Kapitel 40
Freitagvormittag
Wenche Syvertsen ließ den Blick über den Frognerpark schweifen, während sie auf dem Stepper lief. Eine Freundin hatte ihr davon abgeraten, sie meinte, dass man davon einen dickeren Po bekäme. Offensichtlich hatte sie nicht verstanden, dass Wenche sich gerade das wünschte. Etwas mehr Po. Im Internet hatte sie gelesen, dass Training nur zu mehr Muskeln führte, nicht aber zu runderen, schöneren Formen. Helfen würde da nur Östrogen, mehr Essen – oder ganz einfach ein Implantat. Letzteres hatte Wenche kategorisch ausgeschlossen, ihr Prinzip war ein durch und durch natürlicher Körper, weshalb sie sich nie – nie – unters Messer gelegt hatte. Abgesehen natürlich von der Brustkorrektur, aber die zählte nicht. Und sie war ihren Prinzipien treu. Deshalb war sie Herrn Syvertsen, trotz all der Angebote, die sie gerade in einem Studio wie diesem bekam, auch nie untreu gewesen. Jüngere Männer meinten häufig, dass sie so etwas wie eine Cougar auf der Jagd sei. Dabei hatte Wenche immer Männer vorgezogen, die etwas reifer als sie waren. Nicht so alt wie der Mann mit der faltigen, wettergegerbten Haut, der neben ihr auf dem Fahrrad saß, aber durchaus so jemand wie ihr Nachbar, Harry Hole. Männer, die ihr intellektuell und an Lebenserfahrung unterlegen waren, turnten sie regelrecht ab. Sie brauchte Männer, die sie stimulierten und unterhielten, geistig wie finanziell. So einfach war das, und es gab keinen Grund, diese Tatsache zu leugnen. Was Letzteres anging, war Herr Syvertsen eine gute Partie. Und Harry war, wie es schien, nicht verfügbar. Außerdem waren da ja auch noch ihre Prinzipien. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Herr Syvertsen bei den wenigen Malen, die sie ihm doch untreu gewesen war, unangemessen eifersüchtig reagiert und ihr gedroht hatte, ihr ihre Privilegien zu nehmen. Das war aber, bevor sie ihre Prinzipien aufgestellt hatte, ihm nicht untreu zu sein.
»Warum ist eine so hübsche Frau wie Sie nicht verheiratet?«
Die Worte klangen, als kämen sie aus dem Mahlwerk einer Steinmühle. Wenche wandte sich dem alten Mann auf dem Fahrrad zu. Er lächelte sie an. Das Gesicht war schmal und von tiefen Furchen durchzogen, die Lippen trocken und das Haar fettig und kräftig. Er war schlank und hatte breite Schultern. Wie Mick Jagger. Sah man mal von dem roten Stirnband und dem Seehundbart ab.
Wenche hob lächelnd ihre ringlose linke Hand. »Verheiratet, aber ich nehme den Ring ab, wenn ich trainiere.«
»Schade«, sagte der Alte mit einem Lächeln. »Denn ich bin nicht verheiratet und würde mich auf der Stelle mit dir v-verloben.«
Er hob seine rechte Hand, und Wenche zuckte zusammen. Für einen Augenblick dachte sie, falsch gesehen zu haben. War da wirklich ein großes Loch mitten in der Handfläche?
»Oleg Fauke ist hier«, kam es durch die Sprechanlage.
»Schicken Sie ihn rein«, sagte John D. Steffens, schob den Stuhl vom Schreibtisch weg und sah durch das Fenster auf das Laborgebäude, in dem die Abteilung für Transfusionsmedizin untergebracht war. Er hatte den jungen Fauke bereits aus dem kleinen japanischen Wagen steigen sehen, der mit laufendem Motor unten auf dem Parkplatz stand. Ein anderer Mann schien hinter dem Steuer zu sitzen. Wahrscheinlich hatte er die Heizung voll aufgedreht, denn der Tag war knackig kalt und sonnig. Für viele war es unverständlich, dass ein sonniger Tag im Juli Wärme versprach, im Januar hingegen eisige Kälte. Aber wer setzte sich auch schon mit den Grundlagen der Physik auseinander, mit Meteorologie und dem Beschaffensein der Welt? Es ärgerte Steffens aber nicht mehr, dass die Menschen die Kälte für etwas Greifbares hielten und nicht verstanden, dass sie bloß die Abwesenheit von Wärme war. Die Kälte war das natürlich Dominierende. Die Wärme die Ausnahme. Wie Mord und Grausamkeit natürlich und logisch waren, Barmherzigkeit hingegen eine Anomalie, das Resultat komplizierter Regeln des menschlichen Zusammenlebens, um das Fortbestehen der Art zu sichern. Dabei hatte nicht die Barmherzigkeit den Menschen das Überleben gesichert, sondern die außerordentliche Fähigkeit, anderen Arten gegenüber grausam zu sein. So führte das Wachstum der Bevölkerung dazu, dass der Mensch nicht mehr nur auf die Jagd ging, sondern auch Fleisch produzierte. Allein das Wort Fleischproduktion, allein die Idee! Menschen hielten Tiere in Gefangenschaft, nahmen ihnen all ihre Freude und Entwicklungsmöglichkeiten, entfremdeten sie der Natur, damit sie unfreiwillig Milch und extra zartes Fleisch lieferten, nahmen ihnen ihre Kinder, kaum dass sie auf der Welt waren, hörten die verzweifelten Schreie der Muttertiere, nur um sie dann gleich wieder zu schwängern. Einige Menschen gingen auf die Barrikaden, weil gewisse Tierarten gegessen wurden, Hunde, Wale, Delphine, Katzen. Aber dann war auch schon Schluss mit der Barmherzigkeit, die wesentlich intelligenteren Schweine etwa durften gedemütigt und gefressen werden. Die Menschheit machte das nun schon so lange, dass niemand mehr über die ausgeklügelte Grausamkeit nachdachte, die die moderne Nahrungsmittelproduktion voraussetzte. Gehirnwäsche!
Steffens starrte auf die Tür, die sich gleich öffnen sollte. Fragte sich, ob die Menschen jemals verstehen würden, dass ihre angeblich von Gott gegebene und ewig währende Moral ebenso antrainiert und flexibel war wie ihre Schönheitsideale, ihre Feindbilder und ihre Modetrends. Vermutlich nicht. Da war es wirklich nicht verwunderlich, dass die Menschheit radikale Forschungsprojekte, die ihr Denken hinterfragten, weder verstand noch akzeptierte. Dass sie nicht verstehen wollte, dass diese Projekte ebenso logisch und notwendig wie grausam waren.
Die Tür ging auf.
»Guten Tag, Oleg. Bitte, nehmen Sie Platz.«
»Danke.« Der junge Mann setzte sich. »Darf ich Sie, bevor Sie diese Blutprobe nehmen, als Gegenleistung um einen Gefallen bitten?«
»Gegenleistung?« Steffens zog sich die weißen Latexhandschuhe an. »Sie wissen, dass meine Forschung Ihnen nützen kann, der Familie Ihrer Mutter und Ihnen und Ihren Nachkommen?«
»Und ich weiß, dass diese Forschung für Sie wichtiger ist als für mich ein etwas längeres Leben.«
Steffens musste lächeln. »Kluge Worte für einen so jungen Mann.«
»Ich frage für meinen Vater, ob Sie zwei Stunden Ihrer Zeit aufwenden könnten, um sich fachlich qualifiziert während der Disputation eines Freundes zu äußern. Harry würde das sehr zu schätzen wissen.«
»Disputation? Natürlich. Es wäre mir eine Ehre.«
»Das Problem ist«, sagte Oleg und räusperte sich, »dass diese Disputation eigentlich jetzt gleich beginnt, wir müssten also los, sobald Sie mir Blut abgenommen haben.«
»Jetzt?« Steffens warf einen Blick auf seinen Terminkalender, der offen vor ihm lag. »Ich fürchte, ich habe gleich noch einen Termin, um …«
»Er würde das wirklich sehr zu schätzen wissen«, sagte Oleg.
Steffens musterte den jungen Mann und rieb sich nachdenklich das Kinn. »Sie wollen also Ihr Blut gegen meine Zeit tauschen?«
»So in der Art, ja«, sagte Oleg.
Steffens lehnte sich im Stuhl nach hinten und legte die Hände vor dem Mund zusammen. »Sagen Sie mir eins, Oleg. Wie kommt es, dass Sie eine so enge Verbindung zu Harry Hole haben? Er ist ja nicht einmal Ihr biologischer Vater.«
»Tja.«
»Antworten Sie mir darauf, und geben Sie mir Ihr Blut, dann fahre ich mit zu dieser Disputation.«
Oleg dachte nach. »Spontan würde ich sagen, weil er ehrlich ist. Dass ich, auch wenn er wirklich nicht der beste Vater der Welt ist, auf das vertrauen kann, was er sagt. Aber ich glaube, das ist nicht das Wichtigste.«
»Was dann?«
»Dass wir die gleichen Bands hassen.«
»Dass Sie was?«
»Musik. Wir mögen nicht das Gleiche, aber wir hassen dasselbe.«
Oleg zog seine Daunenjacke aus und krempelte den Ärmel seines Hemdes hoch.
»Bereit?«