Kapitel 26

Dienstagnacht

Mona Daa stand am Monolithen und sah Truls Berntsen durch die Dunkelheit auf sich zukommen.

Als sie vereinbart hatten, sich im Frognerpark zu treffen, hatte sie ein paar weniger bekannte Skulpturen vorgeschlagen, da der Monolith sogar nachts die Menschen anzog. Aber nach drei »Was?« war ihr klargeworden, dass Truls Berntsen nur den Monolithen kannte.

Sie zog ihn zur Westseite der Skulptur herüber, weg von den beiden Paaren, die die Aussicht über die Dächer und Kirchtürme im Osten genossen, und reichte ihm den Umschlag mit dem Geld, den er in die Tasche seiner langen Armani-Jacke steckte, die bei ihm aus irgendeinem Grund nicht wie eine Armani-Jacke aussah.

»Neuigkeiten?«, fragte sie.

»Es wird keine weiteren Tips geben«, sagte Truls und sah sich um.

»Nicht?«

Er sah sie an, als wollte er sich versichern, dass sie das nicht als Scherz aufgefasst hatte. »Verdammt, äh, der Mann wurde umgebracht.«

»Dann sollten Sie das nächste Mal vielleicht etwas weniger … tödliche Tips geben.«

Truls Berntsen lachte schnaubend. »Ihr seid echt noch schlimmer als ich … alles Pack.«

»Ach? Sie haben uns sogar den Namen von Mehmet gegeben, wir aber haben weder den noch ein Bild von ihm veröffentlicht.«

Truls schüttelte den Kopf. »Hören Sie sich eigentlich selbst, Daa? Wir haben Valentin gerade direkt zu einem Mann geführt, der wirklich nur zwei kleine Fehler gemacht hat. Er hat eine Kneipe betrieben, in der Valentins Opfer war, und hat sich bereit erklärt, der Polizei zu helfen.«

»Wenigstens sagen Sie wir. Heißt das, dass Sie ein schlechtes Gewissen haben?«

»Sie halten mich wohl für einen Psychopathen! Es ist doch hoffentlich klar, dass ich das scheiße finde!«

»Das mit dem Psychopathen kommentiere ich mal nicht, aber ich stimme Ihnen zu, dass das schlecht gelaufen ist. Heißt das, dass Sie mir nicht mehr als Quelle zur Verfügung stehen?«

»Wenn das so wäre, bedeutet das dann, dass Sie mich nicht mehr schützen?«

»Daran ändert sich nichts«, sagte Mona Daa.

»Gut, Sie haben wenigstens auch ein Gewissen.«

»Na ja«, sagte Mona. »Vermutlich sorgen wir uns weniger um unsere Quellen als darum, was unsere Kollegen sagen, wenn wir eine Quelle auffliegen lassen. Was sagen denn Ihre Kollegen?«

»Nichts. Sie haben rausgekriegt, dass ich die Quelle bin, und mich isoliert. Ich darf nicht mehr an den Besprechungen teilnehmen und bekomme keine Informationen mehr.«

»Also dann sind Sie für mich wirklich nicht mehr interessant, Truls.«

Truls schnaubte. »Sie sind zynisch, aber wenigstens ehrlich.«

»Danke, ich gebe mir Mühe.«

»Okay, vielleicht habe ich doch noch einen letzten Tip für Sie. Aber dabei geht es um etwas ganz anderes.«

»Reden Sie schon.«

»Polizeipräsident Bellman hat ein Verhältnis mit einer ziemlich bekannten Frau.«

»Für solche Tips zahlen wir nicht, Berntsen.«

»Okay, dann gebe ich Ihnen den gratis. Aber schreiben Sie ­darüber.«

»Die Redakteure haben für solche Seitensprünge nichts übrig, aber wenn Sie Beweise haben und persönlich dafür einstehen, kann ich die vielleicht überzeugen. Dann werden Sie aber mit vollem Namen zitiert.«

»Mit Namen? Das wäre Selbstmord, das ist Ihnen doch wohl klar, oder? Ich kann Ihnen einen Tip geben, wo sie sich treffen, damit Sie einen Paparazzi dahin schicken können.«

Mona Daa lachte. »Sorry, aber so funktioniert das nicht.«

»Nicht?«

»Mag ja sein, dass die Presse im Ausland sich für untreue Ehemänner interessiert, aber nicht hier bei uns im kleinen Norwegen.«

»Warum nicht?«

»Die offizielle Erklärung lautet vermutlich, dass wir uns dafür zu schade sind.«

»Aber?«

Mona zuckte fröstelnd mit den Schultern. »Da es in der Praxis keine Grenzen gibt, wo wir uns zu schade sind, lautet meine persönliche Theorie eher, dass das nur wieder ein Beweis dafür ist, dass wir alle unsere Leichen im Keller haben und deshalb lieber die Klappe halten.«

»Was?«

»Verheiratete Redakteure sind nicht weniger untreu als andere Leute. Zerreißen wir uns das Maul über die Untreue an­derer, riskieren wir in einer so kleinen Gesellschaft wie der unsrigen, dass es uns mit gleicher Münze heimgezahlt wird. Wir können über solche Sachen schreiben, wenn sie im großen Ausland passieren oder wenn einer unserer Promis sich dazu irgendwie geäußert hat. Aber investigativer Journalismus über Untreue bei Führungspersönlichkeiten?« Mona Daa schüttelte den Kopf.

Truls schnaubte verächtlich. »Dann gibt es keine Möglichkeit, das an die Öffentlichkeit zu bringen?«

»Wollen Sie, dass das veröffentlicht wird, um zu zeigen, dass Bellman als Polizeipräsident ungeeignet ist?«

»Was? Nein, darum geht es nicht.«

Mona nickte und warf einen Blick auf den Monolithen. An dieser Skulptur strebte wirklich alles nach oben. »Sie müssen diesen Mann von Grund auf hassen.«

Truls antwortete nicht. Er sah nur ein bisschen verwirrt aus, als hätte er nie darüber nachgedacht. Mona fragte sich, was hinter dem vernarbten, wenig attraktiven Gesicht mit Unterbiss und stechenden Augen vor sich ging. Der Mann tat ihr fast ein bisschen leid. Aber auch nur fast.

»Ich gehe jetzt, Berntsen. Bis dann.«

»Sehen wir uns denn wieder?«

»Vielleicht nicht.«

Als Mona ein Stück entfernt war, drehte sie sich um und sah Truls Berntsen im Licht einer der Laternen oben am Monolithen stehen. Er hatte die Hände in den Taschen vergraben und stand gebeugt da, als hielte er nach etwas Ausschau. Er sah unglaublich einsam aus, wie die Statuen, die ihn umgaben.

Harry starrte an die Decke. Seine Dämonen waren nicht gekommen. Vielleicht würden sie ihn in dieser Nacht nicht heimsuchen. Man konnte nie wissen. Aber sie hatten ein neues Mitglied bekommen. Wie Mehmet wohl aussah, wenn er kam? Harry schob diese Gedanken weg und lauschte der Stille. Es war wirklich leise hier oben am Holmenkollen, das musste man der Nachbarschaft lassen. Zu leise. Er hatte es lieber, wenn man draußen vor den Fenstern die Stadt hörte. Wie bei einer Nacht im Dschungel, voller Geräusche, die bezeugen, was ringsherum los ist. Die Stille enthielt zu wenig Information. Aber das war nicht das Problem. Das Problem war der leere Platz neben ihm im Bett.

Wenn er nachzählte, waren die Nächte, die er mit jemandem geteilt hatte, klar in der Unterzahl. Weshalb fühlte er sich dann so allein, er hatte doch immer die Einsamkeit gesucht und nie ­jemand anders gebraucht?

Er drehte sich auf die Seite und versuchte, die Augen zu schließen.

Er brauchte niemanden sonst, keine andere, er brauchte nur sie.

Es knirschte. Holzwände. Oder eine Diele. Vielleicht kam der Sturm früher. Oder die Dämonen später.

Harry drehte sich auf die andere Seite und schloss die Augen wieder.

Es knirschte direkt vor der Schlafzimmertür.

Er stand auf, ging die wenigen Schritte und öffnete die Tür.

Es war Mehmet. »Ich habe ihn gesehen, Harry.« Wo die Augen sein sollten, waren zwei schwarze Löcher, die fauchend Rauch spuckten.

Harry schrak aus dem Schlaf.

Wie eine Katze schnurrte das Telefon neben ihm auf dem Nachtschränkchen. Er nahm es.

»Hm?«

»Hier ist Dr. Steffens.«

Harry spürte einen plötzlichen Schmerz in der Brust.

»Es geht um Rakel.«

Natürlich ging es um Rakel. Dabei wusste Harry, dass Steffens ihm nur ein paar Sekunden geben wollte, damit er sich auf das vorbereiten konnte, was jetzt kommen musste.

»Wir kriegen sie nicht aus dem Koma.«

»Was?«

»Sie wacht nicht auf.«

»Sie … wird sie …?«

»Wir wissen es nicht, Harry. Ich weiß, dass Sie eine Unmenge Fragen haben, aber die haben wir auch. Ich kann Ihnen wirklich nichts sagen, nur dass wir unser Bestes geben.«

Harry biss sich auf die Innenseiten der Wangen, um sicher zu sein, dass es sich nicht um die Uraufführung eines neuen Alptraums handelte. »Okay, okay, kann ich sie sehen?«

»Im Augenblick nicht. Sie liegt zur Überwachung auf der Intensivstation. Ich rufe Sie an, sobald ich mehr weiß. Aber das kann dauern, vermutlich wird Rakel noch eine ganze Weile im Koma bleiben. Also halten Sie nicht die Luft an. Okay?«

Harry wurde bewusst, dass Steffens recht hatte: Er atmete nicht.

Harry legte auf und starrte auf das Telefon. Sie wacht nicht auf. Natürlich nicht, sie will nicht, wer will denn schon aufwachen? Er stand auf und ging nach unten. Knallte die Schranktüren in der Küche zu. Nichts. Leer. Geleert. Dann rief er sich ein Taxi und ging nach oben, um sich anzuziehen.

Er sah das blaue Schild, las den Namen und bremste. Nahm den Abzweig und schaltete den Motor aus. Sah sich um. Wald und Weg. Der Ort erinnerte ihn an die nichtssagenden, monotonen Straßen in Finnland, auf denen man irgendwann das Gefühl bekam, durch eine Wüste aus Wald zu fahren. Wo die Bäume wie eine schweigende Wand auf jeder Seite der Straße standen und Leichen ebenso leicht zu verstecken waren, als würde man sie im Meer versenken. Er wartete, bis ein Wagen vorbeigefahren war. Warf einen Blick in den Rückspiegel. Keine Lichter, weder vor noch hinter ihm. Dann machte er die Tür auf, trat auf die schmale Landstraße, ging um das Auto herum und öffnete den Kofferraum. Sie war so blass, dass sogar die Sommersprossen verblichen waren. Die Augen über dem Knebel groß, angsterfüllt und schwarz. Er hob sie aus dem Kofferraum und half ihr auf die Beine, hielt sie fest, damit sie nicht umfiel. Dann nahm er sie an den Handschellen und führte sie über die Straße und den Graben in den Wald hinein. Schaltete die Taschenlampe ein. Sie zitterte so stark, dass die Handschellen rasselten.

»Immer mit der Ruhe, ich tue dir ja nichts, meine Liebe«, sagte er. Und meinte das wirklich so. Er wollte ihr nicht weh tun. Nicht mehr. Und vielleicht wusste sie das ja, vielleicht hatte sie erkannt, dass er sie liebte, und zitterte nur, weil sie in der Unter­wäsche und dem Negligé seiner japanischen Freundin fror.

Als sie in das Unterholz traten, war es, wie in ein Haus zu kommen. Es senkte sich eine ganz andere Stille über sie, und mit ­einem Mal waren auch andere Geräusche zu hören. Leisere, aber deutlichere, nicht identifizierbare Laute. Ein Knacken, ein Seufzen, ein Schrei. Der Waldboden war weich, ein Teppich aus Nadeln, der unter ihren lautlosen Schritten nachgab. Wie in einem Traum von einem Brautpaar auf dem Weg in die Kirche.

Als er bis hundert gezählt hatte, blieb er stehen, sah sich im Licht der Taschenlampe um und fand, wonach er suchte. Ein verkohlter, großer Baum, den ein Blitz gespalten hatte.

Er zog sie bis dahin hinter sich her. Sie leistete keinen Widerstand, als er die Handschellen öffnete, ihre Arme um den Baumstamm legte und sie ankettete. Wie ein Lamm, dachte er, als er sie, die Arme um den Stamm geschlungen, auf den Knien vor dem Baum sitzen sah. Ein Opferlamm. Denn er war nicht der Bräutigam, er war der Vater, der sein Kind zum Altar führte.

Er streichelte ihr ein letztes Mal über die Wange und drehte sich um, um zurückzugehen, als zwischen den Bäumen eine Stimme ertönte.

»Sie ist am Leben, Valentin?«

Er blieb stehen, und das Licht seiner Taschenlampe zuckte wie automatisch in Richtung des Geräuschs.

»Weg mit der Lampe«, sagte die Stimme im Dunkel.

Valentin tat, was die Stimme verlangte. »Sie wollte leben.«

»Und der Barkeeper wollte das nicht?«

»Er konnte mich identifizieren, das Risiko wollte ich nicht eingehen.«

Valentin lauschte, hörte aber nur das leise Zischen von Marte, wenn sie durch die Nase einatmete.

»Ich räume nur dieses eine Mal hinter dir auf«, sagte die Stimme. »Hast du den Revolver mitgebracht, den du bekommen hast?«

»Ja«, sagte Valentin. Kam ihm die Stimme des anderen nicht ­irgendwie bekannt vor?

»Leg ihn neben sie und geh. Du kriegst ihn bald zurück.«

Ein Gedanke schoss durch Valentins Kopf. Er könnte den Revolver ziehen und den anderen erschießen. Die Vernunft töten, alle Spuren verwischen, die zu ihm führten, und die Dämonen wieder an die Macht lassen. Das Gegenargument lautete, dass Valentin die Vernunft noch brauchen konnte.

»Wann und wie?«, rief Valentin. »Den Umkleideschrank im Bad können wir nicht mehr nutzen.«

»Morgen. Ich sage dir Bescheid. Da du jetzt ohnehin meine Stimme gehört hast, kann ich dich auch anrufen.«

Valentin nahm den Revolver aus dem Holster, legte ihn vor Marte auf den Boden und warf einen letzten Blick auf sie. Dann ging er.

Als er sich in den Wagen setzte, schlug er zweimal hart mit der Stirn auf das Lenkrad, bevor er den Motor anließ. Er setzte den Blinker, obwohl kein anderes Auto zu sehen war, und fuhr ruhig davon.

»Halten Sie hier an«, sagte Harry zu dem Taxifahrer und streckte den Arm aus.

»Es ist drei Uhr nachts, Mann, die Kneipe ist längst dicht, das sieht man doch!«

»Es ist meine.«

Harry bezahlte und stieg aus. Wo noch vor wenigen Stunden hektische Betriebsamkeit geherrscht hatte, war es jetzt wie ausgestorben. Die Spurensicherung war fertig, die Tür war aber noch versiegelt. Auf dem Klebestreifen war der Reichslöwe zu erkennen, dazu der Text »Polizeisiegel, Entfernen gemäß Paragraph 343 Strafgesetzbuch verboten«.

Harry steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. Das Siegel brach mit einem Ächzen auf, als er die Tür öffnete und die Kneipe betrat.

Die Lampen unter dem Spiegelregal brannten noch. Harry kniff ein Auge zu und richtete seinen Finger auf das Flaschen­regal. Neun Meter. Was wäre passiert, hätte er abgedrückt? Wie wäre die Geschichte dann ausgegangen? Schwer zu sagen. Sie war so, wie sie war. Daran war nichts zu ändern. Man konnte nur versuchen, sie zu vergessen, klar.

Seine Finger fanden die Jim-Beam-Flasche, die inzwischen in einem Halter mit Dosierer steckte. In der von unten kommenden Puffbeleuchtung funkelte der Inhalt in der Flasche wie Gold. Harry ging hinter den Tresen, nahm ein Glas und hielt es unter den Dosierer. Füllte es bis zum Rand. Warum sich selbst betrügen?

Er spürte, wie die Muskeln sich in seinem ganzen Körper anspannten. Musste er jetzt schon vor dem ersten Schluck kotzen? Aber es gelang ihm, Mageninhalt und Alkohol bis zum dritten Schluck bei sich zu behalten. Als er sich über das Waschbecken beugte und der gelbgrüne Auswurf auf das Metall klatschte, sah er, dass der Boden noch voller angetrocknetem Blut war.

Загрузка...