißen, dass sie ihn hereingelassen hat oder dass sie sich persönlich gekannt haben. Ich würde die Ermittlungen deshalb zu einem so frühen Zeitpunkt nicht einschränken. Aber ich gehe mal davon aus, dass ihr diese Dinge auch auf dem Schirm habt.«

Katrine verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Was auch immer. Es ist auf jeden Fall gut, dich wieder hier zu haben, Harry.«

Der vielleicht beste, vielleicht schlechteste, aber auf jeden Fall berüchtigtste Mordermittler der Osloer Polizei versuchte sich trotz seiner fast liegenden Stellung an einer Verbeugung. »Danke, Chef.«

»Du meintest das ernst«, sagte Katrine, als sie mit Harry im Fahrstuhl stand.

»Was meinte ich ernst?«

»Du hast mich Chef genannt.«

»Natürlich«, sagte Harry.

Sie stiegen in der Tiefgarage aus, und Katrine drückte auf den Autoschlüssel. Irgendwo im Dunkeln blinkte und piepte es. Harry hatte sie überzeugt, doch von dem Dienstwagen Gebrauch zu machen, der ihr während einer Mordermittlung wie dieser zustand. Und danach, dass sie ihn nach Hause fahren durfte – als Gegenleistung für einen Kaffee im Restaurant Schrøder.

»Was ist mit deinem Taxifahrer passiert?«, fragte Katrine.

»Øystein? Der ist rausgeflogen.«

»Bei dir?«

»Im Gegenteil. Bei seinem Taxiunternehmen. Es gab da so einen Zwischenfall.«

Katrine nickte und sah Øystein Eikeland vor sich: ein langhaariges Schmalhemd mit Junkiezähnen und einer Whiskytrinkerstimme. Er sah aus wie siebzig, war aber einer von Harrys Jugendfreunden. Einer von zweien, wie Harry immer betonte. Der andere hieß Holzschuh und war, wenn das überhaupt ging, eine noch bizarrere Figur. Ein übergewichtiger, ziemlich unangenehmer Büroangestellter, der nachts zu einem pokerspielenden Mr Hyde mutierte.

»Was ist passiert?«, fragte Katrine.

»Hm. Willst du das wirklich wissen?«

»Nein, aber sag schon.«

»Øystein reagiert auf Panflöten allergisch.«

»Wer tut das nicht?«

»Er hatte eine Langstreckenfahrt nach Trondheim mit einem Typen, der nur Taxi fahren konnte, wegen Flug- und Zugangst. Aber das war nicht sein einziges Problem, denn unterwegs wollte er unbedingt eine CD mit Panflötenversionen von alten Pop-Hits hören, um dabei seine Atemübungen zu machen, ohne die er nicht leben könne. Na ja, und dann kam es, wie es kommen musste. Als die Panflötenversion von ›Careless Whisper‹ mitten in der Nacht oben auf dem Dovrefjell zum siebten Mal lief, hat Øystein die CD aus der Anlage genommen, das Fenster heruntergelassen und sie rausgeschmissen. Dann gab es ein Handgemenge.«

»Handgemenge ist ein schönes Wort. Und dieser Song ist schon bei George Michael ziemlich unerträglich.«

»Schließlich ist es Øystein gelungen, den Typ rauszusetzen.«

»Während der Fahrt?«

»Nein, aber nachts, mitten im Dovrefjell, etwa zwanzig Kilometer vom nächsten Haus entfernt. Øystein hat zu seiner Verteidigung angeführt, dass es Juli war, heiter bis wolkig, und der Typ ja unmöglich auch Laufangst haben könne.«

Katrine lachte. »Und jetzt ist er arbeitslos? Du solltest ihn als Privatfahrer anstellen.«

»Ich versuche ja, ihm einen Job zu beschaffen, aber Øystein ist – um ihn selbst zu zitieren – schwer vermittelbar und wie geschaffen für die Arbeitslosigkeit.«

Das Restaurant Schrøder ist dem Namen zum Trotz eine ein­fache Kneipe. Das nachmittägliche Stammpublikum war da und nickte Harry wohlwollend zu, keiner sprach ein Wort.

Über das Gesicht der Bedienung hingegen ging ein Strahlen, als wäre der verlorene Sohn zurückgekehrt. Sie servierte ihnen einen Kaffee, der definitiv nicht der Grund dafür sein konnte, dass immer mehr Touristen Oslo als eine der besten Kaffeestädte bezeichneten.

»Schade, dass das mit Bjørn und dir nicht geklappt hat«, sagte Harry.

»Ja.« Katrine wusste nicht, ob er sich wünschte, dass sie etwas mehr ins Detail ging, oder ob das ihr Wunsch war, weshalb sie nur mit den Schultern zuckte.

»Nun«, sagte Harry und führte die Kaffeetasse an die Lippen. »Wie ist dein Leben als frischgebackener Single?«

»Neugierig auf ein Singleleben?«

Er lachte. Und ihr wurde bewusst, dass sie dieses Lachen vermisst hatte. Dass sie es vermisst hatte, ihn zum Lachen zu bringen. Es war jedes Mal wie eine Belohnung.

»Das Singleleben ist okay«, sagte sie. »Ich treffe Männer.« Sie wartete auf eine Reaktion. Hoffte auf eine Reaktion?

»Dann hoffe ich mal, dass Bjørn auch Frauen trifft. Hoffe es für ihn.«

Sie nickte. Dabei war der Gedanke eigentlich neu für sie. Aber trotzdem. Wie ein ironisches Apropos ertönte plötzlich das ­alberne Klingeln eines Tinder-Matches, und Katrine sah eine feuer­rot gekleidete Frau zum Ausgang laufen.

»Warum bist du wieder da, Harry? Das Letzte, was du zu mir gesagt hast, war, dass du nie wieder an einem Mord arbeiten willst.«

Harry drehte die Kaffeetasse in der Hand. »Bellman droht damit, Oleg aus der Polizeihochschule zu werfen.«

Katrine schüttelte den Kopf. »Bellman ist wirklich das größte Arschloch unter Gottes Himmel. Er will, dass ich die Presse anlüge und behaupte, dass dieser Fall eigentlich unlösbar ist. Damit er in einem besseren Licht dasteht, wenn wir ihn doch lösen.«

Harry sah auf die Uhr. »Nun, vielleicht hat Bellman recht. Einem Mörder, der mit Eisenzähnen zubeißt und einen halben Liter Blut von seinem Opfer trinkt, geht es vermutlich mehr um den Mord an sich als um das Opfer. Und damit ist der Fall gleich um Längen komplizierter.«

Katrine nickte. Draußen schien die Sonne, trotzdem glaubte sie weit entfernt Donner zu hören.

»Die Tatortfotos von Elise Hermansen«, sagte Harry. »Musstest du da nicht an etwas Bestimmtes denken?«

»Die Bisswunde im Hals, nein.«

»Ich meine nicht die Details, ich meine …« Harry sah aus dem Fenster. »Das Ganze. Wie wenn du Musik hörst, die du noch nie gehört hast, gespielt von einer Band, die du nicht kennst, und trotzdem hörst du, wer das Lied geschrieben hat. Weil da etwas ist. Aber etwas, das du nicht greifen kannst.«

Katrine betrachtete einen Moment lang Harrys Profil. Die kurzgeschnittenen blonden Haare standen trotzig ab, es waren vielleicht nicht mehr ganz so viele wie früher. Das Gesicht wurde immer markanter, Geheimratsecken und Falten prägten sich immer stärker aus, und selbst die Lachfalten um die Augen konnten diesen Eindruck nicht mehr abmildern. Sie hatte eigentlich nie verstanden, warum sie ihn so unglaublich schön fand.

»Nein«, sagte sie und schüttelte den Kopf.

»Okay.«

»Harry?«

»Hm?«

»Du bist wirklich wegen Oleg wieder da?«

Er sah sie an, eine Augenbraue hochgezogen. »Warum fragst du das?«

Es war genau wie früher. Sein Blick traf sie wie ein elektrischer Schlag. Wie konnte er, der so abwesend, so distanziert wirkte, von nur einer Sekunde auf die andere alles wegschieben und voll und ganz die Aufmerksamkeit seines Gegenübers einfordern … und bekommen? Als gäbe es in dieser Sekunde niemanden sonst auf der ganzen Welt.

»Tja«, sagte sie und lachte kurz. »Warum frage ich das? Komm, brechen wir auf.«

»Ewa mit w. Mama und Papa wollten, dass ich etwas ganz Besonderes bin. Aber dann zeigte sich, dass das in den Ländern hinter dem Eisernen Vorhang ein ganz üblicher Name war.« Sie lachte und nahm einen Schluck aus ihrem Halbliterglas. Öffnete den Mund und wischte mit dem Zeigefinger etwas Lippenstift aus ihrem Mundwinkel.

»Eiserner Vorhang und Ostblock«, sagte der Mann.

»Was?« Sie sah ihn an. Er sah eigentlich ganz gut aus. Auf jeden Fall besser als die, bei denen sie sonst ein Match bekam. Bestimmt hatte er irgendeine andere Macke, etwas, das sich wie schon so oft erst später bemerkbar machte. »Du trinkst langsam«, sagte sie.

»Und du magst Rot.« Der Mann nickte in Richtung des Umhangs, den sie über den Stuhl gelegt hatte.

»Wie dieser Vampir«, sagte Ewa und sah zu dem riesigen Fernsehbildschirm. Das Fußballspiel war vorbei, und die Kneipe, die fünf Minuten zuvor noch voll gewesen war, leerte sich langsam. Sie merkte, dass sie etwas angetrunken war. »Hast du die VG gelesen? Er hat tatsächlich ihr Blut getrunken! Kannst du dir so was vorstellen?«

»Ja«, sagte der Mann. »Weißt du, wo sie ihren letzten Drink genommen hat? Nur hundert Meter die Straße runter, in der Jealousy Bar

»Wirklich?« Sie sah sich um. Die meisten Gäste schienen in irgendwelchen Gruppen unterwegs zu sein. Ein Mann war ihr allerdings aufgefallen. Er hatte allein in einer Ecke gesessen und sie beobachtet. Jetzt war er weg. Der Schleicher war das aber nicht gewesen.

»Ja, wirklich. Noch einen Drink?«

»Ja, den brauche ich jetzt«, sagte sie mit einem Schaudern. »Puh.«

Sie gab dem Barkeeper ein Zeichen, der den Kopf schüttelte. Der Minutenzeiger hatte die magische Grenze passiert.

»Sieht aus, als müssten wir den auf ein anderes Mal verschieben«, sagte der Mann.

»Ausgerechnet jetzt, wo du mir solche Angst gemacht hast«, sagte Ewa. »Dafür musst du mich nach Hause bringen.«

»Natürlich«, sagte der Mann. »Tøyen, oder?«

»Komm«, sagte sie und legte sich den roten Umhang über die rote Bluse. Draußen auf dem Bürgersteig schwankte sie kurz und hielt sich an ihm fest.

»Ich hatte mal so einen Stalker«, sagte sie. »Den habe ich Schleicher genannt. Ich habe ihn einmal getroffen und … Ja, wir hatten unseren Spaß. Aber als ich nicht mehr wollte, wurde er ­eifersüchtig und tauchte immer wieder auf, wenn ich unterwegs war und jemanden getroffen habe.«

»Wie unangenehm.«

»Und wie.« Sie lachte. »Natürlich ist es irgendwie auch eine Bestätigung, wenn man jemanden so verhexen kann, dass er nur noch an einen denkt.« Sie hustete.

Der Mann ließ sie bei sich einhaken und hörte höflich zu, während sie ihm von den anderen Männern erzählte, die sie verhext hatte.

»Weißt du, ich war mal richtig schön. Anfangs war ich deshalb gar nicht so überrascht, dass er überall auftauchte. Aber dann wurde mir irgendwann klar, dass er ja unmöglich wissen konnte, wohin ich abends gehen wollte. Und weißt du was?« Sie blieb abrupt stehen und schwankte wieder.

»Äh, nein.«

»Manchmal hatte ich das Gefühl, er wäre in meiner Wohnung gewesen. Das Gehirn registriert den Geruch von Menschen, es erkennt Gerüche ganz unbewusst.«

»Aha.«

»Stell dir mal vor, vielleicht war der ja der Vampir!«

»Das wäre aber schon ein echt großer Zufall. Wohnst du hier?«

Sie sah überrascht an der Fassade hoch, die vor ihr aufragte. »Ja, genau. Das ging aber schnell.«

»Du weißt ja, Ewa, in guter Gesellschaft vergeht die Zeit wie im Flug. Dann bleibt mir wohl nur noch, mich …«

»Willst du nicht noch mit hochkommen? Ich habe bestimmt noch eine Flasche da.«

»Ich glaube, wir haben beide genug …«

»Nur um sicherzugehen, dass er nicht da ist. Bitte.«

»Das ist doch wirklich unwahrscheinlich.«

»Guck mal, da brennt Licht in der Küche«, sagte sie und zeigte auf ein Fenster in der untersten Etage. »Ich bin mir sicher, dass ich es ausgemacht habe, bevor ich gegangen bin.«

»Bist du?«, sagte der Mann und unterdrückte ein Gähnen.

»Glaubst du mir nicht?«

»Du, tut mir leid, aber ich muss jetzt wirklich nach Hause und ins Bett.«

Sie sah ihn vorwurfsvoll an. »Wo sind nur die wahren Gentlemen geblieben?«

Er lächelte vorsichtig. »Die … äh, sind vielleicht schon nach Hause gegangen und im Bett?«

»Ha! Du bist verheiratet und kriegst jetzt kalte Füße, was?«

Der Mann musterte sie. Als täte sie ihm leid.

»Ja«, sagte er. »So ist es. Schlaf gut.«

Sie schloss die Haustür auf und ging die wenigen Stufen zu ihrer Wohnung hoch. Lauschte. Sie hörte nichts. Sie hatte keine Ahnung mehr, ob sie das Licht in der Küche angelassen hatte, um ihn in die Wohnung zu locken. Aber nachdem sie ausgesprochen hatte, dass sie es definitiv ausgemacht hatte, sah sie plötzlich Gespenster. Vielleicht war der Schleicher wirklich in ihrer Wohnung.

Sie hörte schlurfende Schritte hinter der Kellertür, dann wurde die Tür geöffnet, und ein Mann in Wachmannuniform trat in den Flur. Er schloss die Tür mit einem weißen Schlüssel wieder ab, drehte sich um und zuckte zusammen, als er sie sah.

»Ich habe Sie nicht gehört«, sagte er. »Tut mir leid.«

»Probleme?«

»In letzter Zeit sind die Verschläge im Keller mehrmals aufgebrochen worden, deshalb hat die Hausverwaltung uns gebeten, da ab und zu einmal nachzusehen.«

»Dann arbeiten Sie für uns?« Ewa legte den Kopf schief. Er sah auch nicht schlecht aus. Nicht ganz so jung wie die meisten Wachmänner, aber immerhin.

»Darf ich Sie vielleicht bitten, einen Blick in meine Wohnung zu werfen? Wissen Sie, bei mir ist auch schon mal eingebrochen worden. Und grad hab ich gesehen, dass da Licht brennt, wo ich sicher bin, dass ich es ausgemacht habe …«

Der Wachmann zuckte mit den Schultern. »Es gehört nicht zu unseren Aufgaben, Wohnungen zu kontrollieren, aber das ist ­sicher okay.«

»Endlich ein Mann, der zu etwas zu gebrauchen ist«, sagte Ewa und ließ noch einmal ihren Blick über ihn gleiten. Ein erwachsener Wachmann. Bestimmt nicht der Schlaueste, aber solide und verlässlich. Und umgänglich. Der gemeinsame Nenner ihrer früheren Männer war, dass sie alles hatten: einen guten Namen, die Aussicht auf ein solides Erbe, Bildung, Zukunft. Und sie hatten sie vergöttert, dabei aber auch alle so viel getrunken, dass ihre gemeinsame Zukunft irgendwann den Bach runtergegangen war. Es war an der Zeit, etwas Neues auszuprobieren. Ewa stellte sich ins Profil, beugte sich nach vorne und suchte nach dem Schlüsselbund. Mein Gott, so viele Schlüssel. Vielleicht hatte sie doch etwas mehr getrunken, als sie vertragen konnte.

Sie fand den richtigen Schlüssel, öffnete die Tür und ließ die Schuhe an, als sie in die Küche ging. Der Wachmann folgte ihr.

»Niemand da«, sagte er.

»Abgesehen von dir und mir«, sagte Ewa mit einem Lächeln und lehnte sich an die Anrichte.

»Nette Küche.« Der Wachmann stand in der Türöffnung und fuhr sich mit der Hand über die Uniform.

»Danke. Wenn ich gewusst hätte, dass ich heute noch Besuch bekomme, hätte ich aufgeräumt.«

»Und vielleicht abgewaschen«, sagte er und lächelte.

»Ja, ja, der Tag hat nur vierundzwanzig Stunden.« Sie strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und versuchte, auf ihren hohen Absätzen das Gleichgewicht zu halten. »Wenn du so nett bist, auch noch die anderen Zimmer zu überprüfen, mixe ich uns einen Cocktail. Einverstanden?« Sie legte eine Hand auf ihren neuen Smoothie-Mixer.

Der Wachmann sah auf die Uhr. »Ich muss in fünfundzwanzig Minuten an der nächsten Adresse sein, aber ich guck trotzdem gerne, ob sich hier irgendwo jemand versteckt.«

»Heutzutage kann ja viel passieren«, sagte sie.

Der Wachmann sah ihr in die Augen, lachte leise, strich sich mit der Hand über das Kinn und ging.

Er ging in Richtung des Zimmers, das er für das Schlafzimmer hielt. Es war so hellhörig in der Wohnung, dass er beinahe verstand, was der Nachbar nebenan sagte. Er öffnete die Tür. Dunkel. Dann schaltete er die sparsame Deckenbeleuchtung ein.

Leer. Das Bett war nicht gemacht. Leere Flasche auf dem Nachtschränkchen.

Er ging weiter. Öffnete die Badezimmertür. Dreckige Fliesen. Der schimmelige Duschvorhang war zugezogen. »Sieht so aus, als wärst du sicher!«, rief er in Richtung Küche.

»Setz dich ins Wohnzimmer«, rief sie zurück.

»Okay, aber ich muss in zwanzig Minuten los.« Er ging ins Wohnzimmer und nahm auf dem durchgesessenen Sofa Platz. Hörte das Klirren von Flaschen, die aneinanderstießen, aus der Küche und ihre schrille Stimme.

»Was willst du trinken?«

Ihre Stimme war wirklich unangenehm. Genau die Art von Stimme, bei der jeder Mann sich wünschte, sie mit einer Fernbedienung ausschalten zu können. Aber sie war üppig. Der mütterliche Typ. Er fingerte an etwas in der Tasche seiner Uniform ­herum, das sich im Futter verhakt hatte.

»Ich habe Gin, Weißwein«, schrillte es aus der Küche. Wie ein Bohrer. »Etwas Whisky. Was magst du?«

»Etwas anderes«, sagte er leise vor sich hin.

»Was hast du gesagt? Ach, ich bring alles mit!«

»Tu das, Mutter«, flüsterte er und schaffte es endlich, den Gegenstand aus dem Futter zu lösen. Er legte ihn vor sich auf den Couchtisch, damit sie ihn gleich sah. Spürte die Erektion kommen und holte tief Luft. Es fühlte sich an, als saugte er allen ­Sauerstoff aus dem Raum. Er lehnte sich im Sofa zurück und legte die Cowboystiefel neben das Eisengebiss auf den Tisch.

Mit müden Augen starrte Katrine Bratt im Licht der Bürolampe auf die Fotos. Es war diesen Menschen nicht anzusehen, dass sie Sexualstraftäter waren. Dass sie Frauen vergewaltigt hatten, Männer, Kinder, Alte. Dass sie sie gequält und manchmal sogar getötet hatten. Okay, wenn man bis ins letzte, grausame Detail wusste, was sie gemacht hatten, erkannte man es vielleicht an ihren devoten, verängstigten Blicken. Aber das waren ja auch ­Polizeifotos. Träfe man sie auf der Straße, würde man einfach so an ihnen vorbeigehen. Ohne die geringste Ahnung, dass man vielleicht gemustert, taxiert und hoffentlich als Opfer ausgeschlossen wurde. Einige Namen kannte sie noch aus ihrer Zeit bei der Sitte, andere waren neu. Es waren viele neue. Jeden Tag wurde ein potentieller Straftäter geboren. Ein unschuldiges kleines Wesen, dessen Schreie von denen der gebärenden Frau übertönt wurden, mit der es noch durch die Nabelschnur verbunden war. Ein Geschenk, das die Eltern vor Glück weinen ließ und das später im Leben eine gefesselte Frau verstümmelte, ihr ein Messer in die Scheide stieß und sich dabei einen runterholte, während sein heiseres Stöhnen von den Schreien der Frau übertönt wurde.

Die halbe Ermittlergruppe hatte damit begonnen, diese Leute zu kontaktieren, die schlimmsten Fälle zuerst. Die Alibis mussten überprüft werden, um sie als Täter ausschließen zu können. Noch war es ihnen nicht gelungen, einen einzigen der vorbestraften Männer in der Nähe des Tatorts zu verorten. Die andere Hälfte der Gruppe befragte frühere Freunde, Geliebte, Kollegen und Verwandte des Opfers. Die Statistik in Norwegen war eindeutig: Bei achtzig Prozent aller Mordfälle kannten Täter und Opfer sich. Mit über neunzig Prozent waren die Zahlen noch klarer, wenn das Opfer weiblich und bei sich zu Hause ermordet worden war. Trotzdem erwartete Katrine nicht, den Täter in diesem Umfeld zu finden, denn Harry hatte recht. Dieser Mord war anders. Die Tat als solche war wichtiger als die Wahl des Opfers. Sie waren die Liste der Sexualstraftäter durchgegangen, gegen die Elises Mandanten ausgesagt hatten, aber Katrine glaubte wie Harry nicht daran, dass der Täter zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen hatte, süße Rache und sexuelle Befriedigung. Befriedigung? Sie versuchte sich vorzustellen, wie der Täter nach der Untat mit dem Opfer im Arm dalag und mit einer Zigarette zwischen den Lippen den Moment genoss. Harry hatte über die sexuelle Frustration von Serienmördern gesprochen. Sie erreichten nie ganz, was sie wollten, und mussten deshalb immer weiter jagen. Damit es beim nächsten Mal klappte, endlich perfekt war, sie Befriedigung erfuhren und zu den Schreien der Frau neu geboren wurden – bevor sie den Lebensfaden abschnitten.

Sie betrachtete noch einmal das Foto von Elise Hermansen auf dem Bett. Fragte sich, was Harry darin gesehen hatte. Oder gehört. Hatte er nicht von Musik gesprochen? Sie gab es auf und stützte das Kinn auf die Hände. Was hatte sie nur glauben lassen, dass sie das psychische Rüstzeug für einen Job wie diesen hatte? »Eine bipolare Störung ist kein guter Ausgangspunkt, ­allenfalls für Künstler«, hatte ihr Psychiater gesagt, als sie das letzte Mal bei ihm gewesen war. Und dann hatte er ihr noch einmal die kleinen rosa Pillen verschrieben, die sie stabil hielten.

Es war Wochenende, normale Menschen machten jetzt normale Dinge und saßen nicht im Büro und starrten auf grausame Tatortfotos und grausame Menschen. Immer in der Hoffnung, irgendetwas in ihren Gesichtern zu erkennen. Um sich im Anschluss ein Tinder-Date zu suchen, das sie ficken und vergessen konnten. Dabei suchte sie im Augenblick wirklich verzweifelt nach der Nabelschnur zur Normalität. Ein Sonntagsessen. Als sie noch zusammen waren, hatte Bjørn sie mehrmals zu seinen Eltern in Skreia eingeladen, zum Essen. Sein Elternhaus war nur anderthalb Stunden entfernt, aber trotzdem hatte sie immer eine Entschuldigung gesucht, um abzulehnen. Jetzt wünschte sie sich nichts sehnlicher, als an einem Tisch mit einer Schwiegerfamilie zu sitzen, die Kartoffeln weiterzureichen, über das Wetter zu klagen, das neue Sofa zu loben, trockenes Elchfleisch zu kauen und sich an einem stockenden, aber sicheren Gespräch zu beteiligen. Warme, freundliche Blicke, verstaubte Witze und die immer gleichen kleinen Ärgernisse, die sie im Moment nur allzu gerne akzeptiert hätte, ja richtiggehend vermisste.

»Hallo.«

Katrine zuckte zusammen. Ein Mann stand in der Türöffnung.

»Ich habe den Letzten von meiner Liste gerade abgehakt«, sagte Anders Wyller. »Wenn es nicht noch was gibt, würde ich dann jetzt nach Hause gehen und ein bisschen schlafen.«

»Natürlich. Bist du der Letzte?«

»Sieht so aus.«

»Und Berntsen?«

»Der war schon früh fertig und ist gefahren. Arbeitet vermutlich effektiver als ich.«

»Genau«, sagte Katrine und hätte am liebsten gelacht, schaffte es aber nicht. »Tut mir leid, dich das zu bitten, Wyller, aber könntest du seine Liste noch einmal gegenchecken, ich glaube …«

»Habe ich gerade gemacht. Sieht alles okay aus.«

»Alles?« Katrine hatte Wyller und Berntsen beauftragt, den Handybetreiber zu kontaktieren, um an die Liste mit Nummern und Namen der Leute zu kommen, mit denen das Opfer in den letzten sechs Monaten gesprochen hatte. Sie sollten die Liste aufteilen und die Alibis der betreffenden Personen überprüfen.

»Ja. Doch. Es gab allerdings einen Typen aus Åneby im Nittedal, dessen Vorname auf y endet. Er hat Elise Anfang des Sommers auffällig oft angerufen, weshalb ich den genauer unter die Lupe genommen habe.«

»Der Vorname endet auf y?«

»Lenny Hell, lass dir den Namen mal auf der Zunge zergehen.«

»Tue ich. Du verdächtigst Leute wegen der Buchstaben in ihren Namen?«

»Unter anderem. Es ist eine Tatsache, dass das y in der Kriminalstatistik überrepräsentiert ist.«

»Und das heißt?«

»Das heißt, dass ich zum Telefon gegriffen habe, als ich gesehen habe, dass Berntsen Hells Alibi einfach so abgehakt hat, obwohl der bloß angegeben hat, zur Tatzeit mit einem Kumpel im Åneby Pizza & Grill gewesen zu sein. Bestätigt worden ist das übrigens nur durch den Pizzeriabesitzer, weshalb ich die lokale Polizeiwache angerufen und mich dort erkundigt habe.«

»Weil der Typ Lenny heißt?«

»Weil der Pizzabesitzer Tommy heißt.«

»Und was hat der Beamte da oben gesagt?«

»Dass Lenny und Tommy zwei gesetzestreue Bürger sind, denen man trauen kann.«

»Du hast dich also geirrt.«

»Das wird sich noch zeigen. Der Ortspolizist heißt Jimmy.«

Katrine lachte laut und spürte, wie gut das tat. Anders Wyller antwortete ihr mit einem Lächeln. Vielleicht brauchte sie auch dieses Lächeln. Jeder versucht, einen guten ersten Eindruck zu machen, trotzdem hatte sie das Gefühl, dass Wyller von sich aus nicht gesagt hätte, dass er auch Berntsens Arbeit gemacht hatte. Und das zeigte, dass Wyller – wie sie – Truls Berntsen nicht traute. Katrine hatte einen bestimmten Gedanken immer zu verdrängen versucht, doch jetzt entschied sie sich, ihn auszusprechen.

»Komm rein und mach die Tür zu.«

Wyller tat, worum sie ihn bat.

»Es gibt noch etwas anderes, um das ich dich bitten möchte. Leider. Dieses Leck. Du bist derjenige, der am engsten mit Truls Berntsen zusammenarbeiten wird. Könntest du …?«

»Augen und Ohren offen halten?«

Katrine seufzte. »So in etwa. Das bleibt aber unter uns, und wenn du etwas bemerkst, redest du nur mit mir, verstanden?«

»Verstanden.«

Wyller ging. Katrine wartete noch ein paar Sekunden, bis sie das Handy vom Schreibtisch nahm und eine Nummer wählte. Bjørn. Sie hatte ein Foto von ihm gespeichert, das gleichzeitig mit der Nummer angezeigt wurde. Er lächelte. Bjørn Holm war kein Schmuckstück. Sein Gesicht war blass und etwas aufge­dunsen, und die roten Haare waren dünn und hell geworden. Aber es war Bjørn. Das Gegengift für all diese anderen Bilder. Wovor hatte sie eigentlich solche Angst? Wenn Harry Hole es schaffte, mit einem anderen Menschen zusammenzuleben, war­um schaffte sie das dann nicht? Ihr Zeigefinger näherte sich dem Anrufsymbol neben der Telefonnummer, als die Warnungen wieder durch ihren Kopf geisterten. Die Warnungen von Harry Hole und Hallstein Smith. Die Nächste.

Sie legte das Telefon weg und konzentrierte sich auf die Fotos.

Die Nächste.

Was, wenn der Täter bereits an die Nächste dachte?

»Du musst dir mehr M-Mühe geben, Ewa«, flüsterte er.

Er hasste es, wenn sie nicht alles gaben.

Wenn sie ihre Wohnungen nicht putzten. Ihre Körper nicht pflegten. Wenn sie es nicht schafften, den Mann zu halten, der sie geschwängert hatte. Wenn sie dem Kind kein Abendessen gaben, sondern es im Schrank einsperrten und Schokolade versprachen, damit es still war, während sie Männer empfingen, ihnen Abendessen servierten, sie mit der Schokolade fütterten, ihnen alles gaben und mit ihnen spielten, laut juchzend, wie sie es mit ihrem Kind nie gemacht hatten.

Nein.

Dann sollte lieber das Kind mit der Mutter spielen. Oder solchen wie Mutter.

Und er hatte gespielt, wild. Bis sie ihn eines Tages im Jøssingveien 33 im Schrank eingesperrt hatten. Ila Haft- und Verwahrungsanstalt. In den Statuten stand, es handele sich um eine landesweite Anstalt für männliche Gefangene mit »ausgeprägter Hilfsbedürftigkeit«.

Einer dieser Homopsychologen hatte ihm erklärt, dass sowohl die Vergewaltigungen als auch sein Stottern auf Traumata in der Kindheit zurückzuführen seien. Dieser Idiot. Das Stottern hatte er von seinem Vater, den er nie gesehen hatte. Das Stottern und einen dreckigen Anzug. Und vom Vergewaltigen träumte er schon, solange er denken konnte. Außerdem hatte er nur das getan, was diese Frauen nicht schafften. Er hatte sich Mühe gegeben, vollen Einsatz gezeigt. Das Stottern war fast weg. Er hatte die Gefängniszahnärztin vergewaltigt. Und er war aus Ila ausgebrochen und hatte weitergespielt. Härter als jemals zuvor. Dass die Polizei ihn jagte, war nur das i-Tüpfelchen seiner Karriere gewesen. Bis er eines Tages direkt vor dem Polizisten gestanden und die Entschlossenheit und den Hass in seinem Blick gesehen und verstanden hatte, dass dieser Mann dazu in der Lage sein würde, ihn zu schnappen und in die Dunkelheit seiner Kindheit zu verbannen. In den verriegelten Schrank, in dem er die Luft angehalten hatte, um nicht den Gestank von Schweiß und Tabak riechen zu müssen, der aus Vaters schmierigem Anzug drang, den Mama angeblich nur behalten hatte, falls er eines Tages wieder zurückkehrte. Er würde es nicht überleben, noch einmal eingesperrt zu werden. Deshalb hatte er sich vor dem Polizisten mit dem Mörderblick versteckt. Hatte sich drei Jahre nicht vom Fleck gerührt. Drei Jahre, ohne zu spielen. Bis sich auch das zu einem Gefängnis entwickelt hatte, seinem Kleiderschrank. Dann war diese Chance da. Eine Möglichkeit, ganz in Sicherheit zu spielen. Wobei es natürlich auch nicht zu sicher sein durfte. Er musste die Furcht riechen, um richtig erregt zu werden. Bei sich und bei ihnen. Es war egal, wie alt sie waren, wie sie aussahen, ob sie groß oder klein waren. Hauptsache, es waren Frauen. Oder potentielle Mütter, wie einer dieser idiotischen Psychiater es einmal ausgedrückt hatte.

Er legte den Kopf schief und sah sie an. Die Wohnung war ­hellhörig, aber das machte ihm keine Sorgen mehr. Erst jetzt, da er im hellen Licht ganz dicht an ihrem Gesicht war, bemerkte er, dass Ewa mit w kleine Pickel rund um den offenen Mund hatte. Sie versuchte zweifelsohne zu schreien, aber das würde ihr nicht gelingen, sosehr sie sich auch bemühte. Denn unter ihrem offenen Mund hatte sie einen neuen. Ein blutiges, klaffendes Loch im Hals, dort, wo ihr Kehlkopf gewesen war. Er drückte sie auf den Boden, und aus dem Ende der abgebissenen Luftröhre war ein Gurgeln zu hören. Rosa Blutblasen spritzten heraus. Die Muskeln in ihrem Hals spannten sich abwechselnd und erschlafften, als sie versuchte, Luft zu holen. Ihre Lungen arbeiteten noch, sie würde noch ein paar Sekunden leben. Aber am meisten faszinierte ihn, dass er ihrem schrillen Schnattern ein Ende hatte machen können, indem er ihr mit den Eisenzähnen die Stimmbänder durchgebissen hatte.

Und während das Licht in ihren Augen langsam erlosch, suchte er in ihrem Blick die Todesangst, den Wunsch, noch eine Sekunde leben zu dürfen. Aber da war nichts. Sie hätte sich mehr Mühe geben müssen. Vielleicht fehlte ihr die Phantasie. Oder die Lebensfreude. Er hasste es, wenn sie ihr Leben so einfach aufgaben.

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