Kapitel 41
Freitagvormittag
Rakel sah zu Harry auf, als sie Arm in Arm über den Universitätsplatz zum Domus Academica gingen, einem der drei Gebäude der Universität in der Osloer Innenstadt. Sie hatte ihn überredet, die Lederschuhe anzuziehen, die sie ihm in London gekauft hatte, obwohl sie seiner Meinung nach bei dem eisigen Untergrund zu glatt waren.
»Du solltest öfter einen Anzug tragen«, sagte sie.
»Und die Kommune öfter streuen«, konterte Harry und tat so, als würde er wieder ausrutschen.
Sie hielt ihn lachend fest. Spürte die Pappe der gelben Mappe, die er sich unter das Sakko gesteckt hatte. »Ist das da nicht Bjørns Auto, da darf er aber nun wirklich nicht parken, oder?«
Sie gingen an dem schwarzen Amazon vorbei, der unmittelbar vor der Treppe auf dem Platz stand.
»Polizeischild hinter der Windschutzscheibe«, sagte Harry. »Klarer Fall von Amtsanmaßung.«
»Das ist bestimmt wegen Katrine«, sagte Rakel lächelnd. »Er hat Angst, sie könnte fallen.«
Der Vorraum des alten Festsaals war von Stimmengewirr erfüllt. Rakel hielt nach bekannten Gesichtern Ausschau, aber bei den meisten schien es sich um Wissenschaftler oder Smiths Familie zu handeln. In einer Ecke des Raums entdeckte sie dann aber doch jemanden, den sie kannte. Truls Berntsen. Er schien nicht zu wissen, dass man bei einer Disputation einen Anzug trug. Rakel bahnte sich und Harry einen Weg zu Bjørn und Katrine.
»Gratuliere, ihr zwei!«, sagte Rakel und nahm beide in den Arm.
»Danke!«, antwortete Katrine strahlend und strich sich über den runden Bauch.
»Wann ist es so weit?«
»Im Juni.«
»Juni«, wiederholte Rakel und sah das Zucken in Katrines Lächeln.
Rakel beugte sich vor, legte Katrine die Hand auf den Arm und flüsterte: »Denk nicht dran, das geht alles gut.«
Rakel sah, wie Katrine sie beinahe schockiert anstarrte.
»PDA«, fuhr Rakel fort. »Eine phantastische Erfindung. Die Schmerzen sind … schwupps, weg.«
Katrine blinzelte zweimal. Dann lachte sie laut.
»Ich war noch nie vorher bei einer Disputation. Ich wusste nicht, dass das so feierlich ist, bis ich gesehen habe, dass Bjørn seinen besten Schlips anzieht. Was passiert hier eigentlich?«
»Oh, das ist im Grunde ganz einfach«, sagte Rakel. »Wir gehen in den Saal und stehen auf, wenn die Prüfer und der Doktorand hereinkommen. Smith ist sicher selbst total gespannt, obwohl er gestern oder heut früh schon eine Probevorlesung gehalten hat. Am meisten fürchtet er bestimmt, von Ståle Aune in die Mangel genommen zu werden, aber dafür gibt es heute wohl keinen Grund.«
»Nicht?«, fragte Bjørn Holm. »Aune hat aber gesagt, dass er nicht an Vampirismus glaubt.«
»Ståle glaubt an seriöse Forschung«, sagte Rakel. »Die Prüfer sollen kritisch zum Kern der Doktorarbeit vordringen, sie müssen aber innerhalb des Rahmens und der Prämisse der Arbeit bleiben und dürfen keinen eigenen Ideen folgen.«
»Oha, hast du dir das alles angelesen?«, fragte Katrine, als Rakel Luft holte. Rakel nickte lächelnd und fuhr fort: »Die Prüfer haben jeweils fünfundvierzig Minuten, dazwischen ist für kurze Fragen aus dem Publikum Raum. Man nennt das ex auditorio, es kommt aber selten vor, dass jemand etwas fragt. Danach folgt dann das Disputationsessen, das der Doktorand zahlt und zu dem wir nicht eingeladen sind. Harry findet das sehr schade.«
Katrine wandte sich an Harry. »Stimmt das?«
Harry zuckte mit den Schultern. »So ein bisschen Fleisch mit Sauce, begleitet von langen Reden diverser Verwandter über Leute, die man eigentlich nicht kennt, da stehen wir doch alle drauf.«
In die wartende Menge kam Bewegung, und ein paar Blitzlichter leuchteten auf.
»Der angehende Herr Justizminister«, sagte Katrine.
Es war beinahe so, als teilte sich das Wasser vor Mikael und Ulla Bellman, die Arm in Arm durch den Raum schritten. Ulla Bellmans Lächeln wirkte aufgesetzt. Rakel hatte sie eigentlich noch nie richtig lächeln sehen. Vielleicht war sie einfach nicht der Typ dafür. Oder sie war eines dieser hübschen, schüchternen Mädchen gewesen, die früh gelernt hatten, dass übertriebenes Lächeln nur zu noch mehr unerwünschter Aufmerksamkeit führte, während kühle Distanziertheit ihnen das Leben leichter machte. Was sie jetzt wohl über ein Leben an der Seite eines Ministers dachte?
Mikael Bellman blieb stehen, als eine Frage gerufen und ihm ein Mikrofon unter die Nase gehalten wurde.
»Oh, I’m here just to celebrate one of the men who contributed to us solving the Vampyrist case«, sagte er. »Doctor Smith is the one you should be talking to today, not me.« Aber Bellman gehorchte und posierte freiwillig, als die Fotografen ihre Wünsche äußerten.
»Puh, internationale Presse«, sagte Bjørn.
»Vampirismus ist hot«, sagte Katrine und ließ den Blick über die Menge schweifen. »Alle Kriminaljournalisten sind hier.«
»Abgesehen von Mona Daa«, sagte Harry, während er die Menge scannte.
»Und die Heizungsraum-Guerilla, außer Anders Wyller. Wisst ihr, wo er steckt?«
Die anderen schüttelten den Kopf.
»Er hat mich heute früh angerufen«, sagte Katrine. »Und um ein Vier-Augen-Gespräch gebeten.«
»Über was?«, fragte Bjørn.
»Das wissen die Götter, aber guckt mal, da kommt er ja.«
Anders Wyller war gerade zu der wartenden Menge gestoßen und nahm sich den Schal ab. Sein roter Kopf deutete darauf hin, dass er sich beeilt haben musste. Im gleichen Moment öffneten sich die Türen des Saals.
»So, dann suchen wir uns mal einen Platz«, sagte Katrine und eilte zur Tür. »Aus dem Weg, Leute, lasst eine Schwangere durch.«
»Sie ist so süß!«, flüsterte Rakel, hakte sich bei Harry ein und lehnte sich an ihn. »Ich habe mich immer gefragt, ob da nicht mal was zwischen euch war.«
»Was?«
»Irgendwas. Als wir nicht zusammen waren, zum Beispiel.«
»Leider nein«, sagte Harry düster.
»Leider nein? Wie leider nein?«
»Wie dass ich schon manchmal denke, dass ich unsere Pausen besser hätte nützen können.«
»Ich mache keine Witze, Harry.«
»Ich auch nicht.«
Hallstein Smith hatte die Tür zu dem ehrwürdigen Saal einen Spaltbreit geöffnet und warf verstohlen einen Blick hinein.
Auf den Kronleuchter, der über den Menschen hing, die die Reihen füllten. Einige mussten sich sogar oben auf der Galerie mit Stehplätzen zufriedengeben. Früher hatte hier einmal das Parlament getagt, und jetzt sollte er – der kleine Hallstein – am Rednerpult stehen, seine Forschung verteidigen und zum Doktor ernannt werden! Er sah zu May hinüber, die in der ersten Reihe saß. Auch sie war nervös – und platzte beinahe vor Stolz. Dann ging sein Blick zu den ausländischen Kollegen, die extra angereist waren, obgleich er sie gewarnt hatte, dass die Disputation auf Norwegisch sein würde. Zu den Journalisten, zu Bellman, der gemeinsam mit seiner Frau ganz vorn saß. Zu Harry, Bjørn und Katrine, seinen neuen Freunden bei der Polizei, die auch für seine Arbeit, die zu weiten Teilen auf dem Fall Valentin Gjertsen aufbaute, eine wichtige Rolle gespielt hatten. Das Bild von Valentin hatte sich durch die Erkenntnisse der letzten Tage dramatisch geändert, seine Schlussfolgerungen über die Persönlichkeit eines Vampiristen waren dadurch aber nur noch schlüssiger geworden. Hallstein hatte ja selbst immer darauf hingewiesen, dass Vampiristen primär im Affekt handelten, von Lust und Impulsen gesteuert wurden. Die Entlarvung von Lenny Hell als eigentlichem Hirn hinter den wohlorganisierten Morden war somit exakt zur rechten Zeit gekommen.
»Dann fangen wir an«, sagte der Dekan in seiner Rolle als Vorsitzender der Prüfungskommission und fegte sich ein Staubkorn vom Talar.
Hallstein holte tief Luft, trat ein, und der Saal erhob sich.
Smith und die beiden Prüfer setzten sich, während der Vorsitzende ans Rednerpult trat und über den Ablauf der Prüfung informierte. Dann gab er Hallstein das Wort.
Der erste Prüfer, Ståle Aune, beugte sich vor und wünschte ihm flüsternd Glück.
Hallstein trat ans Rednerpult, drehte sich um und sah in den Saal. Spürte die Stille, die eintrat. Die Probevorlesung am Morgen war gut verlaufen. Gut? Geradezu phantastisch! Es war ihm nicht entgangen, wie die Prüfungskommission gestrahlt hatte, sogar Ståle Aune hatte an den entscheidenden Stellen seines Vortrags anerkennend genickt.
Jetzt sollte eine kürzere Variante seiner Vorlesung folgen, maximal zwanzig Minuten. Hallstein begann zu sprechen, bekam rasch dasselbe Gefühl wie am Morgen und sah kaum noch auf das Manuskript, das vor ihm lag. Seine Gedanken wurden zu Worten, und mit einem Mal war es so, als sähe er als Zuschauer, wie ihm das Publikum an den Lippen hing. Alle konzentrierten sich auf ihn, auf Hallstein Smith, den Professor für Vampirismus. Natürlich gab es so etwas nicht, aber das würde er ändern, mit dem heutigen Tag. Er näherte sich dem Schluss. »Während meiner kurzen Zeit in der Ermittlergruppe von Harry Hole habe ich ein paar Sachen gelernt. Eine davon war, dass eine der zentralen Fragen bei Mordfällen das ›Warum‹ ist. Dass es aber nicht hilft, diese Frage zu beantworten, wenn man nicht auch eine Antwort auf das ›Wie‹ hat.« Hallstein trat zu dem Tisch neben dem Rednerpult, auf dem drei Gegenstände lagen, die von einem Seidentuch bedeckt waren. Er nahm einen Zipfel des Tuchs und wartete. Ein bisschen Theater musste sein.
»Die Antwort auf das ›Wie‹ ist hier«, proklamierte er und zog das Tuch weg.
Ein Raunen ging durch die Gruppe der Anwesenden, als sie den großen Revolver sahen, die grotesk massiven Handschellen und die schwarzen Eisenzähne.
Er zeigte auf den Revolver. »Ein Werkzeug, um zu bedrohen und zu bezwingen.«
Auf die Handschellen. »Eines, um zu kontrollieren, zu sichern, gefangen zu halten.«
Die Eisenzähne. »Und eines, um an die Quelle zu gelangen, um an das Blut zu kommen und das Ritual auszuführen.«
Er hob den Blick. »Mein Dank geht an Ermittler Anders Wyller, der mir diese Objekte ausgeliehen hat, damit ich zeigen kann, was ich meine. Sie beantworten nicht nur die drei ›Wie‹, sondern auch das ›Warum‹. Aber wie kann ein ›Wie‹ ein ›Warum‹ beantworten?«
Vereinzeltes, verkrampftes Auflachen aus dem Saal.
»All diese Gegenstände sind alt. Unnötig alt, möchte man vielleicht sagen. Der Vampirist hat sich die Mühe gemacht, sich Gegenstände oder Kopien von Gegenständen aus bestimmten Epochen zu besorgen. Dieser Punkt unterstreicht, was ich in meiner Arbeit über die Wichtigkeit des Rituals geschrieben habe. Das Trinken von Blut reicht zurück in eine Zeit, in der es noch viele Götter gab, die angebetet und befriedigt werden mussten. Die dafür gängige Währung war Blut.«
Er zeigte auf den Revolver. »Diese Spur führt in das Amerika von vor zweihundert Jahren, als es Indianerstämme gab, die das Blut ihrer Feinde tranken, um deren Kräfte in sich aufzunehmen.« Er zeigte auf die Handschellen. »Eine Verbindung ins Mittelalter, als Hexen und Zauberer gefangen, beschworen und rituell verbrannt wurden.« Er zeigte auf die Zähne. »Und eine Verbindung in die Antike, als Opferlämmer und der Aderlass von Menschen weit verbreitet waren, um die Götter zu besänftigen. Wie ich mit meinen heutigen Antworten hoffe«, er deutete auf den Vorsitzenden und die Prüfer, »diese Götter besänftigen zu können.«
Dieses Mal klang das Lachen aufrichtiger.
»Danke.«
Der Applaus war, soweit Hallstein das beurteilen konnte, frenetisch.
Ståle Aune erhob sich, rückte seine gepunktete Fliege zurecht, streckte seinen Bauch weit nach vorne und marschierte ans Rednerpult.
»Verehrter Doktorand, Ihre Doktorarbeit basiert auf Fallstudien, und ich frage mich, wie Sie zu Ihren Schlussfolgerungen gelangen konnten, wenn Ihr Hauptfall – Valentin Gjertsen – diese Schlussfolgerungen doch gar nicht zuließ. Bis Lenny Hells Rolle bekannt wurde.«
Hallstein Smith räusperte sich. »In der Psychologie gibt es mehr Raum für Interpretationen als in den meisten anderen Wissenschaften. Und es war natürlich verlockend, Valentin Gjertsens Verhalten innerhalb des Rahmens zu beschreiben, den ich als typisch für Vampiristen dargelegt habe. Aber als Wissenschaftler muss ich ehrlich sein. Bis noch vor wenigen Tagen passte Valentin Gjertsen nicht wirklich zu meiner Theorie. Und auch wenn in der Psychologie nie alles nach Lehrbuch verlaufen wird, muss ich an dieser Stelle eingestehen, dass mich das zutiefst frustriert hat. Es ist natürlich schwierig, sich über die Tragödie Lenny Hell zu freuen. Aber sie bestätigt die in meiner Abhandlung aufgestellten Theorien und ermöglicht damit ein klareres Bild und ein präziseres Verständnis von Vampiristen, was uns hoffentlich hilft, zukünftige Tragödien zu verhindern, denn es muss darum gehen, Vampiristen bereits frühzeitig aufzuhalten.« Hallstein räusperte sich. »Ich danke der Prüfungskommission, die nur meine ursprüngliche Abhandlung hätte bewerten müssen, mir aber die Gelegenheit gab, die Änderungen einzuarbeiten, die infolge der Entlarvung von Hell notwendig waren. Auch dadurch ist letzten Endes alles vollkommen schlüssig geworden …«
Als der Dekan diskret signalisierte, dass die Zeit des ersten Prüfers zu Ende ging, hatte Hallstein das Gefühl, dass gerade erst fünf Minuten vergangen waren und nicht fünfundvierzig. Alles lief wie am Schnürchen.
Schließlich trat der Dekan selbst ans Rednerpult und kündigte die Pause an, in der jetzt Fragen ex auditorio angemeldet werden konnten. Hallstein konnte es kaum abwarten, ihnen allen seine phantastische Arbeit zu erklären, die in all ihrem Grauen letztendlich ja doch vom Schönsten und Größten handelte, das es gab: dem Geist des Menschen.
Hallstein nutzte die Pause, um sich in der Eingangshalle unter die Leute zu mischen und alle zu begrüßen, die nicht zum Essen eingeladen waren. Er sah Harry Hole mit einer dunkelhaarigen Frau zusammenstehen und ging zu ihnen.
»Harry!«, sagte er und drückte die Hand des Polizisten. Sie war hart und kalt wie Marmor. »Und das muss Rakel sein?«
»So ist es«, sagte Harry.
Hallstein nahm ihre Hand und bemerkte, dass Harry auf die Uhr und dann zum Eingang sah.
»Warten wir noch auf jemanden?«
»Ja«, sagte Harry. »Und da sind sie auch schon.«
Hallstein sah zwei Personen hereinkommen. Ein großgewachsener, dunkel wirkender junger Mann und ein Mann, vermutlich in den Fünfzigern, mit blonden Haaren und einer kleinen, rahmenlosen Brille mit rechteckigen Gläsern. Es schien ihm, als ähnelte der junge Mann Rakel, aber auch der andere kam ihm vage bekannt vor.
»Wo habe ich den Mann mit der Brille schon mal gesehen?«, fragte Hallstein.
»Das weiß ich nicht, aber das ist der Hämatologe Dr. John D. Steffens.«
»Und was macht der hier?«
Hallstein sah Harry tief einatmen. »Er ist hier, um einen Schlussstrich unter die Geschichte zu ziehen. Er weiß es nur noch nicht.«
Im selben Augenblick läutete der Dekan eine Glocke und bat mit lauter Stimme, dass bitte alle wieder ihre Plätze einnehmen sollten.
John D. Steffens schob sich, gefolgt von Oleg Fauke, zwischen zwei Bankreihen hindurch und ließ seinen Blick auf der Suche nach Harry Hole über die Anwesenden gleiten. Sein Herz blieb für eine Sekunde stehen, als er den jungen blonden Mann in der hintersten Reihe erblickte. Als Anders Steffens sah, weiteten seine Augen sich vor Entsetzen. Steffens drehte sich zu Oleg um. Er wollte sagen, dass er einen Termin vollkommen vergessen habe und nun doch gehen müsse.
»Ich weiß«, kam Oleg ihm zuvor und machte keine Anstalten, ihn durchzulassen. Steffens wurde in diesem Moment bewusst, dass der Junge fast so groß wie sein Stiefvater, Hole, war. »Jetzt lassen wir das seinen Gang gehen, Steffens.«
Der junge Mann legte seine Hand auf Steffens’ Schulter, und der Arzt hatte irgendwie das Gefühl, als würde er mit aller Macht in einen Sitz gedrückt. Steffens setzte sich und spürte, wie sein Puls sich langsam beruhigte. Würde. Ja, Würde. Oleg Fauke wusste Bescheid. Was nur bedeuten konnte, dass auch Harry Hole Bescheid wusste und dass die beiden ihm ganz bewusst keine Möglichkeit zum Rückzug gelassen hatten. Aus Anders’ Reaktion war klar zu entnehmen gewesen, dass auch er nichts davon gewusst hatte. Sie waren überlistet worden. Ausgetrickst, um beide hier zu sein. Aber was jetzt?
Katrine Bratt setzte sich zwischen Harry und Bjørn, als der Dekan ans Rednerpult trat und den zweiten Teil eröffnete.
»Der Doktorand hat Fragen ex auditorio erhalten, wenn ich Sie bitten dürfte, Harry Hole.«
Katrine sah erstaunt zu Harry, der sich erhob. »Danke.«
Sie nahm die überraschten Blicke der anderen wahr. Einige lächelten, als erwarteten sie einen Spaß. Auch Hallstein Smith schien sich zu amüsieren, als er das Rednerpult übernahm.
»Herzlichen Glückwunsch«, sagte Harry. »Du bist kurz vor deinem großen Ziel, und ich möchte dir für deinen Beitrag zum Vampiristenfall danken.«
»Ich bin es, der zu Dank verpflichtet ist«, sagte Smith mit leichter Verbeugung.
»Ja, vielleicht«, sagte Harry. »Denn wir haben ja den Puppenspieler gefunden, der Valentin gesteuert hat. Worauf, wie Ståle ja bereits erwähnt hat, deine ganze Doktorarbeit beruht. In dem Punkt hast du also Glück gehabt.«
»Das habe ich, ja.«
»Es gibt aber ein paar andere Fragen, auf die wir alle, wie ich glaube, Antworten möchten.«
»Ich werde mein Bestes tun, Harry.«
»Ich erinnere mich an die Aufnahme von Valentin, als er bei dir in den Stall ging. Er wusste genau, wohin er musste, nur von der Waage hinter der Tür hatte er keine Ahnung. Er hat das Gebäude ohne jedes Zögern betreten, war sich sicher, festen Boden unter den Füßen zu haben. Und hätte um ein Haar das Gleichgewicht verloren. Warum war das so?«
»Wir setzen manche Sache als gegeben voraus«, sagte Smith. »In der Psychologie sprechen wir in diesem Zusammenhang vom Rationalisieren, das heißt, wir vereinfachen. Ohne Rationalisierung wäre unsere Welt kaum zu handhaben, unser Hirn wäre überlastet von all den möglichen Unsicherheiten, die wir berücksichtigen müssen.«
»Deshalb gehen wir auch im Dunkeln eine Kellertreppe hinunter, ohne uns Sorgen zu machen oder zu fürchten, wir könnten uns den Kopf an einer Wasserleitung stoßen.«
»Genau.«
»Und wenn es uns doch einmal passiert ist, erinnern wir uns – auf jeden Fall die meisten von uns – beim nächsten Mal daran. Deshalb ist Katrine Bratt schon beim zweiten Mal, als sie bei dir im Stall war, mit aller Vorsicht auf die Waage getreten. Und deshalb ist es auch nicht seltsam, dass wir auch von dir Haut und Blut an der Wasserleitung in Hells Keller gefunden haben, nicht aber von Lenny Hell. Er hatte schon als Kind gelernt, wo er den Kopf einziehen musste. Sonst hätten wir Hells DNA gefunden, denn solche Spuren sind noch Jahre später nachweisbar, wenn sie erst einmal an einer solchen Wasserleitung sind.«
»Das mag stimmen, Harry.«
»Ich komme noch darauf zurück, reden wir zuerst darüber, was wirklich seltsam ist.«
Katrine richtete sich auf. Sie wusste noch immer nicht, was das sollte, aber sie kannte Harry und bemerkte das kaum hörbare, niederfrequente Brummen in seiner Stimme.
»Als Valentin Gjertsen gegen Mitternacht den Stall betritt, wiegt er 74,7 Kilo«, sagte Harry. »Als er ihn wieder verlässt, zeigt die Waage auf der Videoaufnahme 73,2 Kilo an, also exakt anderthalb Kilo weniger.« Harry breitete die Arme aus. »Auf der Hand lag natürlich die Erklärung, dass dieser Gewichtsunterschied durch den Blutverlust in deinem Büro zu erklären ist.«
Katrine hörte das diskrete, aber ungeduldige Räuspern des Dekans.
»Aber dann ist mir eine Sache in den Sinn gekommen«, sagte Harry. »Wir hatten ja den Revolver vergessen! Den Valentin mitgebracht hatte und der jetzt in deinem Büro lag. Eine Ruger Redhawk wiegt rund 1,2 Kilo. Damit die Rechenaufgabe aufgeht, hatte Valentin also nur 0,3 Liter Blut verloren …«
»Hole«, sagte der Dekan. »Wenn das eine Frage an den Doktoranden werden soll …«
»Zuerst eine Frage an einen Experten für Blut«, sagte Harry und wandte sich dem Saal zu. »Oberarzt John Steffens, Sie sind Hämatologe und waren zufällig zugegen, als Penelope Rasch ins Krankenhaus eingeliefert wurde …«
John D. Steffens spürte, wie ihm der Schweiß ausbrach, als alle Blicke sich auf ihn richteten. Genau wie damals, als er im Zeugenstand gesessen und erklärt hatte, wie seine Frau gestorben war. Wie ihr die Messerstiche zugefügt worden waren, bis sie buchstäblich in seinen Armen verblutet war. All die Blicke, damals wie heute. Anders’ Blick, damals wie heute.
Er schluckte.
»Ja, das stimmt.«
»Sie haben damals bewiesen, dass Sie einen sehr guten Blick für Blutmengen haben. Basierend auf einem Tatortfoto haben Sie den Blutverlust bei ihr auf relativ genau anderthalb Liter geschätzt.«
»Ja.«
Harry nahm ein Bild aus der Jackentasche und hielt es hoch. »Und basierend auf diesem Foto, das in Hallstein Smiths Büro aufgenommen worden ist und das ein Sanitäter Ihnen gezeigt hat, haben Sie auch hier den Blutverlust auf anderthalb Liter geschätzt, also anderthalb Kilo, richtig?«
Steffens schluckte. Er spürte Anders’ Blick in seinem Rücken. »Das stimmt. Plus/minus zwei Deziliter.«
»Nur zur Sicherheit, ist es möglich, nach einem derartigen Blutverlust noch einmal aufzustehen und zu fliehen?«
»Das ist individuell sehr unterschiedlich, aber wenn man die entsprechende Physis und einen starken Willen hat, ja.«
»Und damit komme ich zu meiner einfachen Frage«, sagte Harry.
Steffens spürte, wie der Schweiß ihm über die Stirn lief.
Harry wandte sich wieder dem Rednerpult zu.
»Wie geht das an, Smith?«
Katrine hielt die Luft an. Die Stille war jetzt fast mit den Händen zu greifen.
»Da muss ich passen, Harry, das weiß ich nicht«, sagte Smith. »Ich hoffe nur, dass meine Prüfung damit nicht gelaufen ist. Zu meiner Verteidigung möchte ich jedoch anfügen, dass die Frage nicht den Kern meiner Arbeit betrifft.« Er lächelte, erntete dieses Mal aber kein Lachen. »Eher betrifft sie die Arbeit der Polizei. Vielleicht kannst du die Frage also selbst beantworten, Harry?«
»Tja«, sagte Harry und holte tief Luft.
Nein, dachte Katrine.
»Valentin Gjertsen hatte gar keinen Revolver dabei, als er kam. Der befand sich nämlich bereits in deinem Büro.«
»Was?« Smiths Lachen hallte wie ein einsamer Vogelschrei durch den Saal. »Wie soll der denn da hingekommen sein?«
»Du hast ihn mit dahin genommen«, sagte Harry.
»Ich? Ich habe doch nichts mit einem Revolver zu tun.«
»Es war dein Revolver, Smith.«
»Meiner? Ich habe niemals einen Revolver besessen. Das kannst du im Waffenregister überprüfen.«
»Wo der Revolver registriert ist auf einen Seemann aus Farsund, den du wegen Schizophrenie behandelt hast.«
»Seemann? Was redest du da, Harry? Du hast doch selbst gesagt, dass Valentin dich mit diesem Revolver bedroht hat. In der Bar, in der er Mehmet Kalak getötet hat.«
»Du hast ihn danach zurückbekommen.«
Im Saal breitete sich eine zunehmende Unruhe aus, es wurde gemurmelt, und die Anwesenden rutschten auf ihren Stühlen hin und her.
Der Dekan stand auf und hob die Arme, um die Leute zur Ruhe zu mahnen. In seinem Talar sah er aus wie ein Hahn, der die Flügel ausbreitete. »Entschuldigen Sie, Herr Hole, aber das ist eine Disputation hier. Wenn Sie Fragen zu einem Polizeifall haben, möchte ich Sie bitten, den üblichen Weg zu gehen und diese nicht hier in der Universität zu stellen.«
»Herr Dekan, verehrte Prüfer«, sagte Harry. »Ist es für die Bewertung dieser Doktorarbeit nicht von grundlegender Bedeutung, ob die Arbeit auf einer missverstandenen Fallstudie basiert? Sind es nicht gerade solche Fragen, die bei einer Disputation geklärt werden müssen?«
»Herr Hole«, begann der Dekan mit donnernder Stimme.
»… hat recht«, sagte Ståle Aune in der ersten Reihe. »Verehrter Vorsitzender, als Mitglied der Prüfungskommission interessiert es mich sehr, was Hole den Doktoranden fragen will.«
Der Dekan starrte Aune an. Dann Harry. Und zum Schluss Smith. Schließlich nahm er wieder Platz.
»Nun«, sagte Harry. »Dann möchte ich den Doktoranden fragen, ob er Lenny Hell in dessen Haus als Geisel gehalten hat und ob er es war und nicht Hell, der Valentin Gjertsen ferngesteuert hat?«
Ein beinahe lautloses Raunen ging durch den Raum, gefolgt von einer Stille, die so drückend war, als wäre keine Luft mehr im Raum.
Smith schüttelte ungläubig den Kopf. »Das ist ein Witz, oder? Harry? Das habt ihr euch im Heizungsraum ausgedacht, um diese Disputation besonders spannend zu machen, oder?«
»Ich schlage vor, dass du uns eine Antwort auf diese Frage gibst, Hallstein.«
Vielleicht ließ der Gebrauch des Vornamens Smith erkennen, dass Harry es ernst meinte. Katrine glaubte jedenfalls erkennen zu können, dass Smith irgendetwas klarwurde.
»Harry«, sagte er leise. »Ich war vor diesem Sonntag, an dem du mich dorthin mitgenommen hast, nie in Hells Haus.«
»Doch, das warst du«, sagte Harry. »Du hast zwar daran gedacht, all die Stellen abzuwischen, an denen du Fingerabdrücke oder DNA-Material hättest hinterlassen können. Aber einen Ort hast du vergessen. Die Wasserleitung.«
»Die Wasserleitung? Wir haben an diesem verfluchten Sonntag doch alle unsere DNA an dieser Wasserleitung hinterlassen, Harry!«
»Du nicht.«
»Doch, ich auch! Frag Bjørn Holm, er sitzt neben dir.«
»Bjørn kann bestätigen, dass deine DNA an der Wasserleitung war, nicht aber, dass du sie an diesem Sonntag dort hinterlassen hast. Denn am Sonntag bist du nach unten in den Keller gekommen, als ich schon dort war. Lautlos, ich habe dich nicht kommen gehört, erinnerst du dich? Lautlos, weil du dir deinen Kopf eben nicht angeschlagen hast. Du hast dich geduckt. Weil dein Hirn sich erinnert hat.«
»Das ist lächerlich, Harry. Ich habe mir am Sonntag den Kopf gestoßen, ich habe dabei nur kein Geräusch gemacht.«
»Vielleicht weil du die hier getragen hast. Sie hat dich geschützt.« Harry zog eine schwarze Mütze aus der Tasche und setzte sie sich auf. Vorne war ein weißer Totenkopf zu erkennen, und Katrine las den Schriftzug St. Pauli. »Also, wie kann man DNA hinterlassen, also Blut, Haut oder Haare, wenn man die hier tief in die Stirn gezogen hat?«
Hallstein Smith blinzelte mehrmals.
»Der Doktorand antwortet nicht«, sagte Harry. »Lassen Sie mich für ihn antworten. Hallstein Smith hat sich den Kopf gestoßen, als er zum ersten Mal in diesem Keller war, aber das ist lange her, das war noch bevor der angebliche Vampirist begonnen hatte, sein Unwesen zu treiben.«
Wieder wurde es still, nur Hallstein Smiths leise glucksendes Lachen war zu hören.
»Bevor ich dazu etwas sage«, begann Smith, »sollten wir, denke ich, dem früheren Hauptkommissar Harry Hole für seine phantasievolle Geschichte applaudieren.«
Smith begann zu klatschen, und einige wenige fielen ein, bevor das Klatschen wieder erstarb.
»Damit das aber mehr als nur eine Geschichte ist, braucht es dasselbe wie bei einer Doktorarbeit«, sagte Smith. »Beweise! Und die hast du nicht, Harry. Deine ganze Schlussfolgerung beruht auf zwei höchst zweifelhaften Annahmen. Dass eine sehr alte Waage in einem Stall genau das richtige Gewicht anzeigt, auch wenn jemand nur für ein paar Sekunden draufsteht. Eine Waage, von der ich dir versichern kann, dass sie immer wieder verrücktspielt. Und zweitens, dass ich aufgrund einer Mütze an jenem Sonntag keine DNA an der Wasserleitung hinterlassen haben kann. Eine Mütze, die ich abgenommen habe, bevor ich in den Keller gegangen bin, bevor ich mir den Kopf gestoßen habe, um sie unten dann wieder aufzusetzen, weil es dort kälter war als oben. Dass ich jetzt keinen Kratzer mehr auf der Stirn habe, liegt bloß daran, dass ich gutes Heilfleisch habe. Meine Frau kann bestätigen, dass ich eine Wunde an der Stirn hatte, als ich nach Hause gekommen bin.«
Katrine sah, wie die Frau mit dem selbstgenähten erdfarbenen Kleid ihren Mann mit schwarzen, ausdruckslosen Augen anstarrte, als stünde sie unter Schock.
»Nicht wahr, May?«
Der Mund der Frau öffnete und schloss sich. Dann nickte sie langsam.
»Sehen Sie, Harry?« Smith legte den Kopf schief und sah Harry mit besorgtem, mitleidigem Blick an. »Siehst du, wie einfach es ist, deine Theorie auseinanderzunehmen?«
»Nun«, sagte Harry. »Ich respektiere die Loyalität deiner Frau, aber ich fürchte, der DNA-Beweis ist nicht zu widerlegen. Die Analyse des Rechtsmedizinischen Instituts hat nicht nur nachgewiesen, dass es sich um deine DNA gehandelt hat, sondern auch, dass diese mehr als zwei Monate alt ist. Sie kann also unmöglich an diesem Sonntag dort hingekommen sein.«
Katrine zuckte auf ihrem Stuhl zusammen und sah zu Bjørn. Er erwiderte ihren Blick und schüttelte kaum sichtbar den Kopf.
»Deshalb, Smith, ist es keine bloße Theorie, dass du irgendwann im Herbst in Hells Keller gewesen bist. Es ist eine Tatsache. Wie es auch eine Tatsache ist, dass die Ruger in deinem Besitz war und sich in deinem Büro befunden hat, als du den unbewaffneten Valentin Gjertsen angeschossen hast. Dazu kommt dann noch diese Stilometrie-Analyse.«
Katrine starrte auf die verknitterte gelbe Mappe, die Harry aus dem Sakko gezogen hatte. »Es gibt ein Computerprogramm für Stilometrie, das Wortwahl, Satzbau, Textstruktur und Zeichensetzung analysieren kann, um den Verfasser eines Textes zu identifizieren. So lässt sich zum Beispiel nachweisen, welche Stücke tatsächlich von Shakespeare stammen und welche nicht. Die Trefferquote für den richtigen Verfasser liegt allerdings nur bei über achtzig Prozent. Also nicht hoch genug, um als Beweis zu dienen. Aber die Quote, um bestimmte andere Schreiber auszuschließen, zum Beispiel Shakespeare, liegt bei neunundneunzig Komma neun Prozent. Unser IT-Experte Tord Gren hat mit dem Programm die E-Mails, die an Valentin geschickt wurden, mit denen verglichen, die Lenny Hell an andere geschickt hat. Insgesamt an die tausend E-Mails. Die Schlussfolgerung lautet«, Harry reichte Katrine die Mappe, »dass Lenny Hell die Instruktionen, die Valentin Gjertsen per Mail erhalten hat, nicht verfasst haben kann.«
Smith starrte Harry an. Seine zur Seite gekämmten Haare waren ihm in die verschwitzte Stirn gerutscht. »Das können wir dann bei der anstehenden Polizeivernehmung besprechen«, sagte Harry. »Hier und heute haben wir es ja mit einer Disputation zu tun. Du hast noch immer die Möglichkeit, der Prüfungskommission eine Erklärung zu liefern, damit du den Doktortitel erhältst. Das stimmt doch so, Aune?«
Ståle Aune räusperte sich. »Das ist richtig. Die Wissenschaft ist blind für die Moral der jeweiligen Zeit, und es wäre nicht die erste Doktorarbeit, die mittels moralisch zweifelhafter oder geradezu ungesetzlicher Winkelzüge fertiggestellt wurde. Was wir in der Prüfungskommission wissen müssen, bevor wir die Arbeit möglicherweise anerkennen, ist, ob Valentin nun von jemandem angeleitet wurde oder nicht. Sollte das nicht der Fall sein, bezweifle ich, dass wir die Arbeit anerkennen können.«
»Danke«, sagte Harry. »Also, was sagst du, Smith? Willst du der Kommission das noch erklären, bevor wir dich verhaften?«
Hallstein Smith starrte Harry an. Nur sein Keuchen war zu hören, als hielten alle anderen die Luft an. Ein einzelnes Blitzlicht leuchtete auf.
Der Vorsitzende wandte sich mit hektischen roten Flecken im Gesicht an Ståle:
»Mein Gott, Aune, was geht hier eigentlich vor?«
»Wissen Sie, was eine Affenfalle ist?«, fragte Ståle Aune, lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
Hallstein Smiths Kopf ruckte hoch, als hätte man ihm einen Stromstoß verpasst. Er hob seinen Arm, zeigte an die Decke und rief lachend: »Was habe ich schon zu verlieren, Harry?«
Harry antwortete nicht.
»Die Antwort lautet: ja. Valentin wurde gesteuert. Von mir. Natürlich habe ich diese Briefe geschrieben. Für die Wissenschaft ist es aber nicht wichtig, wer hinter Valentin stand und ihn gesteuert hat, sondern lediglich, dass Valentin ein echter Vampirist war, wie aus meiner Forschung hervorgeht. Nichts von dem, was du hier sagst, macht meine Ergebnisse zunichte. Dass ich alles vorbereitet und quasi Laborbedingungen geschaffen habe, entspricht dem Vorgehen vieler Wissenschaftler. Nicht wahr?« Er ließ den Blick über die Anwesenden schweifen. »Letzten Endes war es ja nicht meine Entscheidung, was er getan hat, sondern seine eigene. Und sechs Menschenleben sind kein zu hoher Preis für eine Arbeit«, Smith klopfte mit dem Zeigefinger auf seine gebundene Doktorarbeit, »durch die der Menschheit in Zukunft viel Leid und manch ein Mord erspart bleiben wird. Hier drinnen sind die Gefahrenmerkmale und Profile beschrieben. Es war Valentin Gjertsen, der das Blut der Opfer getrunken und sie getötet hat, nicht ich. Ich habe nur die Möglichkeit dazu geschaffen. Hat man das Glück, auf einen wahren Vampiristen zu stoßen, ist man verpflichtet, das auch zu nutzen. Eine kurzsichtige Moral darf kein Hemmnis sein. Man muss das große Ganze sehen, zum Besten der Menschheit. Fragen Sie Oppenheimer, fragen Sie Mao, fragen Sie Tausende von krebskranken Laborratten.«
»Dann hast du Lenny Hell und Marte Ruud uns zuliebe getötet?«, fragte Harry.
»Ja, ja! Das waren Opfer im Namen der Wissenschaft!«
»Wie du dich selbst und deine eigene Menschlichkeit geopfert hast? Aus Menschlichkeit?«
»Genau, genau!«
»Diese Menschen sind also nicht gestorben, damit du, Hallstein Smith, dich daran aufgeilen konntest? Sondern damit der Affe endlich auf dem Thron sitzt und sein Name in den Geschichtsbüchern steht. Das ist es doch, was dich in Wahrheit die ganze Zeit über angetrieben hat, oder?«
»Ich habe euch gezeigt, was ein Vampirist ist und wozu er in der Lage ist! Verdiene ich dafür nicht den Dank der Menschen?«
»Nun«, sagte Harry. »Du hast uns in erster Linie gezeigt, wozu ein gedemütigter Mann in der Lage ist.«
Hallstein Smiths Kopf ruckte wieder hoch. Sein Mund öffnete und schloss sich. Es kamen aber keine Worte mehr.
»Wir haben genug gehört.« Der Dekan erhob sich. »Diese Disputation ist beendet, und ich bitte möglicherweise anwesende Polizisten, die Verhaftung …«
Hallstein Smith bewegte sich überraschend schnell. Mit zwei Schritten war er unten am Tisch, schnappte sich den Revolver, lief zur ersten Reihe und legte den Lauf an den Kopf des nächsten Zuhörers.
»Aufstehen!«, fauchte er. »Und alle anderen bleiben sitzen!«
Katrine sah, wie eine blonde Frau sich erhob. Smith drehte sie um, so dass sie wie ein Schild vor ihm stand. Es war Ulla Bellman. In stummer Verzweiflung starrte sie mit offenem Mund auf einen Mann, der in der ersten Reihe saß. Katrine sah nur den Hinterkopf von Mikael Bellman und wusste nicht, was sein Gesicht ausdrückte, aber er rührte sich nicht. Ein Schluchzen war zu hören. Es kam von May Smith. Ihr Körper war etwas zur Seite gekippt.
»Lass sie los!«
Katrine drehte sich um. Die grunzende Stimme war von ganz hinten gekommen. Es war Truls Berntsen. Er war aufgestanden und kam langsam die Treppe herunter.
»Stopp, Berntsen!«, rief Smith. »Sonst erschieße ich erst die Frau und dann Sie!«
Aber Truls Berntsen blieb nicht stehen. Im Profil war sein Unterbiss noch deutlicher als sonst zu erkennen, aber auch die neuen Muskeln zeichneten sich deutlich unter dem Pullover ab. Er hatte das Ende der Treppe erreicht und ging direkt auf Smith und Ulla Bellman zu.
»Noch einen Schritt …«
»Erschießen Sie mich zuerst, Smith, sonst schaffen Sie es nicht mehr.«
»Wie Sie wollen.«
Berntsen schnaubte. »Sie naiver Zivilist, Sie wagen es doch nicht …«
Katrine spürte einen Druck in den Ohren, als säße sie in einem Flugzeug, das plötzlich an Höhe verlor. Und verstand erst im Augenblick danach, dass der Knall aus dem großen Revolver gekommen war.
Truls Berntsen war mit rundem Rücken, etwas nach vorn gezogenen Schultern, stehen geblieben und schwankte. Der Mund geöffnet und die Augen hervortretend. Katrine sah das Loch auf Brusthöhe im Pullover und wartete, und dann kam das Blut. Truls schien all seine Kraft zusammenzunehmen, um sich auf den Beinen zu halten, den Blick fest auf Ulla Bellman geheftet. Dann kippte er nach hinten.
Irgendwo im Saal war der Schrei einer Frau zu hören.
»Keiner rührt sich vom Fleck«, rief Smith und ging rückwärts in Richtung Ausgang, wobei er Ulla Bellman noch immer vor sich hielt. »Wir bleiben draußen bei angelehnter Tür noch eine Minute stehen. Wenn ich sehe, dass einer von Ihnen aufsteht, erschieße ich sie.«
Natürlich war das ein Bluff. Aber trotzdem würde niemand es wagen, das auszutesten.
»Die Schlüssel für den Amazon«, flüsterte Harry, der noch immer stand. Er streckte Bjørn die Hand hin, der nach einer Sekunde reagierte und ihm die Schlüssel gab.
»Hallstein!«, rief Harry und machte einen Schritt aus seiner Stuhlreihe. »Ihr Auto steht auf dem Gästeparkplatz der Universität und wird dort gerade von der Spurensicherung untersucht. Ich habe die Schlüssel zu einem Wagen, der direkt hier draußen vor der Treppe steht, und ich bin sicher eine bessere Geisel für Sie.«
»Warum?«, fragte Smith und ging weiter rückwärts.
»Weil ich mich ruhig verhalten werde und weil Sie ein Gewissen haben.«
Smith blieb stehen und starrte Harry ein paar Sekunden nachdenklich an.
»Geh da rüber, und leg dir die Handschellen an«, sagte er und nickte in Richtung Tisch.
Harry trat vor, ging an Truls vorbei, der regungslos am Boden lag, und stellte sich mit dem Rücken zum Saal und zu Smith an den Tisch.
»So, dass ich dich sehen kann!«, rief Smith.
Harry drehte sich zu ihm um und hob die Hände, so dass Smith sehen konnte, dass die Nachbildung der alten Handschellen tatsächlich geschlossen war.
»Komm her!«
Harry ging zu ihm.
Smith schob Ulla Bellman zur Seite und richtete den Revolver auf Harry.
»Eine Minute!«
Katrine sah, wie Smith mit der freien Hand Harrys Schulter packte, ihn herumdrehte und durch die Tür schob, die er einen Spaltbreit offen stehen ließ.
Ulla Bellman starrte auf die halbgeöffnete Tür, dann drehte sie sich um und sah zu ihrem Mann, der sie zu sich winkte. Und Ulla Bellman ging los. Mit kurzen, unsicheren Schritten, als liefe sie über dünnes Eis. Neben Truls Berntsen ging sie auf die Knie und legte ihren Kopf auf seinen blutigen Pullover. Der eine schmerzerfüllte Schluchzer, der über Ulla Bellmans Lippen kam, war lauter als der Knall des Revolvers.
Harry spürte den Lauf des Revolvers im Rücken, als er vor Smith herging. Verdammte Scheiße! Er hatte tags zuvor alles bis ins Detail geplant und alle nur erdenklichen Szenarien durchdacht, aber das, was jetzt geschehen war, hatte er nie für möglich gehalten.
Harry öffnete die Eingangstür mit dem Fuß, und die kalte Märzluft schlug ihm ins Gesicht. Der vollkommen leere Universitätsplatz badete vor ihnen in der Sonne. Der schwarze Lack von Bjørns Volvo Amazon glänzte.
»Los!«
Harry ging die Treppe hinunter auf den Platz. Als er unten war, rutschten ihm die Füße weg, und er stürzte seitlich zu Boden, ohne sich abstützen zu können. Ein stechender Schmerz schoss ihm durch Arm und Rücken, als er auf dem Eis aufschlug.
»Hoch mit dir!«, fauchte Smith, packte die Kette der Handschellen und zog ihn auf die Beine.
Harry nutzte den Schwung, den Smith ihm gab, er wusste, dass sich kaum eine bessere Chance bieten würde. Er schoss mit dem Kopf nach vorne und traf Smith, der zwei Schritte nach hinten taumelte und auf den Rücken fiel. Harry wollte sich auf Smith stürzen, aber der umklammerte mit beiden Händen den Revolver, der direkt auf Harry zeigte.
»Komm schon, Harry. Das Spielchen kenne ich, so habe ich in der Schule in jeder zweiten Pause gelegen. Versuch’s doch!«
Harry starrte in die Mündung des Revolvers. Smiths Nase hatte einen Knick, und da, wo die Haut aufgeplatzt war, war ein weißer Knochen zu erkennen. Ein dünner Streifen Blut rann ihm über den Nasenflügel.
»Ich weiß, was du denkst, Harry«, sagte Smith und lachte. »Er hat Valentin nicht einmal aus zweieinhalb Metern richtig getroffen. Also, versuch’s doch. Oder du schließt das Auto auf.«
Harrys Hirn ratterte, ging die Optionen durch. Dann drehte er sich um, öffnete langsam die Fahrertür und hörte, wie Smith hinter ihm wieder auf die Beine kam. Harry setzte sich und steckte langsam den Schlüssel ins Zündschloss.
»Ich fahre!«, sagte Smith. »Rutsch rüber!«
Harry tat, was von ihm verlangt wurde, und schob sich langsam und umständlich über den Schaltknüppel auf den Beifahrersitz.
»Und jetzt hebst du die Beine über die Handschellen.«
Harry sah ihn an.
»Ich will beim Fahren nicht plötzlich die Handschellen um den Hals haben«, sagte Smith und hob den Revolver an. »Dein Problem, wenn du beim Yoga geschwänzt hast. Außerdem sehe ich, dass du Zeit schinden willst. Du hast fünf Sekunden. Von jetzt ab. Vier …«
Harry lehnte sich so weit nach hinten, wie der steil stehende Sitz es zuließ, streckte die zusammengeketteten Arme vor und zog die Knie an.
»Drei, zwei …«
Mit Mühe gelang es Harry, die frisch geputzten Schuhe über die Kette der Handschellen zu heben.
Smith setzte sich in den Wagen, beugte sich über Harry, zog den altmodischen Gurt über dessen Brust und ließ ihn einrasten. Dann zog er den Gurt so fest, dass Harry regelrecht an der Lehne fixiert war. Er nahm das Handy aus Harrys Jackentasche, legte sich selbst den Gurt an und schaltete den Motor ein. Dann gab er etwas Gas, schaltete in den Rückwärtsgang, ließ die Kupplung kommen und setzte in einem Bogen zurück. Zuletzt kurbelte er die Scheibe herunter und warf erst Harrys und dann sein eigenes Handy nach draußen.
Sie fuhren auf die Karl Johans gate und bogen nach rechts ab, auf das Schloss zu. Die Ampel schaltete auf Grün, und sie fuhren nach links, dann über einen Kreisverkehr und eine weitere Ampel vorbei am Konzerthaus in Richtung Aker Brygge. Der Verkehr lief flüssig. Viel zu flüssig, dachte Harry. Je weiter Smith und er kamen, bevor Katrine Streifenwagen und Helikopter alarmieren konnte, umso größer war das Gebiet, in dem sie sein konnten, und umso mehr Straßensperren mussten letztendlich errichtet werden.
Smith sah über den Fjord. »Oslo ist an solchen Tagen am schönsten, nicht wahr?«
Smiths Stimme klang nasal und wurde von einem dünnen Pfeifen begleitet, das wahrscheinlich von der gebrochenen Nase herrührte.
»Ein stiller Reisebegleiter«, sagte Smith. »Aber vermutlich hast du für heute wirklich genug geredet.«
Harry hatte seinen Blick auf die Autobahn vor ihnen gerichtet, Katrine konnte sie über die Handys nicht anpeilen, aber solange Smith auf den Hauptstraßen blieb, bestand Hoffnung, dass sie schnell gefunden wurden. Von einem Helikopter aus wäre das Auto mit dem Rallyestreifen leicht von den anderen zu unterscheiden.
»Er ist zu mir gekommen, nannte sich Alexander Dreyer und wollte mit mir über Pink Floyd reden und über die Stimmen, die er hörte«, sagte Smith und schüttelte den Kopf. »Wie du weißt, verstehe ich mich auf das Lesen von Menschen, weshalb ich gleich erkannt habe, dass das kein normaler Mensch war, sondern ein selten extremer Psychopath. Anschließend habe ich das, was er über seine sexuellen Phantasien erzählt hat, mit Aussagen von Kollegen verglichen, die mit Sittlichkeitsverbrechern arbeiten, und schnell erkannt, mit wem ich es da zu tun hatte. Und was sein Dilemma war. Er hungerte danach, seinen Jagdinstinkten zu folgen, aber ein einziger kleiner Fehler, ein noch so kleiner Ausrutscher, ein vager Verdacht, der die Aufmerksamkeit der Polizei auf Alexander Dreyer lenkte, würden ihn entlarven. Kannst du mir folgen, Harry?« Smith warf ihm einen raschen Blick zu. »Wenn er also wieder auf Jagd gehen wollte, musste dies in der Gewissheit geschehen, dass er sicher war. Er war perfekt, ein Mann ohne Alternativen. Ich musste ihm nur ein Halsband anlegen und den Käfig öffnen. Er würde fressen – und trinken –, was ihm vorgesetzt wurde. Aber ich konnte diese Angebote natürlich nicht selbst machen, ich brauchte einen fiktiven Puppenspieler, einen Blitzableiter, zu dem die Spuren führten, sollte Valentin geschnappt werden und ein Geständnis ablegen. Jemanden, der ohnehin irgendwann auffallen würde, so dass alles zusammenpasste und die Theorien meiner Doktorarbeit über den impulsiven, kindlich chaotischen Vampiristen stimmten. Lenny Hell war ein Eremit, der abgelegen wohnte und nie Besuch bekam. Bis eines Tages ganz überraschend sein Psychologe vor der Tür stand. Ein Psychologe, der etwas auf dem Kopf hatte, das ihn wie einen Habicht aussehen ließ, und der einen großen rotbraunen Revolver in der Hand hielt. Kra, kra, kra!« Smith lachte laut. »Du hättest Lennys Gesicht sehen sollen, als er kapierte, dass er gefangen und mein Sklave war! Zuerst habe ich ihn gezwungen, mein Patientenarchiv, das ich mitgebracht hatte, in sein Büro zu tragen. Dann haben wir einen Käfig, in dem meine Familie Schweine transportierte, in seinen Keller getragen. Als ich da nach unten gegangen bin, habe ich mir vermutlich den Kopf an dieser Scheißleitung gestoßen. Wir haben eine Matratze in den Käfig gelegt, auf der Lenny sitzen und liegen konnte, und dann habe ich ihn mit den Handschellen festgekettet. Und da blieb er dann. Eigentlich brauchte ich Lenny nicht mehr, nachdem ich die Details über die Frauen kannte, die er gestalkt hatte, ich die Schlüsselkopien zu ihren Wohnungen und sein Passwort hatte, so dass ich die E-Mails an Valentin von Lennys Computer schicken konnte. Trotzdem musste ich mit dem Arrangieren seines Selbstmordes noch warten. Sollte Valentin gefasst werden oder sterben und die Polizei die Verbindung zu Hell ermitteln, mussten sie ja eine frische Leiche finden, damit der zeitliche Ablauf auch stimmte. Damit die Polizei nicht zu früh auf Hell kam, musste ich außerdem dafür sorgen, dass er für den ersten Mord ein wasserdichtes Alibi hatte. Ich wusste ja, dass sein Alibi überprüft werden würde, da er mit Elise Hermansen in Telefonkontakt gestanden hatte. Also nahm ich Lenny mit in die Pizzeria im Dorf und präsentierte ihn so der Öffentlichkeit. Der Mord an Elise Hermansen sollte zeitgleich stattfinden, ich hatte Valentin alle entsprechenden Instruktionen dafür gegeben. Ich war dabei so konzentriert darauf, die Waffe unter dem Tisch auf Lenny zu richten, dass ich nicht früh genug bemerkte, dass im Pizzateig Nüsse waren.« Erneutes Lachen. »Anschließend hatte er viel Zeit allein in seinem Käfig. Ich musste lachen, als ihr Lenny Hells Sperma auf der Matratze gefunden und daraus geschlussfolgert habt, dass er Marte Ruud dort missbraucht hat.«
Sie fuhren an Bygdøy vorbei in Richtung Snarøya. Harry zählte automatisch die Sekunden. Vor zehn Minuten waren sie am Universitätsplatz losgefahren. Er sah nach oben zum wolkenlosen blauen Himmel.
»Denn Marte Ruud wurde nie missbraucht. Ich habe sie sofort erschossen, nachdem ich sie aus dem Wald in den Keller bugsiert hatte. Valentin hatte sie bereits zerstört, mein Schuss war reine Barmherzigkeit, eine Erlösung.« Smith drehte sich zu Harry. »Ich hoffe, du verstehst das, Harry? Harry? Findest du, dass ich zu viel rede?«
Smith seufzte. »Du wärst gut als Psychologe, Harry. Patienten lieben stille Psychologen, sie glauben, dass sie dann umso gründlicher analysiert werden. Professionelles Schweigen kommt immer gut. Aber, ach zum Teufel damit …«
Sie näherten sich Høvikodden, und der Oslofjord tauchte wieder zu ihrer Linken auf. Harry rechnete damit, dass die Polizei in Höhe von Asker, wo sie in zehn Minuten sein würden, eine Straßensperre errichtet hatte.
»Kannst du dir vorstellen, was für ein Geschenk es für mich war, als du mich gefragt hast, ob ich eure Ermittlungen unterstützen könnte? Ich war so überrascht, dass ich anfangs sogar abgelehnt habe. Bis mit klarwurde, dass ich dann ja alle Informationen hätte und Valentin warnen könnte, solltet ihr ihm zu nahe kommen und ihn an weiteren Taten hindern. Mein Vampirist konnte berühmter werden als Kürten, Haigh und Chase, ja, er könnte der Meister aller sein. Aber dann war ich trotzdem nicht über alles informiert. Ich wusste zum Beispiel nicht, dass das türkische Bad überwacht wurde, bis wir im Auto auf dem Weg dorthin waren. Und ich begann, die Kontrolle über Valentin zu verlieren. Er hat den Barkeeper getötet und Marte Ruud entführt. Zum Glück bekam ich rechtzeitig mit, dass ihr über den Bankautomaten seinen Decknamen Alexander Dreyer ermitteln konntet, so dass ich ihn warnen und er rechtzeitig aus der Wohnung fliehen konnte. Zu diesem Zeitpunkt wusste Valentin, dass ich, sein früherer Psychologe, der Mann war, der alle Fäden in der Hand hielt. Aber egal. Mit wem er im Boot saß, war ihm gleich. Dann bemerkte ich, dass das Netz immer enger gezogen wurde und es an der Zeit für das große Finale war, das ich schon eine ganze Weile geplant hatte. Er hatte seine Wohnung verlassen und war auf meinen Rat für den Übergang ins Plaza Hotel gezogen. Ich habe ihm dort dann einen Umschlag zukommen lassen mit Schlüsselkopien zu unserem Hoftor, dem Stall und meinem Büro und ihn instruiert, sich dort gegen Mitternacht, wenn alle im Bett waren, zu verstecken.
Ich kann natürlich nicht ausschließen, dass er gewisse Vorahnungen hatte, aber welche Alternativen hatte er, nachdem sein Deckname aufgeflogen war? Er musste ganz einfach darauf setzen, dass er mir vertrauen konnte. Und was das Arrangement angeht, musst du mir doch wohl ein Lob aussprechen, Harry! Dass ich dich und Katrine angerufen habe und so neben den Aufnahmen der Überwachungskameras auch noch Zeugen am Telefon hatte, war doch wohl genial. Was dann passiert ist, kann man natürlich als kaltblütige Liquidierung bezeichnen. Dass ich ganz bewusst die Geschichte von dem mutigen Forscher konstruiert habe, der den Serienmörder mit seinen Äußerungen in Rage gebracht und ihn schließlich in Notwehr erschossen hat. Natürlich war das auch der Grund dafür, dass ausländische Presseleute zu meiner Disputation gekommen sind und ganze vierzehn internationale Verlage die Rechte erworben haben, um meine Doktorarbeit zu publizieren. Zu guter Letzt ist das alles aber Forschung, Harry, Wissenschaft. Fortschritt. Es ist durchaus möglich, dass der Weg zur Hölle mit guten Vorsätzen gepflastert ist, aber der Weg in eine leuchtende, menschliche Zukunft fordert auch Opfer.«
Oleg drehte den Zündschlüssel.
»Die Notaufnahme im Ullevål!«, rief der junge blonde Beamte vom Rücksitz. Neben ihm lag Truls Berntsen, den Kopf auf seinem Schoß. Beide waren über und über mit Berntsens Blut besudelt. »Vollgas, und drück auf die Hupe!«
Oleg wollte gerade die Kupplung kommen lassen, als eine der hinteren Türen aufgerissen wurde.
»Nein!«, rief der Beamte wutschnaubend.
»Mach Platz, Anders!« Es war Steffens. Er zwang den jungen Beamten, auf der anderen Seite einzusteigen.
»Halte seine Beine hoch!«, kommandierte Steffens, der jetzt Berntsens Kopf hielt. »Damit er Blut …«
»… ins Herz und ins Gehirn kriegt«, sagte Anders.
Oleg ließ die Kupplung kommen, und sie schleuderten kontrolliert vom Parkplatz auf die Straße, wo sie sich zwischen eine klingelnde Straßenbahn und ein hupendes Taxi schoben.
»Wie sieht es aus, Anders?«
»Check das doch selbst!«, fauchte Anders. »Bewusstlos, schwacher Puls, aber er atmet. Die Schusswunde ist, wie du siehst, im rechten Hemithorax.«
»Die ist nicht das Problem«, sagte Steffens. »Die Austrittswunde ist viel schlimmer. Hilf mir, ihn umzudrehen.« Oleg warf einen Blick in den Rückspiegel. Sah, wie sie Truls Berntsen auf die Seite drehten und sein Hemd aufrissen. Dann konzentrierte er sich wieder auf die Straße, drückte die Hupe, um an einem Lastwagen vorbeizukommen, und beschleunigte und fuhr bei Rot über eine Ampel.
»Oh, verdammt!«, stöhnte Anders.
»Ja, das Loch ist schrecklich groß«, sagte Steffens. »Die Kugel scheint ein Stück der Rippe nach außen zu drücken. Er wird uns verbluten, bevor wir im Krankenhaus sind, wenn wir nicht …«
»Wenn wir was nicht?«
Oleg hörte Steffens tief durchatmen. »Wenn wir nicht einen besseren Job machen, als ich es bei deiner Mutter getan habe. Leg die Handballen auf beide Seiten der Wunde – so – und drücke sie fest zusammen. Schließ die Wunde, so gut es geht. Mehr können wir nicht tun.«
»Meine Hände rutschen weg.«
»Reiß was von seinem Hemdstoff ab und leg das unter deine Hände, das erhöht die Reibung.«
Oleg hörte Anders schwer atmen. Noch einmal warf er einen Blick in den Rückspiegel und sah, dass Steffens einen Finger auf Berntsens Brust gelegt hatte und mit einem anderen darauf klopfte.
»Ich perkutiere, aber ich sitze hier zu eingeengt, um ihn abzuhören«, sagte Steffens. »Kannst du …?«
Anders beugte sich vor, ohne die Wunde loszulassen, und legte sein Ohr auf Berntsens Brust.
»Dumpf«, sagte er. »Keine Luft. Glaubst du …?«
»Ja, ich befürchte einen Hämothorax«, sagte Steffens. »Die Lunge füllt sich mit Blut und wird gleich kollabieren. Oleg …«
»Hab’s gehört«, sagte Oleg und drückte das Gaspedal durch.
Katrine stand mitten auf dem Universitätsplatz, drückte sich das Handy ans Ohr und sah nach oben zum leeren, wolkenlosen Himmel. Der Polizeihelikopter, den sie bei Heli in Gardermoen angefordert hatte, war noch nicht zu sehen. Sie hatte die Kollegen beauftragt, auf dem Weg nach Oslo den Verkehr auf der E6 in Richtung Norden zu überprüfen.
»Nein, wir haben keine Handys, die wir anpeilen könnten«, rief sie über die lauten Sirenen hinweg, die aus verschiedenen Richtungen in der Stadt zu hören waren. »Keine registrierten Mautpassagen, nichts. Wir errichten Sperren auf der E6 und der E18 in Richtung Süden. Ich sage Bescheid, sobald wir etwas haben.«
»Okay«, antwortete Falkeid am anderen Ende. »Wir sind on standby.«
Katrine beendete das Gespräch, aber ihr Handy klingelte gleich wieder.
»Asker-Polizei auf der E18. Wir haben einen Lastwagen gestoppt und platzieren ihn unmittelbar an der Abfahrt Asker quer auf der Straße, so dass wir den Verkehr über den Kreisverkehr umleiten können. Ein schwarzer 70er-Amazon mit Rallyestreifen, richtig?«
»Ja.«
»Reden wir da wirklich von dem schlechtestmöglichen Fluchtwagen überhaupt?«
»Hoffen wie es mal. Halten Sie mich auf dem Laufenden.«
Bjørn kam angejoggt. »Oleg und der Oberarzt fahren Berntsen ins Ullevål«, schnaufte er. »Wyller ist auch mit.«
»Wie stehen die Chancen, dass er überlebt?«
»Ich kenne mich nur mit Leichen aus.«
»Okay, sah Berntsen aus wie eine?«
Bjørn Holm zuckte mit den Schultern. »Er hat noch immer geblutet, und das heißt doch wohl, dass er noch nicht ganz leer ist.«
»Und Rakel?«
»Sie sitzt noch drinnen im Saal und kümmert sich um Bellmans Frau, die ist ziemlich fertig. Bellman selbst musste weg, um die Operation von einem Ort aus zu steuern, von wo er den Überblick hat. Das hat er jedenfalls so gesagt.«
»Überblick?«, schnaubte Katrine. »Einzig von hier kann man den Überblick haben!«
»Ich weiß, aber versuch mal, ruhig zu bleiben, meine Kugel. Wir wollen doch nicht, dass der Kleine gestresst wird, oder?«
»Mein Gott, Bjørn.« Sie umklammerte ihr Telefon. »Warum konntest du mir nicht einfach sagen, was Harry vorhatte?«
»Weil ich es nicht wusste.«
»Du wusstest das nicht? Du musst doch etwas gewusst haben, wenn er die Spurensicherung auf Smiths Auto angesetzt hat.«
»Hat er nicht, das war ein Bluff. Genau wie das mit der Datierung von DNA-Material. Die Behauptung, dass wir festgestellt hätten, Smiths DNA-Material sei mehr als zwei Monate alt, war komplett aus der Luft gegriffen.«
Katrine starrte Bjørn an. Steckte die Hand in die Tasche und zog die gelbe Papiermappe heraus, die Harry ihr gegeben hatte. Öffnete sie. Drei Blätter. Alle leer.
»Bluff«, sagte Bjørn. »Um mittels Stilometrie-Programm ein sicheres Ergebnis zu bekommen, müssen die Texte mindestens fünftausend Zeichen haben. Die kurzen E-Mails, die an Valentin geschickt wurden, sagen nichts über den Verfasser aus.«
»Harry hatte nichts«, flüsterte Katrine.
»Gar nichts«, erwiderte Bjørn. »Er hatte es einzig und allein auf das Geständnis abgesehen.«
»Zum Teufel mit ihm!« Katrine drückte sich das Handy gegen die Stirn. Ob sie diese damit kühlen oder wärmen wollte, wusste sie selbst nicht. »Aber warum hat er nichts gesagt? Wir hätten draußen bewaffnete Polizeikräfte aufstellen können.«
»Weil er nichts sagen konnte.«
Die Antwort kam von Ståle Aune, der zu ihnen getreten war.
»Warum nicht?«
»Ganz einfach«, sagte Ståle. »Wenn er jemanden von der Polizei über seinen Plan informiert und die Polizei nicht eingegriffen hätte, wäre das, was da drinnen passiert ist, de facto ein Polizeiverhör gewesen. Ein nicht regelkonformes Verhör, da dem Verdächtigen seine Rechte nicht vorgelesen wurden, außerdem hat der Befrager ihn ja nun wirklich zu manipulieren versucht. Dann wäre nichts von dem, was Smith heute gesagt hat, vor Gericht verwendbar. Aber so …«
Katrine Bratt blinzelte. Dann nickte sie langsam. »Wie es aussieht, hat der Dozent und Privatmann Harry Hole an einer Disputation teilgenommen, bei der Smith freiwillig und vor Zeugen gesprochen hat. Warst du an der Sache beteiligt, Ståle?«
Ståle Aune nickte. »Harry hat mich gestern angerufen. Er hat mir von den Indizien erzählt, die gegen Hallstein Smith sprechen, und gesagt, dass er keine Beweise hat. Und dann hat er mich in den Plan eingeweiht, die Disputation zu nutzen, um Smith mit Hilfe einer Affenfalle zu stellen. Mit Steffens als Experten.«
»Und du hast geantwortet?«
»Dass Hallstein ›Affe‹ Smith schon einmal in eine solche Falle getappt ist und diesen Fehler sicher nicht noch mal machen wird.«
»Aber?«
»Harry hat meine eigenen Worte gegen mich verwendet und auf Aunes Postulat verwiesen.«
»Menschen sind notorisch«, sagte Bjørn. »Sie begehen immer wieder die gleichen Fehler.«
»Genau«, Aune nickte, »und Smith soll im Aufzug des Präsidiums zu Harry gesagt haben, dass er den Doktortitel gegen ein langes Leben tauschen würde.«
»Und natürlich ist dieser Idiot dann in die Affenfalle getappt«, stöhnte Katrine.
»Er ist seinem Spitznamen voll und ganz gerecht geworden, ja.«
»Nicht Smith, ich rede von Harry.«
Aune nickte. »Ich gehe in den Saal, Frau Bellman braucht Hilfe.«
»Ich komme mit und sichere den Tatort«, sagte Bjørn.
»Tatort?«, fragte Katrine.
»Berntsen.«
»Ach ja, stimmt.« Als die Männer weg waren, legte Katrine den Kopf in den Nacken und starrte wieder zum Himmel hoch. Wo blieb nur dieser Helikopter? »Zum Teufel!«, murmelte sie. »Zum Teufel mit dir, Harry!«
»Ist es denn seine Schuld?«
Katrine drehte sich um.
Mona Daa stand vor ihr. »Ich will nicht stören«, sagte sie. »Ich habe eigentlich frei, aber als ich das im Netz gelesen habe, musste ich einfach kommen. Wenn die VG irgendwas für Sie rausbringen soll, oder wenn Sie Smith über uns eine Nachricht zukommen lassen wollen …«
»Danke, Daa, dann melde ich mich.«
»Okay.« Mona Daa drehte sich um und watschelte in ihrem Pinguingang los.
»Ich war eigentlich verwundert darüber, dass Sie nicht bei der Disputation waren«, sagte Katrine.
Mona Daa blieb stehen.
»Immerhin haben Sie als Hauptreporterin der VG von Tag eins an über den Vampiristenfall berichtet«, sagte Katrine.
»Dann hat Anders noch nicht mit Ihnen gesprochen?«
Katrine merkte auf, als sie hörte, dass Mona Daa Anders Wyller wie selbstverständlich beim Vornamen nannte. »Mit mir gesprochen?«
»Ja. Anders und ich, wir …«
»Sie machen Witze«, sagte Katrine.
Mona Daa lachte. »Nein. Ich verstehe ja, dass das professionell betrachtet ein paar Probleme mit sich bringt, aber nein, Witze mache ich nicht.«
»Und wann …«
»Eigentlich gerade erst. Wir haben beide in den letzten Tagen freigenommen und die Zeit gemeinsam in Klausur verbracht – in Anders’ kleiner Wohnung –, um zu sehen, ob wir wirklich zueinanderpassen. Wir dachten, das wäre gut zu wissen, bevor wir darüber reden.«
»Dann wusste niemand davon?«
»Nicht, bis Harry uns bei seinem überraschenden Besuch beinahe auf frischer Tat ertappt hätte. Anders meinte, Harry hätte alles herausbekommen. Und ich weiß, dass er mich bei der VG zu erreichen versucht hat. Vermutlich wollte er wissen, ob er mit seinem Verdacht richtiglag.«
»Im Hinblick auf Verdächtigungen ist er ausgewiesenermaßen gut«, sagte Katrine und hielt weiter am Himmel nach dem Helikopter Ausschau.
»Ich weiß.«
Harry lauschte dem hohen Pfeifen, das Smith bei jedem Atemzug von sich gab. Und plötzlich nahmen seine Augen draußen auf dem Fjord etwas Merkwürdiges wahr. Einen Hund, der auf dem Wasser zu laufen schien. Schmelzwasser, das durch Spalten im Eis nach oben drückte, obwohl es noch immer fror.
»Mir ist der Vorwurf gemacht worden, dass ich mir Vampirismus einbilde, weil ich will, dass es ihn gibt«, sagte Smith. »Aber jetzt ist das für alle Ewigkeit bewiesen, und bald wird die ganze Welt wissen, was Professor Smiths Vampirismus ist, egal, was mit mir passieren wird. Und Valentin wird nicht der Einzige sein, es werden andere folgen. Der Blick der Welt wird weiterhin auf den Vampirismus gerichtet sein. Ich verspreche dir, die Nachfolger sind bereits rekrutiert. Du hast mich mal gefragt, ob Anerkennung wichtiger ist als das Leben. Natürlich ist sie das. Anerkennung ist ewiges Leben. Und auch du wirst ewig leben, Harry. Als der, der Hallstein Smith, den sie früher einmal den ›Affen‹ nannten, fast geschnappt hätte. Findest du, dass ich zu viel rede?«
Sie näherten sich IKEA. Noch fünf Minuten, dann würden sie in Asker sein. Der dort entstehende Stau würde Smith nicht irritieren, dort kam der Verkehr oft ins Stocken.
»Dänemark«, sagte Smith. »Da kommt der Frühling früher.«
Dänemark? Wurde Smith jetzt psychotisch? Plötzlich hörte Harry ein trockenes Klicken. Smith hatte den Blinker gesetzt. Nein! Scheiße! Er fuhr von der Hauptstraße ab, und Harry sah das Schild in Richtung Nesøya.
»Es ist genug Schmelzwasser auf dem Eis, um bis zum Rand des Eises zu kommen, meinst du nicht auch? Ein superleichtes Aluboot mit nur einem Mann Besatzung hat nicht so viel Tiefgang.«
Boot. Harry biss die Zähne zusammen und fluchte leise. Das Bootshaus. Er wollte zu dem Bootshaus, das laut Smith zum Hof gehörte.
»Über den Skagerrak sind es genau 130 Seemeilen. Wie lang dauert das bei durchschnittlich zwanzig Knoten? Harry, du kannst doch rechnen?« Smith lachte. »Ich habe es aber schon ausgerechnet. Mit dem Taschenrechner. Das sind sechseinhalb Stunden. Und dann kann man per Bus quer durch Dänemark fahren. Bis Kopenhagen ist es nicht weit. Nørrebro. Der Rote Platz. Ich setze mich auf eine Bank, halte ein Busticket hoch und warte auf das Reisebüro. Was hältst du von Uruguay? Ein schönes, kleines Land. Nur gut, dass ich den Weg bis in den Schuppen am Bootshaus geräumt habe, so dass da Platz für ein Auto ist. Sonst wäre es wegen des Rallyestreifens auf dem Dach vom Helikopter aus bestimmt leicht zu finden, oder was meinst du?«
Harry schloss die Augen. Smith hatte seinen Fluchtplan schon lange gemacht. Für den Fall der Fälle. Und dass er Harry jetzt einweihte, konnte nur eines bedeuten. Harry würde nie die Gelegenheit bekommen, das irgendjemandem zu erzählen.
»Da vorne nach links«, sagte Steffens vom Rücksitz. »Gebäude 17!«
Oleg bog ab und spürte, wie die Räder für einen Moment durchdrehten, dann griffen sie wieder auf dem Eis.
Er wusste, dass es innerhalb des Krankenhausgeländes eine Geschwindigkeitsbegrenzung gab, aber auch, dass Berntsen keine Zeit und kein Blut mehr verlieren durfte.
Er bremste vor dem Eingang, an dem bereits zwei Männer in gelben Sanitäterwesten warteten. Mit geübten Bewegungen bugsierten sie Berntsen von der Rückbank auf die bereitstehende Krankentrage.
»Er hat keinen Puls«, sagte Steffens. »Direkt in den Hybrid-Raum. Ist das Traumatologie-Team …?«
»Es sind alle da«, sagte der ältere Sanitäter.
Oleg und Anders folgten der Trage und Steffens durch die Flure bis zu einem OP, in dem bereits ein sechsköpfiges Team mit Kitteln und Mundschutz wartete.
»Danke«, sagte eine Frau und hob die Hand als Zeichen dafür, dass Anders und Oleg hier keinen Zutritt hatten. Die Trage, Steffens und das Team verschwanden hinter zwei breiten Türen.
»Ich weiß, dass du im Dezernat arbeitest«, sagte Oleg, als es um sie herum still wurde. »Aber nicht, dass du auch Medizin studiert hast.«
»Habe ich auch nicht«, sagte Anders und starrte auf die geschlossenen Türen.
»Nicht? Das hat sich im Auto aber anders angehört.«
»Ich habe in der Schulzeit auf eigene Faust ein wenig Medizin gelernt. Ich habe aber nie zu studieren begonnen.«
»Warum nicht? Wegen der Noten?«
»Die Noten hatte ich.«
»Aber?« Oleg wusste nicht, ob er weiterfragte, weil er sich wirklich dafür interessierte, oder um sich nicht fragen zu müssen, was jetzt wohl mit Harry war.
Anders starrte auf seine blutigen Hände. »Bei mir war das vermutlich so wie bei dir.«
»Bei mir?«
»Ich wollte werden, was mein Vater war.«
»Und dann?«
Anders zuckte mit den Schultern. »Dann wollte ich das nicht mehr.«
»Und bist stattdessen zur Polizei gegangen?«
»So hätte ich sie wenigstens retten können.«
»Sie?«
»Meine Mutter. Oder Menschen in derselben Situation. Dachte ich.«
»Wie ist sie gestorben?«
Anders zuckte mit den Schultern. »Bei uns zu Hause ist eingebrochen worden, der Einbrecher wurde von meiner Mutter überrascht, der sie dann als Geisel genommen hat. Mein Vater und ich standen einfach da, bis mein Vater irgendwann hysterisch wurde und der Einbrecher auf Mama einstach, um abhauen zu können. Vater ist wie ein kopfloser Hahn herumgerannt, hat nach einer Schere gesucht und dabei geschrien, dass ich sie nicht anrühren soll.« Wyller schluckte. »Mein Vater, der Oberarzt, suchte nach einer Schere, während ich dastand und sie verbluten sah. Ich habe im Nachhinein mit ein paar Ärzten gesprochen und dabei deutlich herausgehört, dass man sie hätte retten können, wenn wir sofort das Richtige getan hätten. Mein Vater ist Hämatologe, der Staat hat Millionen investiert, um ihm alles beizubringen, was man über Blut wissen kann. Und trotzdem war er nicht in der Lage, das zu tun, was man tun muss, damit sie nicht verblutete. Wüsste die Staatsanwaltschaft, was er über lebensrettende Ersthilfemaßnahmen weiß, hätte sie ihn bestimmt wegen fahrlässiger Tötung angeklagt.«
»Dein Vater hat versagt. Einen Fehler gemacht. Das ist doch nur menschlich.«
»Und trotzdem sitzt er da in seinem Büro und hält sich wegen dieses Oberarzttitels für besser als andere.« Anders’ Stimme hatte zu zittern begonnen. »Ein Polizist mit mittelmäßigem Abitur und einem einwöchigen Nahkampfkurs hätte den Einbrecher übermannt, bevor er hätte zustechen können.«
»Aber heute hat er nicht versagt«, sagte Oleg. »Steffens ist dein Vater, nicht wahr?«
Anders nickte. »Wenn es um das Leben eines korrupten, faulen Drecksacks wie Berntsen geht, macht er natürlich alles richtig.«
Oleg sah auf die Uhr. Nahm das Telefon. Keine Nachrichten von Mama. Er legte es zurück. Sie hatte gesagt, dass er nichts für Harry tun könne, wohl aber für Truls Berntsen.
»Es geht mich ja nichts an«, sagte Oleg. »Aber hast du deinen Vater jemals gefragt, auf wie viel er verzichtet hat? Wie viele Jahre er für die Arbeit geopfert hat, um möglichst viel über Blut zu wissen, und wie viele Menschen er dank dieses Einsatzes retten konnte?«
Anders schüttelte den gesenkten Kopf.
»Nein?«, fragte Oleg.
»Ich rede nicht mit ihm.«
»Überhaupt nicht?«
Anders zuckte mit den Schultern. »Ich bin ausgezogen. Hab seinen Namen aus meinem Leben getilgt.«
»Wyller ist der Name deiner Mutter?«
»Ja.«
Sie sahen den Rücken eines Mannes im Arztkittel, der in den OP hastete, bevor die Türen sich wieder schlossen.
Oleg räusperte sich. »Noch einmal, es geht mich nichts an. Aber denkst du nicht, dass du über deinen Vater ein etwas zu hartes Urteil fällst?«
Anders hob den Kopf. Sah Oleg in die Augen. »Du hast recht«, sagte er und nickte langsam. »Es geht dich nichts an.« Dann stand er auf und ging zum Ausgang.
»Wohin willst du?«, fragte Oleg.
»Zurück zur Universität. Fährst du mich? Sonst nehme ich den Bus.«
Oleg stand auf und folgte Anders. »Da sind doch schon genug, während hier ein Polizist liegt, der mit dem Tod ringt.« Er holte ihn ein und legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Und als Polizeikollege bist du im Moment der ihm Nächste. Du kannst jetzt nicht gehen. Er braucht dich.«
Als sich Anders umdrehte, sah Oleg, dass die Augen des jungen Polizisten glänzten.
»Sie brauchen dich beide«, sagte er.
Harry musste etwas tun. Und zwar schnell.
Smith war von der Hauptstraße abgebogen und fuhr vorsichtig über einen schmalen Weg, auf dem sich rechts und links der Schnee türmte. Vor ihnen lag der Fjord und davor ein rotgestrichenes Bootshaus mit Schuppen, dessen Doppeltür mit einem weißen Holzriegel verschlossen war. Er sah zwei Häuser, eines auf jeder Seite des Weges, aber sie lagen etwas versteckt hinter Bäumen und Felsen und waren so weit entfernt, dass er mit einfachen Hilfeschreien niemanden auf sich aufmerksam machen konnte. Harry holte tief Luft und drückte die Zunge gegen die Oberlippe. Er hatte einen metallischen Geschmack im Mund, und kalter Schweiß rann ihm am Körper herab. Er versuchte nachzudenken, zu ergründen, was Smith dachte. In einem kleinen, offenen Boot nach Dänemark. Natürlich war das möglich, aber so dreist, dass niemand in der ganzen Polizei auf eine solche Fluchtidee kommen würde. Und was würde mit ihm selbst passieren? Wie würde Smith dieses Problem lösen? Harry versuchte, die verzweifelte Stimme der Hoffnung zum Schweigen zu bringen, die ihm einreden wollte, dass Smith ihn verschonen würde. Und die träge Stimme der Resignation, die murrte, dass ohnehin schon alles zu spät sei und es nur noch schmerzhafter werden würde, wenn er sich zu wehren versuchte.
Stattdessen lauschte er der kalten Stimme der Logik, und die sagte ihm, dass er als Geisel keine Funktion mehr hatte und Smith im Boot nur behindern würde. Smith würde keine Hemmungen haben, da er bereits Valentin und einen Polizisten erschossen hatte. Und es würde hier drinnen im Auto passieren, bevor sie ausstiegen, damit der Knall nicht so weit zu hören war.
Harry versuchte sich nach vorn zu beugen, aber der Dreipunktgurt nagelte ihn an den Sitz. Die Handschellen drückten gegen seine Beine und scheuerten an der Haut seiner Handgelenke.
Es waren noch hundert Meter bis zum Bootshaus. Harry schrie. Ein kehliges Brüllen, das in der Tiefe seines Bauchs entstand. Dann warf er sich hin und her und knallte den Kopf an die Seitenscheibe. Es knackte, und im Glas war eine runde Bruchstelle zu sehen. Schreiend stieß er noch einmal mit dem Kopf zu. Die Bruchstelle wurde größer. Ein drittes Mal, und das erste Stückchen Glas fiel heraus.
»Halt deinen Mund, sonst erschieße ich dich gleich jetzt!«, rief Smith und hielt den Revolver an Harrys Kopf, ein Auge noch immer auf den Weg gerichtet.
Harry biss zu.
Spürte die Schmerzen, als sein Zahnfleisch zusammengedrückt wurde, und das Metall, das er geschmeckt hatte, seit er sich die Eisenzähne heimlich in den Mund geschoben und dann die Handschellen angelegt hatte. Die scharfen Zähne drangen überraschend glatt in Hallstein Smiths Handgelenk. Smith schrie auf, und Harry spürte den Revolver auf sein Knie und dann zwischen seine Füße fallen. Er spannte die Nackenmuskulatur an und zog Smiths Arm nach rechts. Smith ließ das Lenkrad los und versuchte, mit der linken Hand Harrys Kopf zu treffen, aber der Gurt hielt ihn so fest, dass er Harry nicht erreichte. Harry öffnete den Mund, etwas gurgelte in seiner Kehle, als er einatmete, und er biss erneut zu. Sein Mund füllte sich mit warmem Blut. Vielleicht hatte er die Pulsader getroffen, vielleicht nicht. Er schluckte den dicken, zähflüssigen Saft, wie Bratensauce, nur ekelhaft süß.
Smith bekam mit der linken Hand wieder das Lenkrad zu fassen. Harry hatte erwartet, dass er bremsen würde, stattdessen gab er Gas.
Die Räder des Amazon drehten auf dem Eis durch, bevor der Wagen nach unten in Richtung Bootshaus beschleunigte. Der Holzriegel brach wie ein Streichholz, als der zwei Tonnen schwere schwedische Oldtimer dagegenraste. Dann rissen die Schuppentüren aus den Scharnieren.
Harry wurde im Sitz nach vorn geschleudert, als der Wagen gegen einen Betonsockel knallte und das Zwölf-Fuß-Aluboot in Richtung Wasser drückte.
Er sah, dass der Zündschlüssel im Schloss abgeknickt war, dann ging der Motor aus. Er spürte einen stechenden Schmerz in Zähnen und Mund, als Smith seinen Arm zu sich zu reißen versuchte. Harry wusste, dass er nicht loslassen durfte, auch wenn er keinen großen Schaden anrichten konnte. Selbst wenn die Pulsader punktiert war, war sie an dieser Stelle des Handgelenks so dünn, dass es Stunden dauern konnte, bis Smith verblutete. Das wusste jeder Selbstmörder. Smith versuchte noch einmal, den Arm zu sich zu reißen, aber seine Kräfte ließen nach. Aus den Augenwinkeln sah Harry, wie blass Smith war. Wenn er kein Blut sehen konnte, wurde er vielleicht ohnmächtig? Harry presste die Kiefer, so fest er konnte, zusammen.
»Ich sehe, dass ich blute, Harry.« Smiths Stimme klang dünn, aber ruhig. »Wusstest du, dass Peter Kürten, der Vampir von Düsseldorf, vor seiner Enthauptung Dr. Karl Berg eine Frage gestellt hatte? Er wollte wissen, ob Berg glaube, dass er, Kürten, noch hören würde, wie das Blut aus seinem Hals spritze, bevor er das Bewusstsein verliere. Für Kürten wäre das der ultimative Genuss gewesen. Ich fürchte nur, dass das hier noch nicht genug für mich ist, Harry, für mich fängt der Genuss hier erst an.«
Mit einer schnellen Bewegung der linken Hand löste Smith seinen Gurt, beugte sich über Harry, legte den Kopf auf dessen Knie und suchte mit der linken Hand den Boden ab, jedoch ohne den Revolver zu ertasten. Er beugte sich noch tiefer und drehte Harry das Gesicht zu, um mit der Hand weiter unter den Sitz zu kommen. Harry sah, wie sich ein Lächeln auf Smiths Lippen ausbreitete. Er hatte den Revolver gefunden. Harry hob ein Bein an und trat mit aller Wucht nach unten. Spürte den Stahl und Smiths Hand unter der dünnen Sohle der Lederschuhe.
Smith stöhnte. »Weg mit dem Fuß, Harry. Sonst nehme ich das Messer. Hörst du? Weg mit dem …«
Harry öffnete den Mund und spannte die Bauchmuskeln an. »Iie u illst.« Mit einem Ruck riss er die Beine samt Smiths Kopf nach oben, wobei ihm der straff sitzende Gurt half.
Smith spürte, dass Harrys Schuhe sich vom Revolver lösten, gleichzeitig wurde er von den Beinen aber nach oben gerissen, so dass seine Finger die Waffe nicht festhalten konnten. Er musste nachfassen, den Arm ganz ausstrecken, und tatsächlich schaffte er es, mit zwei Fingern den Schaft der Waffe zu erreichen, als Harry seinen rechten Arm losließ. Er musste die Waffe jetzt nur noch anheben und auf Harry richten. Dann erkannte Smith mit einem Mal, was geschehen würde. Er sah, wie Harrys Mund sich erneut öffnete, sah das Metall aufblitzen, sah, wie er sich zu ihm hinunterbeugte, und spürte seinen warmen Atem auf der Haut seiner Kehle. Es fühlte sich an, als würden sich Eiszapfen durch seine Haut bohren. Sein Schrei verstummte abrupt, als Harrys Kiefer sich um seinen Kehlkopf schlossen. Dann knallte Harrys Fuß wieder nach unten und stemmte sich auf die Hand und den Revolver.
Smith versuchte, mit der rechten Hand auf Harry einzuschlagen, aber er konnte nicht weit genug ausholen, um ausreichend Kraft in den Schlag zu legen. Und er bekam keine Luft. Harry hatte die Halsschlagader nicht durchgebissen, sonst würde Blut spritzen, aber er drückte die Luftröhre zusammen, so dass Smith bereits spürte, wie der Druck in seinem Kopf zunahm. Trotzdem wollte er den Revolver nicht loslassen. Schon als Junge hatte er nie aufgeben können. Affe. Affe. Aber er brauchte Luft, sonst würde ihm der Kopf zerspringen.
Hallstein Smith ließ den Revolver los, den konnte er sich auch später noch sichern. Er hob die linke Hand und schlug seitlich auf Harrys Kopf ein. Dann hämmerte er die rechte auf Harrys Ohr. Wieder und wieder, bis er spürte, wie sein Ehering Harrys Augenbraue aufplatzen ließ. Seine Wut stieg ins Unermessliche, als er das Blut des anderen sah. Wie Benzin ein Feuer anfacht, mobilisierte das Blut bei ihm neue Kräfte. Er hämmerte los. Schlug auf Harry ein. Verteilte Prügel.
»Und was soll ich jetzt tun?«, fragte Mikael Bellman und starrte über den Fjord.
»Ich kann echt nicht glauben, was du getan hast«, sagte Isabelle Skøyen, die hinter ihm auf und ab lief.
»Das ist alles so schnell gegangen«, sagte Mikael und fokussierte sein Spiegelbild in der Fensterscheibe. »Ich konnte nicht denken.«
»Doch, du hast gedacht«, sagte Isabelle. »Nur nicht lange genug. Du hast gedacht, dass er dich erschießt, wenn du einzugreifen versuchst, aber nicht, dass die versammelte Presse dich auch erschießt, wenn du nicht eingreifst.«
»Ich war unbewaffnet, und er hatte einen Revolver. Niemand wäre auf die Idee gekommen, da einzugreifen, hätte nicht Truls, dieser Idiot, versucht, den Helden zu spielen.« Bellman schüttelte den Kopf. »Aber der arme Kerl war ja immer schon bis über beide Ohren in Ulla verliebt.«
Isabelle stöhnte. »Hätte Truls deinen Ruf zerstören wollen, er hätte nicht gerissener vorgehen können. Das Erste, was den Menschen jetzt durch den Kopf geht, ist Feigheit. Ob das gerechtfertigt ist oder nicht.«
»Hör auf!«, fauchte Mikael. »Nicht nur ich habe nicht eingegriffen, da waren noch andere Polizisten im Raum, die …«
»Sie ist deine Frau, Mikael. Du hast neben ihr in der ersten Reihe gesessen, und auch wenn es deine letzten Tage im Amt sind, bist du der amtierende Polizeipräsident. Du musst der sein, der sie anführt. Und jetzt willst du Justizminister werden …«
»Du meinst also, ich hätte mich erschießen lassen sollen? Du hast schon mitbekommen, dass er wirklich geschossen hat? Truls hat Ulla dadurch auch nicht gerettet! Zeigt das nicht, dass ich als Polizeipräsident die Lage richtig eingeschätzt habe, während Kommissar Berntsen auf eigene Initiative einen schwerwiegenden Fehler begangen hat? Ja, dass er Ullas Leben sogar in Gefahr gebracht hat?«
»Natürlich müssen wir versuchen, die Sache so darzustellen. Ich sage ja nur, dass das schwierig wird.«
»Und was ist daran so verdammt schwierig?«
»Harry Hole. Dass er sich als Geisel zur Verfügung gestellt hat und nicht du.«
Mikael breitete die Arme aus. »Isabelle, es war Harry Hole, der die ganze Sache heraufbeschworen hat, als er Smith als Mörder entlarvt hat. Er hat Smith doch förmlich dazu gezwungen, zu der Waffe zu greifen, die vor ihm lag. Indem er sich als Geisel gemeldet hat, hat Hole nur die Verantwortung für das übernommen, was er angerichtet hat.«
»Ja schon, aber unsere Gefühle sind schneller als unsere Gedanken. Wir sehen einen Mann, der nichts tut, um seine Frau zu retten, und empfinden Verachtung. Die nüchterne, objektive Reflexion kommt erst später, und trotz der neuen Informationen suchen wir nach Argumenten für das, was wir spontan gefühlt haben. Das ist zwar die unreflektierte Verachtung der Dummen, Mikael, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass die meisten Leute genau das empfinden.«
»Und warum?«
Sie antwortete nicht.
Er drehte sich zu ihr um. Suchte ihren Blick.
»Aha«, sagte er. »Weil du dasselbe empfindest?«
Mikael sah, wie die Flügel von Isabelle Skøyens beeindruckender Nase sich weiteten, als sie tief Luft holte. »Du stehst für so vieles«, sagte sie. »Hast so viele Eigenschaften, dank derer du da bist, wo du jetzt bist.«
»Und?«
»Eine davon ist sicher deine Fähigkeit, in Deckung zu gehen und andere für dich kämpfen zu lassen, wenn Feigheit sich lohnt. Der Punkt ist nur, dass du dieses Mal vergessen hast, dass du Publikum hattest. Und nicht irgendein Publikum, sondern das denkbar ungünstigste.«
Mikael Bellman nickte. Journalisten aus dem In- und Ausland. Isabelle und er hatten wirklich ein schweres Stück Arbeit vor sich. Er nahm das große ostdeutsche Fernglas, das auf ihrer Fensterbank stand. Bestimmt das Geschenk eines männlichen Bewunderers. Richtete es auf den Fjord. Irgendwas dort draußen hatte seine Aufmerksamkeit geweckt.
»Was glaubst du, welcher Ausgang wäre strategisch der beste für uns?«, fragte er.
»Wie bitte?«, fragte Isabelle in der vornehmen Art des Osloer Westens, die sie sich angeeignet hatte, ohne dass das bei ihr aufgesetzt wirkte, obwohl sie auf dem Land groß geworden war. Mikael hatte ohne Erfolg dasselbe versucht. Die Spuren, die seine Kindheit und Jugend im Osten der Stadt hinterlassen hatten, waren zu tief.
»Dass Truls stirbt oder überlebt?« Das Fernglas fing etwas ein. Er stellte es scharf.
Es verging eine Sekunde, bis er ihr Lachen hörte.
»Und da haben wir deine andere Fähigkeit«, sagte sie. »Du kannst alle Gefühle ausblenden, wenn die Situation das erfordert. Du wirst Schaden nehmen, aber überleben.«
»Tot, oder? Dann müsste doch für alle klar sein, dass er die falsche und ich die richtige Entscheidung getroffen habe. Außerdem kann er dann nicht interviewt werden, so dass die Sache auch keine lange Laufzeit haben wird.«
Er spürte ihre Hand an seiner Gürtelschnalle, während ihre Stimme ihm ins Ohr flüsterte: »Wünschst du dir wirklich, mit der nächsten SMS zu erfahren, dass dein bester Freund tot ist?«
Es war ein Hund. Weit draußen auf dem Fjord. Wo in aller Welt wollte der denn hin?
Wie aus dem Nichts kam ein nächster, wirklich neuer Gedanke. Eine Frage, die der Polizeipräsident und designierte Justizminister Mikael Bellman sich in seinem vierzigjährigen Leben noch nie gestellt hatte.
Wo in aller Welt wollten wir denn hin?
Harry hatte ein hochfrequentes Piepen im Ohr, und eines seiner Augen war von seinem eigenen Blut verklebt. Die Schläge wollten einfach nicht aufhören. Er spürte keine Schmerzen mehr, nur dass es im Auto immer dunkler und kälter wurde.
Trotzdem ließ er nicht los. Er hatte schon so oft losgelassen, dem Schmerz nachgegeben, der Angst oder seiner Sehnsucht nach dem Tod. Aber auch dem primitiven, egoistischen Überlebensinstinkt, der das Verlangen nach dem schmerzfreien Nichts, dem ewigen Schlaf und der Dunkelheit ein ums andere Mal überwunden hatte. Und dem er zu verdanken hatte, dass er noch immer hier war. Noch immer. Er würde nicht loslassen.
Die Kiefermuskulatur schmerzte so sehr, dass er am ganzen Körper zitterte. Und die Schläge hagelten weiter auf ihn ein. Aber er ließ nicht locker. Siebzig Kilo Druck. Gelänge es ihm, den ganzen Hals zusammenzudrücken und die Blutzufuhr zum Hirn zu beeinträchtigen, würde Smith schnell ohnmächtig werden. Wenn er ihm nur die Luft abdrückte, konnte es noch mehrere Minuten dauern. Als ihn der nächste Schlag an der Schläfe traf, spürte Harry, dass auch er im Begriff war, das Bewusstsein zu verlieren. Nein! Er ruckte auf dem Sitz herum. Biss fester zu. Durchhalten, durchhalten. Löwe. Wasserbüffel. Harry zählte und atmete schnaufend durch die Nase. Hundert. Die Schläge hörten nicht auf, aber wurden die Abstände zwischen den einzelnen Schlägen nicht größer und hatte den letzten nicht etwas Kraft gefehlt? Smiths Finger legten sich auf Harrys Gesicht und versuchten, ihn wegzudrücken. Dann gab er es auf. Ließ von ihm ab. War Smiths Hirn endlich so sauerstoffleer, dass es ihm die Arbeit verweigerte? Harry spürte die Erleichterung und würgte noch einmal Smiths Blut herunter. Im gleichen Moment meldete sich ein Gedanke. Glasklar. Valentins Prophezeiung. Hast darauf gewartet, dass du auch einmal der Vampir sein darfst … Und eines Tages wirst auch du einen Schluck nehmen. Vielleicht war es der Gedanke, der dazu führte, dass einen Moment seine Konzentration nachließ, denn im selben Augenblick spürte Harry, wie der Revolver unter seiner Schuhsohle sich bewegte. Er hatte den Druck seines Fußes gelockert, und Smith hatte zu schlagen aufgehört, um doch noch die Waffe zu ergreifen. Mit Erfolg.
Katrine blieb in der Tür des Saals stehen.
Bis auf die zwei Frauen, die Arm in Arm in der ersten Reihe saßen, war der Raum jetzt leer.
Sie musterte die beiden. Ein ungleiches Paar. Rakel und Ulla. Die Ehepartner von zwei Todfeinden. War es wirklich so, dass Frauen leichter Trost bei anderen fanden als Männer? Katrine wusste es nicht. Diese Art von Schwesternschaft hatte sie nie interessiert.
Sie ging zu ihnen. Ulla Bellmans Schultern zitterten leicht, aber sie weinte nur noch leise.
Rakel sah mit fragendem Blick zu Katrine.
»Wir haben nichts gehört«, sagte Katrine.
»Okay«, erwiderte Rakel. »Er wird schon klarkommen.«
Katrine dachte, dass das eigentlich ihre Antwort war, nicht Rakels. Rakel Fauke. Die dunkle, starke Frau mit den sanften braunen Augen. Katrine hatte immer Eifersucht empfunden. Nicht weil sie sich das Leben der anderen wünschte oder Harrys Frau sein wollte. Harry konnte eine Frau vielleicht befriedigen oder für eine Weile glücklich machen, aber auf lange Sicht brachte er nur Trauer, Verzweiflung und Zerstörung. Auf lange Sicht brauchte man jemanden wie Bjørn Holm. Und trotzdem beneidete sie Rakel Fauke. Weil Harry Hole nur sie wollte.
»Entschuldigung.« Ståle Aune hatte den Saal betreten. »Man hat mir einen Raum zur Verfügung gestellt, in den wir gehen können.«
Ulla Bellman nickte schniefend, stand auf und ging mit Aune nach draußen.
»Krisenpsychologie?«, fragte Katrine.
»Ja«, sagte Rakel. »Und das Seltsame ist, dass das wirklich funktioniert.«
»Tut es?«
»Ja, ich weiß das. Wie geht es dir?«
»Mir?«
»Ja. All diese Verantwortung. Und dann noch die Schwangerschaft. Und du stehst Harry doch auch nah.«
Katrine strich sich mit der Hand über den Bauch. Ein seltsamer Gedanke kam ihr, auf jeden Fall ein Gedanke, den sie noch nie gehabt hatte. Wie nah beides beieinander war. Die Geburt und der Tod. Als wäre das eine ein Teil des anderen, als bräuchte man bei der unerbittlichen Reise nach Jerusalem einen Toten, um Platz für einen neuen Menschen zu haben.
»Wisst ihr schon, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird?«
Katrine schüttelte den Kopf.
»Name?«
»Bjørn hat Hank vorgeschlagen«, sagte Katrine. »Nach Hank Williams.«
»Klar. Dann glaubt er, dass es ein Junge wird?«
»Unabhängig vom Geschlecht.«
Sie lachten. Und dieses Lachen kam ihnen beiden nicht im Ansatz absurd vor. Sie lachten und plauderten über das nah bevorstehende Leben, statt über den nah bevorstehenden Tod. Weil das Leben magisch und der Tod trivial ist.
»Ich muss gehen, aber ich sage dir Bescheid, sobald wir etwas wissen«, sagte Katrine.
Rakel nickte. »Ich bleibe hier. Sag, wenn ich helfen kann.«
Katrine stand auf. Zögerte, schien dann aber einen Entschluss zu fassen und streichelte sich noch einmal mit der Hand über den Bauch. »Ich denke manchmal daran, dass ich dieses Kind auch verlieren könnte.«
»Das ist natürlich.«
»Und dann frage ich mich, was von mir dann noch bliebe. Und ob ich weitermachen könnte.«
»Das könntest du«, sagte Rakel mit Nachdruck.
»Du musst mir versprechen, dass du das auch kannst«, sagte Katrine. »Du sagst, dass Harry schon klarkommt, und Hoffnung ist wichtig. Ich sollte dir aber auch sagen, dass Delta … dass sie ein Profil vom Geiselnehmer erstellt haben, also von Hallstein Smith, und dass er wahrscheinlich … also, dass es zu ihm passen würde, wenn er …«
»Danke«, sagte Rakel und nahm Katrines Hand. »Ich liebe Harry, und sollte ich ihn jetzt wirklich verlieren, verspreche ich dir, dass ich weitermache.«
»Und Oleg, wie wird er …?«
Katrine sah den Schmerz in Rakels Augen und bereute die Frage sofort. Sie sah, dass Rakel etwas zu sagen versuchte, es aber nicht schaffte und stattdessen nur mit den Schultern zuckte.
Als sie nach draußen auf den Platz trat, hörte sie ein Knattern und sah nach oben. Das Sonnenlicht reflektierte auf dem Helikopter, der am Himmel stand.
John D. Steffens öffnete die Tür der Notaufnahme, sog die kalte Winterluft ein und ging zu dem älteren Rettungssanitäter, der allein mit geschlossenen Augen an der Wand lehnte und sich von der Sonne das Gesicht wärmen ließ. Langsam und genussvoll rauchte er.
»Nun, Hansen?«, sagte Steffens und lehnte sich neben ihm an die Wand.
»Guter Winter«, sagte der Sanitäter, ohne die Augen zu öffnen.
»Könnte ich …?«
Der Sanitäter kramte nach der Schachtel und bot ihm eine Zigarette an.
Steffens nahm sie an und fischte auch das Feuerzeug aus der Packung.
»Wird er überleben?«
»Das werden wir sehen«, sagte Steffens. »Wir haben wieder ein bisschen Blut in seinen Körper pumpen können, aber die Kugel steckt weiterhin in ihm.«
»Was glauben Sie, wie viele Leben müssen Sie retten, Steffens?«
»Was?«
»Sie hatten Nachtschicht und sind noch immer hier. Wie gewöhnlich. Also, wie viele haben Sie sich vorgenommen zu retten, um das wiedergutzumachen?«
»Ich weiß wirklich nicht, wovon Sie reden, Hansen.«
»Von Ihrer Frau. Die Sie nicht retten konnten.«
Steffens antwortete nicht, sondern inhalierte tief.
»Ich habe mich umgehört«, sagte der Sanitäter.
»Warum?«
»Weil ich mir Sorgen um Sie gemacht habe. Und weil ich weiß, wie das ist. Auch ich habe meine Frau verloren. Aber all die Überstunden, all die geretteten Leben bringen Ihnen Ihre Frau nicht zurück, das wissen Sie, oder? Und eines Tages werden Sie einen Fehler machen, weil Sie zu müde sind. Und dann haben Sie noch ein Leben auf dem Gewissen.«
»Werde ich das?«, fragte Steffens und gähnte. »Kennen Sie einen Hämatologen, der besser in Notfallmedizin ist als ich?«
»Wie lange ist es her, dass Sie zuletzt die Sonne gesehen haben?« Der Sanitäter drückte die Zigarette an der Wand aus und steckte die Kippe in die Tasche. »Bleiben Sie hier stehen, rauchen Sie zu Ende, genießen Sie den Tag. Und dann gehen Sie nach Hause und schlafen.«
Steffens schloss die Augen und hörte, wie die Schritte des Sanitäters sich entfernten.
Schlafen.
Er wünschte sich, dass er das könnte.
Es war 2152 Tage her. Nicht, dass Ina, seine Frau und Anders’ Mutter, gestorben war – das lag 2912 Tage zurück. 2152 Tage, seit er Anders das letzte Mal gesehen hatte. In der ersten Zeit nach Inas Tod hatten sie wenigstens noch sporadisch miteinander geredet, auch wenn Anders wütend gewesen war und ihm die Schuld gegeben hatte, dass man sie nicht hatte retten können. Berechtigt. Anders war ausgezogen, war geflohen und hatte dafür gesorgt, einen möglichst großen Abstand zwischen sich und seinen Vater zu bringen. Auch indem er seinen ursprünglichen Plan, Medizin zu studieren, fallengelassen hatte und stattdessen auf die Polizeihochschule gegangen war. In einem dieser sporadischen, lautstarken Streitgespräche hatte Anders gesagt, dass er lieber wie einer seiner Dozenten wurde. Er meinte damit den früheren Hauptkommissar Harry Hole, den Anders allem Anschein nach vergötterte, wie er einmal seinen Vater vergöttert hatte. Steffens hatte Anders an all seinen verschiedenen Adressen besucht, auf der Polizeihochschule und weit im Norden, wo er seinen ersten Job gehabt hatte, war aber immer wieder abgewiesen worden. Er hatte seinen Sohn in dieser Zeit richtiggehend gestalkt, damit er endlich verstand. Und weil sie beide ein bisschen weniger verlören, wenn sie nicht auch noch sich verlören. Gemeinsam könnten sie sie wenigstens ein klein wenig am Leben erhalten. Aber Anders hatte nichts davon hören wollen.
Als Rakel Fauke zu ihm in die Sprechstunde kam und ihm klarwurde, dass sie die Frau von Harry Hole war, war er natürlich neugierig geworden. Was hatte dieser Harry Hole, das Anders so anzog? Konnte er von diesem Mann etwas lernen, das ihm half, sich Anders wieder anzunähern? Aber dann hatte er bemerkt, dass Holes Stiefsohn, Oleg, genau wie Anders reagierte, als er bemerkte, dass Harry Hole seine Mutter nicht retten konnte. Es war immer dieselbe Interpretation väterlichen Versagens.
Schlafen.
Es war ein Schock gewesen, Anders heute zu sehen. Sein erster, dummer Gedanke war, dass sie beide getäuscht worden waren und Oleg und Harry eine Art Versöhnungstreffen arrangiert hatten.
Endlich schlafen.
Es wurde dunkler, und die Haut auf seinem Gesicht wurde kalt. Eine Wolke. John D. Steffens öffnete die Augen. Jemand stand vor ihm, eingerahmt von einem Glorienschein aus Sonnenstrahlen.
»Wann hast du wieder angefangen?«, fragte die Silhouette. »Ich dachte, du wärst Arzt.«
John D. Steffens blinzelte. Das Licht stach ihm in die Augen. Er musste sich räuspern, damit ihm nicht die Stimme versagte. »Anders?«
»Berntsen wird überleben.« Pause. »Dank dir, sagen sie.«
Clas Hafslund saß in seinem Wintergarten und sah über den Fjord. Das Wasser, das sich in einer dünnen, glatten Schicht auf das Eis gelegt hatte, ließ die ganze Fläche wie einen gigantischen Spiegel aussehen. Er hatte die Zeitung beiseitegelegt, in der wieder einmal seitenweise über diesen Vampiristen berichtet wurde. Dass sie dieses Thema nicht leid wurden. Hier draußen auf Nesøya gab es solche Monster glücklicherweise nicht. Hier war es das ganze Jahr hindurch ruhig und friedlich. Sah man einmal von dem nervenaufreibenden Knattern des Helikopters ab, den er seit ein paar Augenblicken hörte. Bestimmt ein Unfall auf der E18. Clas Hafslund zuckte zusammen, als es plötzlich knallte und die Schallwellen über den Fjord getragen wurden.
Ein Schuss.
Es hörte sich an, als wäre er von einem der Nachbargrundstücke gekommen. Hagen oder Reinertsen. Die beiden Kaufleute stritten seit Jahren darüber, ob ihre Grundstücksgrenze rechts oder links an einer alten Eiche entlangführte. Reinertsen hatte in einem Interview in der Lokalzeitung gesagt, dass diesem Nachbarschaftsstreit durchaus etwas Absurdes anhaftete, da es ja nur um wenige Quadratmeter zweier riesiger Grundstücke gehe. Andererseits gehe es um das Prinzip des Eigentumsrechts und damit um eine ernste Sache. Er sei sich sicher, dass die Grundbesitzer auf Nesøya ihm recht geben würden, dass jeder verantwortungsvolle Bürger um dieses Recht kämpfen müsse. Außerdem gebe es keinen Zweifel, dass dieser Baum zum Reinertsen-Anwesen gehöre, er sei sogar auf dem Wappen der Familie, von der er das Gut gekauft hatte. Eindeutig seine Eiche. Reinertsen hatte sich des Weiteren darüber ausgelassen, wie sehr ihm der Anblick des mächtigen Baumes und die Gewissheit, dass dieses Schmuckstück ihm gehöre, das Herz wärmten (der Journalist hatte in diesem Zusammenhang angedeutet, dass Reinertsen auf dem Dach sitzen müsse, um den Baum sehen zu können). Am Tag nachdem das Interview abgedruckt worden war, hatte Hagen den Baum gefällt, mit dem Holz seinen Kamin angeheizt und der Zeitung gesagt, dass dieser Baum ihm jetzt nicht nur das Herz, sondern auch die Zehen wärmte. Und dass Reinertsen sich von nun an damit begnügen müsse, den Anblick des Rauches zu genießen, der aus dem Schornstein des Nachbarhauses käme. In den nächsten Jahren würde er ausschließlich dieses Holz in seinem Kamin verbrennen. Trotz dieser Provokation konnte Clas Hafslund aber nicht glauben, dass Reinertsen Hagen nur wegen dieses Baumes erschossen hatte.
Hafslund sah eine Bewegung unten an dem alten Bootshaus, das rund hundertfünfzig Meter von seinem und dem Anwesen seines Nachbarns entfernt lag. Ein Mann, er trug einen Anzug, stakste auf das Eis hinaus und zog ein Aluminiumboot hinter sich her. Clas kniff die Augen zusammen. Der Mann taumelte und ging auf dem Eis in die Knie. Dann drehte er sich zu Clas Hafslunds Haus um, als hätte er bemerkt, dass ihn jemand beobachtete. Das Gesicht des Mannes war schwarz. Ein Flüchtling? Waren die jetzt schon auf Nesøya? Alarmiert griff er zum Fernglas, das auf dem Regal hinter ihm stand, und richtete es auf den Mann. Nein. Er war nicht schwarz. Das Gesicht des Mannes war voller Blut. Zwei weiße Augen starrten aus all dem Rot hervor. Jetzt legte er beide Hände auf die Reling und drückte sich wieder hoch, ehe er taumelnd ein Seil ergriff und das Boot mit beiden Händen hinter sich herzog. Clas Hafslund war nicht religiös, trotzdem glaubte er Jesus zu sehen, der über das Wasser ging. Jesus, der sein Kreuz in Richtung Golgatha schleppte. Jesus, der von den Toten auferstanden war, um Clas Hafslund und ganz Nesøya heimzusuchen. Jesus mit einem großen Revolver in der einen Hand.
Sivert Falkeid saß vorn im Rib-Boot, den Wind im Gesicht. Er hatte das Fernglas auf Nesøya gerichtet. Dann sah er ein letztes Mal auf die Uhr. Es war exakt dreizehn Minuten her, dass sein Team den Hinweis bekommen und diesen sogleich mit der Geiselnahme in Verbindung gebracht hatte.
»Von Nesøya werden Schüsse gemeldet.«
Ihre Reaktionszeit war akzeptabel. Sie würden dort sein, noch ehe die ersten Einsatzfahrzeuge, die auch in Richtung Nesøya geschickt worden waren, ankamen. Aber jede Kugel war schneller, das war klar.
Er sah das Aluminiumboot und den Schatten im Wasser, dort wo die Eisfläche begann.
»Jetzt«, brüllte er und trat nach hinten zu den anderen, so dass der Bug hochging und sie mit vollem Tempo in Richtung Eisrand rasten. Der Polizist, der das Boot steuerte, kippte den Motor aus dem Wasser. Gleich darauf ging ein Ruck durch das Boot, und Falkeid hörte, wie sie weiterhin bei hoher Geschwindigkeit nun mit einem kratzenden Geräusch über das Eis glitten. Falkeid hoffte, dass das Eis sie weit genug trug.
Als das Boot stillstand, stieg Sivert Falkeid über die Reling und setzte vorsichtig einen Fuß auf das Eis. Das Wasser reichte ihm bis zum Knöchel.
»Gebt mir zwanzig Meter, dann folgt ihr mir«, sagte er. »Zehn Meter zwischen jedem Mann.«
Falkeid watete in Richtung Aluminiumboot. Er schätzte den Abstand auf dreihundert Meter. Das kleine Boot sah verlassen aus, aber der Bericht besagte, dass der Mann, der den Schuss abgefeuert hatte, das Boot aus Hallstein Smiths Bootshaus gezogen hatte.
»Das Eis trägt«, flüsterte er ins Funkgerät.
Jeder Polizist des Kommandos hatte einen Pickel dabei, der mit einem Seil an seiner Uniform befestigt war, so dass die Männer sich, sollten sie einbrechen, aus eigener Kraft zurück aufs Eis ziehen konnten. Das Seil des Pickels hatte sich um den Lauf von Falkeids Maschinenpistole gewickelt, so dass er den Blick senken musste, um die Waffe zu befreien.
Im gleichen Moment knallte ein Schuss. Sivert hatte keine Ahnung, woher er kam, und warf sich automatisch ins Wasser.
Es knallte noch einmal. Und dieses Mal sah er eine kleine Rauchwolke aus dem Boot aufsteigen.
»Schüsse aus dem Boot«, hörte er im Ohrhörer. »Wir haben es alle im Korn. Erwarten Befehle, ob wir es in die Hölle schicken sollen.«
Sie waren darüber informiert worden, dass Smith mit einem Revolver bewaffnet war, das Risiko, dass er Falkeid über eine Distanz von zweihundert Metern traf, war demnach sehr gering. Trotzdem war das wieder eine dieser Situationen. Sivert Falkeid holte tief Luft und spürte das lähmend kalte Wasser durch seine Kleidung bis auf die Haut dringen. Seine Aufgabe war es nicht, zu überlegen, was es den Staat kosten würde, das Leben dieses Serienmörders zu retten. Gerichtsverfahren, Bewachung und Aufenthalt im Fünf-Sterne-Gefängnis kosteten Geld. Seine Aufgabe war es, die Bedrohung einzuschätzen, die von diesem Mann für seine Männer oder für andere ausging, und entsprechend zu reagieren. Er durfte jetzt nicht an Kindergartenplätze, Krankenbetten oder die Renovierung heruntergekommener Schulen denken.
»Feuer frei«, sagte Sivert Falkeid.
Keine Antwort.
Keine Antwort. Nur der Wind und das Knattern des Helikopters in der Ferne.
»Schießt«, wiederholte er.
Noch immer keine Bestätigung. Der Helikopter näherte sich.
»Hörst du mich?«, kam es durch den Ohrhörer. »Bist du verletzt?«
Falkeid wollte den Befehl wiederholen, als ihm klarwurde, dass wieder das passiert war, was schon bei der Übung in Haakonsvern passiert war. Das Salzwasser hatte das Mikrofon zerstört, nur der Empfänger funktionierte noch. Er drehte sich zu dem Boot um und rief, aber seine Stimme wurde von dem Helikopter übertönt, der jetzt unmittelbar über ihnen in der Luft stand. Dann gab er das interne Handsignal, damit das Feuer eröffnet wurde, zwei Schläge mit der geballten rechten Faust. Noch immer keine Reaktion. Was war da los? Falkeid lief zurück zum Gummiboot, als er sah, dass zwei der Männer, ohne sich zu ducken, auf das Eis traten.
»Runter!«, schrie er, aber sie kamen ruhig auf ihn zu.
»Wir haben Kontakt mit dem Helikopter!«, rief einer der beiden durch den Lärm. »Sie sehen ihn, er liegt im Boot.«
Er lag mit geschlossenen Augen am Boden des Bootes und ließ die Sonne auf sich scheinen. Er hörte nichts, stellte sich aber vor, dass das Wasser glucksend von unten gegen das Boot platschte. Dass es Sommer war und die ganze Familie im Boot saß. Ein Familienausflug. Kinderlachen. Wenn er die Augen lange genug geschlossen hielt, konnte er dort vielleicht bleiben.
Er wusste nicht, ob das Boot trieb oder sein Gewicht es auf dem Eis festhielt. Aber das spielte keine Rolle. Er wollte nirgendwohin. Die Zeit stand still. Vielleicht hatte sie das immer getan, vielleicht war sie gerade eben erst stehengeblieben. Für ihn und für den, der noch im Amazon saß. War es auch für ihn Sommer geworden? War auch er jetzt an einem besseren Ort?
Etwas schirmte die Sonne ab. Eine Wolke? Ein Gesicht? Ja, ein Gesicht. Das Gesicht einer Frau. Wie eine im Dunkeln liegende Erinnerung, die plötzlich wiederkam. Sie saß auf ihm und ritt ihn. Flüsterte, dass sie ihn liebe, dass sie das immer getan habe, und dass sie darauf gewartet habe. Ob er wie sie spüre, dass die Zeit jetzt stillstehe. Er nahm die Vibration des Bootes wahr, hörte ihr lauter werdendes Stöhnen, bis es wie ein langgezogener Schrei klang, als hätte er ein Messer in sie gerammt. Er ließ die Luft aus seinen Lungen und kam. In diesem Moment starb sie auf ihm. Ihr Kopf knallte auf seine Brust, während der Wind an den Fenstern über dem Bett rüttelte. Und bevor die Zeit wieder zu laufen begann, schliefen sie beide ein, bewusstlos, erinnerungslos, gewissenlos.
Er öffnete die Augen.
Es sah aus wie ein großer, rüttelnder Vogel.
Ein Helikopter. Zehn bis zwanzig Meter über ihm, trotzdem hörte er nichts, wusste jetzt aber, was das Boot so vibrieren ließ.
Katrine stand frierend vor dem Bootshaus, während die anderen zum Amazon gingen.
Sie sah, wie sie rechts und links die Türen öffneten und ein Arm in einem Anzugärmel nach draußen kippte. Auf der falschen Seite. Auf Harrys Seite. Die nackte Hand war blutig. Der Beamte steckte den Kopf in den Wagen, vermutlich um zu überprüfen, ob noch ein Puls zu fühlen war. Es dauerte, irgendwann konnte Katrine sich nicht mehr beherrschen und hörte ihre eigene zitternde Stimme: »Lebt er?«
»Vielleicht«, rief der Beamte, um den Lärm des Helikopters draußen über den Fjord zu übertönen. »Ich spüre keinen Puls, es ist aber möglich, dass er atmet. Aber wenn er lebt, hat er nicht mehr lang, glaube ich.«
Katrine trat ein paar Schritte näher. »Der Rettungswagen ist unterwegs. Gibt es eine Schusswunde?«
»Kann ich nicht sehen, da ist zu viel Blut.«
Katrine ging ins Bootshaus. Sie starrte auf die Hand, die aus der Tür hing und aussah, als suchte sie nach etwas, woran sie sich festhalten konnte. Nach jemandem. Sie fuhr sich über den Bauch. Es gab etwas, das sie ihm hätte sagen müssen.
»Ich glaube, du irrst dich«, sagte der andere Beamte. »Der ist schon tot. Guck dir doch mal seine Pupillen an.«
Katrine schloss die Augen.
Er starrte in die Gesichter, die auf beiden Seiten des Bootes über ihm aufgetaucht waren. Einer von ihnen hatte die schwarze Maske abgesetzt, sein Mund öffnete sich und formte Worte. So angespannt, wie sein Hals aussah, schrie er.
Vielleicht wollte er, dass er den Revolver losließ. Vielleicht schrie er seinen Namen. Vielleicht forderte er Rache.
Katrine trat auf Harrys Seite des Wagens und ging bis zur Tür. Atmete tief durch und sah hinein.
Mit starrem Blick. Spürte, dass der Schock sie noch härter traf, als sie es erwartet hatte. Im Hintergrund war jetzt die Sirene des Rettungswagens zu hören, aber sie hatte mehr Tote gesehen als die anderen Beamten und wusste schon nach einem kurzen Blick, dass dieser Körper für immer unbewohnt war. Sie kannte ihn und wusste, dass das nur die Hülle war, die er hinterlassen hatte.
Sie schluckte. »Er ist tot. Nicht anfassen.«
»Aber wir sollten doch wenigstens einen Wiederbelebungsversuch machen. Vielleicht …«
»Nein«, sagte sie mit Nachdruck. »Nicht.«
Sie stand da, spürte, wie der Schockzustand langsam wich und der Überraschung Platz machte. Überraschung darüber, dass Hallstein Smith selbst gefahren war und nicht der Geisel das Steuer überlassen hatte. Und dass das, was sie für Harrys Platz gehalten hatte, nicht Harrys Platz war.
Harry lag am Boden des Bootes und sah nach oben. Die Gesichter der Männer, der Helikopter, der die Sonne abschirmte, der blaue Himmel. Er hatte es geschafft, den Fuß wieder nach unten zu drücken, bevor Hallstein den Revolver richtig zu fassen bekommen hatte. In diesem Moment schien Hallstein Smith aufgegeben zu haben. Vielleicht bildete Harry sich das ein, aber er hatte geglaubt, durch die Zähne in seinem Mund gespürt zu haben, wie der Puls des anderen schwächer und schwächer geworden und dann, irgendwann, nicht mehr zu spüren gewesen war. Harry hatte zweimal das Bewusstsein verloren, bis er die Hände mit den Handschellen nach vorne bekommen, den Gurt gelöst und die Schlüssel der Handschellen aus seiner Jackentasche gefischt hatte. Der Zündschlüssel des Amazon war abgebrochen, und er wusste, dass er nicht die Kraft hatte, über den steilen, eisigen Weg nach oben zur Hauptstraße zu gehen oder über die hohen Zäune auf eines der Nachbargrundstücke rechts und links des Weges zu klettern. Er hatte um Hilfe gerufen, aber es war so, als hätte Smith ihm die Stimme aus dem Leib geprügelt. Seine leisen Rufe waren vom Knattern eines Helikopters irgendwo in der Nähe übertönt worden. Vermutlich der Polizeihelikopter. Deshalb hatte er den Revolver genommen, war vor das Bootshaus getreten, hatte in die Luft geschossen und gehofft, dass der Helikopter irgendwie informiert wurde. Um aus der Luft entdeckt zu werden, hatte er Smiths Boot aus dem Bootshaus aufs Eis gezogen, sich hineingelegt und weitere Schüsse abgefeuert.
Er ließ den Schaft der Ruger los. Sie hatte ihren Job getan. Es war vorbei. Er konnte jetzt wieder zurück. Zurück in den Sommer. Als er zwölf Jahre alt war und in einem Boot lag, den Kopf auf dem Schoß seiner Mutter und gemeinsam mit Søs einer Geschichte seines Vaters lauschte. Irgendeine über einen eifersüchtigen General während des Krieges zwischen den Venezianern und den Türken, und Harry wusste genau, dass er sie später, wenn sie ins Bett gingen, seiner Schwester erklären musste. Worauf er sich eigentlich ein bisschen freute, denn wie lange es auch dauern würde, sie würden nicht eher aufgeben, bis sie den Zusammenhang verstanden hatte. Und Harry liebte Zusammenhänge. Auch wenn er ganz tief in seinem Inneren wusste, dass es keinen gab.
Er schloss die Augen.
Sie war noch immer da. An seiner Seite. Und jetzt flüsterte sie ihm ins Ohr:
»Harry, glaubst du, dass du auch Leben geben kannst?«