Kapitel 13

Samstagnacht

»Sie hatte schon mehr als anderthalb Liter Blut verloren, als sie hier eingeliefert wurde«, sagte der Arzt, der Harry und Katrine im Ullevål-Krankenhaus über den Flur führte. »Hätte der Biss die Oberschenkelpulsader etwas weiter oben verletzt, wo sie dicker ist, hätten wir sie nicht retten können. Normalerweise gestatten wir es nicht, dass ein Patient in einem derart kritischen Zustand von der Polizei verhört wird, aber wenn es darum geht, andere Menschen zu retten …«

»Danke«, sagte Katrine. »Wir stellen wirklich nur die allernötigsten Fragen.«

Der Arzt öffnete die Tür, und er und Harry blieben stehen, während Katrine an das Krankenbett trat, neben dem eine Schwester saß.

»Das Ganze ist wirklich beeindruckend«, sagte der Arzt. »Finden Sie nicht auch, Harry?«

Harry drehte sich zu ihm und zog eine Augenbraue hoch.

»Sie haben doch nichts dagegen, dass ich Sie beim Vornamen nenne?«, fragte der Arzt. »Oslo ist wirklich klein. Ich bin auch der Arzt Ihrer Frau.«

»Wirklich? Ich wusste nicht, dass sie hier in der Klinik war.«

»Mir ist das klargeworden, als sie eines unserer Formulare ausfüllte und Sie als nächsten Angehörigen eintrug. Und Ihren Namen kannte ich ja aus der Zeitung.«

»Dann haben Sie aber ein gutes Gedächtnis«, Harry warf einen Blick auf das Namensschild auf dem weißen Kittel, »Dr. John D. Steffens. Es ist ziemlich lange her, dass mein Name in der Zeitung stand. Und was genau finden Sie jetzt beeindruckend?«

»Dass ein Mensch einen Oberschenkel auf diese Art … durchbeißen kann. Viele Leute sind der Meinung, der Mensch habe ­einen schwachen Biss, aber verglichen mit den meisten Säuge­tieren steckt da doch ziemlich viel Kraft dahinter, wussten Sie das?«

»Nein.«

»Was glauben Sie, Harry, wie fest können Sie zubeißen?«

Harry verstand erst nach ein paar Sekunden, dass Steffens tatsächlich auf eine Antwort wartete. »Nun, unser Kriminaltechniker hat etwas von siebzig Kilo gesagt.«

»Dann wissen Sie ja bereits, dass wir fest zubeißen können.«

Harry zuckte mit den Schultern. »Die Zahl sagt mir nur nicht viel. Wenn man mir sagen würde, dass es einhundertfünfzig Kilo sind, würde mich das nicht weniger beeindrucken. Apropos Zahlen, woher wissen Sie eigentlich, dass Penelope Rasch etwa anderthalb Liter Blut verloren hat? Puls und Blutdruck sind dafür doch keine wirklich genauen Indikatoren, oder?«

»Mir sind Bilder vom Tatort zugeschickt worden«, sagte Steffens. »Ich bin Käufer und Verkäufer von Blut und habe ein außergewöhnlich gutes Augenmaß.«

Harry wollte ihn fragen, wie er das meinte, als Katrine ihn zu sich winkte.

Harry trat neben sie. Penelope Raschs Gesicht war so weiß wie das Kissen, auf dem es lag. Ihre Augen waren offen, der Blick aber benebelt.

»Wir wollen Sie nicht lange quälen, Penelope«, sagte Katrine. »Wir haben mit dem Polizisten gesprochen, der Sie am Tatort betreut hat, wir wissen also, dass Sie den Täter vorher in der Stadt getroffen haben und er Sie im Treppenhaus angegriffen und mit Eisenzähnen gebissen hat. Können Sie uns vielleicht mehr über seine Identität sagen? Hat er Ihnen noch einen anderen Namen als Vidar genannt oder gesagt, wo er wohnt oder arbeitet?«

»Vidar Hansen. Wo er wohnt, habe ich nicht gefragt«, sagte sie mit einer Stimme, die Harry an dünnes Porzellan denken ließ. »Aber er hat gesagt, dass er Künstler ist und als Wachmann arbeitet.«

»Haben Sie ihm geglaubt?«

»Ich weiß nicht. Das mit dem Wachmann ja. Jemand, der Zugang zu Schlüsseln hat, er war nämlich auch in meiner Wohnung.«

»Ach ja?«

Penelope Rasch musste all ihre Kraft zusammennehmen, um die linke Hand unter der Decke hervorzuholen und hochzuhalten. »Der Verlobungsring, den ich von Roar bekommen habe. Er hat ihn aus meiner Kommode entwendet.«

Ungläubig starrte Katrine auf den matten Goldring. »Sie meinen … er hat Ihnen den im Treppenhaus auf den Finger gestreift?«

Penelope nickte und kniff die Augen zu. »Und das Letzte, was er gesagt hat …«

»Ja?«

»War, dass er nicht wie andere Männer ist, dass er zurückkommt und mich heiratet.« Sie begann zu schluchzen.

Harry sah, wie nah Katrine das alles ging. Trotzdem blieb sie konzentriert.

»Wie sah er aus, Penelope?«

Penelope öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Starrte sie verzweifelt an. »Ich erinnere mich nicht. Ich … muss es vergessen haben. Wie …?« Sie biss sich auf die Unterlippe. Tränen stiegen ihr in die Augen.

»Alles wird gut«, sagte Katrine. »Das ist in Ihrer Situation ganz normal. Die Erinnerung kommt wieder. Wissen Sie noch, was er anhatte?«

»Einen Anzug. Und ein Hemd. Er hat es aufgemacht. Er hatte …«

Sie hielt inne.

»Ja?«

»Eine Tätowierung auf der Brust.«

Harry sah Katrine nach Luft schnappen. »Was für eine Tätowierung, Penelope?«

»Ein Gesicht.«

»Wie ein Dämon, der versucht, durch die Haut nach draußen zu brechen?«

Penelope nickte, und eine einzelne Träne rann ihr über die Wange. Als hätte sie nicht mehr Flüssigkeit in sich, dachte Harry.

»Und es war irgendwie so …« Penelope schluchzte einmal kurz auf, »als wollte er mir den zeigen.«

Harry schloss die Augen.

»Sie braucht jetzt Ruhe«, sagte die Schwester.

Katrine nickte und legte eine Hand auf Penelopes milchweißen Arm. »Danke, Penelope, Sie waren uns eine große Hilfe.«

Harry und Katrine gingen gerade aus dem Zimmer, als die Schwester sie zurückrief.

»Ich erinnere mich noch an eine andere Sache«, flüsterte Penelope. »Er sah aus, als hätte er sich das Gesicht operieren lassen. Und ich habe mich gefragt …«

»Ja?«, fragte Katrine und beugte sich weiter nach unten, um sie besser verstehen zu können.

»Warum er mich nicht getötet hat?«

Katrine sah hilfesuchend zu Harry. Er holte tief Luft, nickte ihr zu und beugte sich über Penelope.

»Weil er es nicht geschafft hat«, sagte er. »Weil Sie das nicht zugelassen haben.«

»Jetzt sind wir uns wenigstens sicher, dass er es ist«, sagte Ka­trine, als sie über den Flur in Richtung Ausgang liefen.

»Hm. Sieht so aus, als hätte er die Methode geändert. Und die Präferenz.«

»Was fühlst du dabei?«

»Wobei? Dass er es ist?« Harry zuckte mit den Schultern. »Keine Gefühle. Das ist ein Mörder, der gefasst werden muss. Punkt.«

»Weich nicht aus, Harry. Er ist der Grund dafür, dass du hier bist.«

»Weil durch ihn viele weitere Leben gefährdet sind. Es ist wichtig, ihn zu fassen, aber das ist nicht persönlich, okay?«

»Ich höre, was du sagst.«

»Gut«, sagte Harry.

»Wenn er sagt, dass er zurückkommen und sie heiraten will, glaubst du, das ist …?«

»Im übertragenen Sinne gemeint? Ja, er wird sie in ihren Träumen heimsuchen.«

»Und das heißt dann …?«

»Dass er sie ganz bewusst am Leben gelassen hat.«

»Dann hast du sie angelogen.«

»Ja, ich habe gelogen.« Harry öffnete die Tür, und sie setzten sich in das Auto, das draußen wartete. Harry hinten, Katrine vorn.

»Präsidium?«, fragte Anders Wyller, der hinter dem Steuer saß.

»Ja«, sagte Katrine und nahm das Handy, das am Ladekabel hing. »Bjørn hat geschrieben, dass die Fußspuren in dem Blut auf der Treppe vermutlich von Cowboystiefeln stammen.«

»Cowboystiefel«, wiederholte Harry von der Rückbank.

»Diese schmalen, spitzen, mit Keilabsatz.«

»Ich weiß, wie Cowboystiefel aussehen. Solche Schuhe sind in einer der Zeugenaussagen auch schon genannt worden.«

»In welcher?«, fragte Katrine und überflog die anderen SMS, die sie bekommen hatte, während sie im Krankenhaus gewesen waren.

»Der Barkeeper in der Jealousy Bar. Irgend so ein Mehmet.«

»Dein Gedächtnis funktioniert noch, das muss man dir lassen. Die wollen mich als Gast im Sonntagsmagazin haben, um über den Vampiristen zu reden.« Sie tippte etwas.

»Was antwortest du?«

»Dass das nicht in Frage kommt. Ist doch logisch. Bellman hat klar gesagt, dass er so wenig Öffentlichkeit wie nur möglich will.«

»Auch wenn der Fall aufgeklärt ist?«

Katrine drehte sich zu Harry um. »Wie meinst du das?«

Harry zuckte mit den Schultern. »Na ja, so könnte der Polizeipräsident landesweit im Fernsehen damit prahlen, den Fall in nur drei Tagen aufgeklärt zu haben. Und zweitens könnten wir die Öffentlichkeit gut brauchen, um ihn zu erwischen.«

»Haben wir den Fall gelöst?« Wyller sah Harry über den Rückspiegel an.

»Aufgeklärt«, sagte Harry. »Nicht gelöst.«

Wyller wandte sich an Katrine. »Wie meint er das?«

»Wir wissen jetzt, wer der Täter ist, der Fall ist aber erst gelöst, wenn der lange Arm des Gesetzes den Täter geschnappt hat. In diesem Fall hat sich der Arm des Gesetzes bisher als nicht lang genug erwiesen, denn die betreffende Person wird weltweit bereits seit drei Jahren gesucht.«

»Wer ist er?«

Katrine seufzte tief. »Ich mag nicht mal seinen Namen nennen. Erzähl du, Harry.«

Harry starrte aus dem Fenster. Katrine hatte natürlich recht. Er hätte ablehnen können. Was er aber aus einem einzigen, egoistischen Grund nicht getan hatte. Nicht wegen der Opfer, des Wohlergehens der Stadt oder des Prestiges der Polizei. Ja nicht einmal wegen seines eigenen Rufs, sondern einzig und allein deswegen, weil er ihnen entkommen war. Ja, Harry fühlte sich schuldig, ihn nicht früher gestoppt zu haben. Wegen all der Mordopfer, wegen jedes Tages, den er frei herumlief. Deshalb dachte er an nichts anderes als daran, dass es ihm gelingen musste, ihn zu fassen. Dass er, Harry, ihn in Handschellen legen musste. Warum, wusste er nicht. Brauchte er wirklich den schlimmsten Serienmörder und Vergewaltiger, um seinem eigenen Leben eine Richtung und einen Sinn zu geben? Weiß der Teufel! Und der Teufel wusste vielleicht auch, ob es nicht genau umgekehrt war. Ob dieser Mann nicht einzig und allein wegen ihm, Harry, aus seinem Versteck gekrochen war, ein V auf die Tür von Ewa Dolmen gemalt und sein Dämonentattoo Penelope Rasch gezeigt hatte. Penelope hatte ihn gefragt, warum der Täter sie nicht getötet hatte. Und Harry hatte gelogen. Der Täter hatte sie am Leben gelassen, damit sie reden konnte. Damit sie Harry erzählen konnte, was sie gesehen hatte, damit er sich endlich dem Spiel stellte.

»Nun«, sagte Harry. »Wollt ihr die lange oder die kurze Version?«

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