Kapitel 18
Montagmorgen
Sinnlos.
Harry saß auf einem harten Stuhl und versuchte sich auf das zu konzentrieren, was der Mann in dem weißen Kittel hinter dem Schreibtisch sagte. Aber die Worte ergaben ebenso wenig Sinn wie das Vogelgezwitscher, das durch das geöffnete Fenster hereinschallte. Sie waren ebenso sinnlos wie der blaue Himmel oder die Tatsache, dass die Sonne sich entschieden hatte, an diesem Tag besonders warm zu scheinen. Wärmer als in den letzten Wochen. Sinnlos wie die Schautafeln mit den grauen Organen und der signalroten Darstellung des Blutkreislaufs oder das Kreuz mit dem blutenden Jesus, das an der Wand hing.
Rakel.
Nur sie hatte in seinem Leben wirklich Bedeutung.
Keine Wissenschaft, keine Religion, keine Gerechtigkeit, keine bessere Welt, kein Genuss, kein Rausch, nicht die Abwesenheit von Schmerzen oder gar Glück. Nur diese fünf Buchstaben. R-a-k-e-l. Wenn es sie nicht gäbe, wäre da keine andere, dann wäre da gar nichts.
Und gar nichts wäre besser als das jetzt.
Wo nichts ist, kann nichts genommen werden.
Irgendwann durchbrach Harry den Schwall der Worte. »Was heißt das?«
»Das heißt«, sagte Oberarzt Dr. Steffens, »dass wir es nicht wissen. Wir wissen, dass ihre Nieren nicht so funktionieren, wie sie sollten. Als Ursache dafür kommt eine Reihe unterschiedlicher Dinge in Frage, die naheliegendsten Gründe haben wir bereits ausschließen können.«
»Und was glauben Sie?«
»Ein Syndrom«, sagte Steffens. »Das Problem ist nur, dass es Tausende davon gibt, eines obskurer als das andere.«
»Und das heißt?«
»Dass wir weitersuchen müssen. Bis dahin haben wir sie in ein künstliches Koma versetzt, weil sie Atemprobleme hatte.«
»Wie lange …?«
»Bis auf weiteres. Wir müssen nicht nur herausfinden, was Ihrer Frau fehlt, sondern auch, wie wir sie behandeln können. Erst wenn wir sicher sind, dass sie wieder aus eigener Kraft atmen kann, können wir sie aus dem Koma holen.«
»Wird sie … wird sie …?«
»Ja?«
»Kann sie sterben, während sie im Koma liegt?«
»Das wissen wir nicht.«
»Doch, das wissen Sie.«
Steffens legte die Fingerkuppen aneinander. Wartete, um das Tempo des Gesprächs zu verlangsamen.
»Es ist möglich«, sagte er schließlich. »Wir sterben alle irgendwann, das Herz kann jederzeit stehenbleiben, das ist eine Frage der Wahrscheinlichkeit.«
Harry wusste, dass die Wut, die in ihm hochkochte, im Grunde nichts mit dem Arzt oder den Selbstverständlichkeiten zu tun hatte, die dieser von sich gab. Er hatte bei diversen Mordfällen mit Angehörigen zu tun gehabt und wusste, dass die Frustration sich ein Ziel suchte und dass die Tatsache, dass es ein solches Ziel nicht gab, die Wut nur noch größer machte. Er atmete tief ein. »Und von welcher Wahrscheinlichkeit sprechen wir hier?«
Steffens breitete die Arme aus. »Wie gesagt, wissen wir nicht, was das Nierenversagen verursacht hat.«
»Weil Sie das nicht wissen, reden wir ja über Wahrscheinlichkeiten«, sagte Harry und hielt inne. Schluckte. Dämpfte seine Stimme. »Also sagen Sie mir, wie das höchstwahrscheinlich ausgeht – basierend auf dem wenigen, das Sie wissen.«
»Das Nierenversagen ist nicht der eigentliche Fehler, sondern nur ein Symptom. Es kann eine Blutkrankheit oder eine Vergiftung sein. Im Moment ist ja Pilzsaison, aber Ihre Frau hat gesagt, dass Sie in der letzten Zeit keine Pilze gegessen haben. Und dass Sie dasselbe gegessen haben. Fühlen Sie sich irgendwie schlecht, Herr Hole?«
»Ja.«
»Sie … okay, verstehe. Womit wir es hier vermutlich zu tun haben, diese Symptome … das ist ernst.«
»Über oder unter fünfzig Prozent, Steffens?«
»Ich kann nicht …«
»Steffens«, fiel Harry ihm ins Wort. »Ich weiß, dass das bloße Raterei ist, aber bitte sagen Sie mir irgendwas.«
Der Arzt musterte Harry lange, bis er einen Entschluss zu fassen schien.
»So, wie es jetzt aussieht, also basierend auf den Ergebnissen der Proben, glaube ich, dass die Chancen, sie zu verlieren, bei etwas über fünfzig Prozent liegen. Nicht deutlich über fünfzig, aber etwas. Ich konfrontiere Angehörige nicht gern mit diesen Wahrscheinlichkeiten, weil die meisten ihnen zu viel Gewicht beimessen. Stirbt ein Patient bei einer Operation, bei der wir das Risiko mit nur fünfundzwanzig Prozent angegeben haben, werden wir von den Hinterbliebenen oft beschuldigt, sie hinters Licht geführt zu haben.«
»Fünfundvierzig Prozent? Fünfundvierzig Prozent, dass sie überlebt?«
»Im Augenblick. Ihr Zustand verschlechtert sich, die Prognosen werden schlechter werden, wenn wir die Ursache nicht in einem oder zwei Tagen finden.«
»Danke.« Harry stand auf. Ihm wurde schwarz vor Augen. Und automatisch kam der Gedanke, die Hoffnung, dass es für immer schwarz blieb. Ein schneller, schmerzfreier Abgang, idiotisch und banal und trotzdem auch nicht sinnloser als all das andere.
»Es wäre gut zu wissen, wie und ob wir Sie erreichen können, sollte …«
»Ich werde dafür sorgen, rund um die Uhr erreichbar zu sein«, sagte Harry. »Ich gehe dann zurück zu ihr, oder gibt es noch etwas, das ich wissen muss?«
»Ich werde Sie begleiten, Hole.«
Sie gingen zu Zimmer 301. Der lange Gang vor ihnen verschwand irgendwo im gleißenden Licht. Die Strahlen der niedrigstehenden Herbstsonne schienen direkt durch das Flurfenster zu fallen. Krankenschwestern in gespenstisch weißen Kitteln kamen ihnen entgegen, und die wenigen Patienten, die auf dem Flur waren, trugen Morgenmäntel und schlurften wie lebende Tote langsam ins Licht. Gestern hatten Rakel und er sich noch in dem großen Bett mit der etwas zu weichen Matratze in den Armen gelegen, und jetzt war sie hier, im Lande Koma, zwischen Gespenstern und Geistern. Er musste Oleg anrufen. Aber wie sollte er ihm das sagen? Er brauchte einen Drink. Harry wusste nicht, woher dieser Gedanke kam, aber er war so klar und deutlich, als hätte ihn jemand laut gerufen oder ihm direkt ins Ohr geflüstert. Was er wusste, war, dass er diesen Gedanken niederzwingen musste, ersticken, schnell.
»Warum haben Sie auch Penelope Rasch behandelt?«, fragte er laut. »Sie liegt doch gar nicht auf dieser Station?«
»Weil sie eine Bluttransfusion brauchte«, sagte Steffens. »Ich bin Hämatologe und Bankchef und manchmal übernehme ich auch Dienste in der Notaufnahme.«
»Bankchef?«
Steffens blickte Harry an und verstand vielleicht, dass dessen Hirn Abwechslung brauchte, eine Pause von all dem, worin er so plötzlich gelandet war.
»Die hiesige Filiale der Blutbank. Das heißt, eigentlich bin ich Bademeister, wir haben uns nämlich im alten Rheumatikerbad im Keller dieses Gebäudes eingerichtet. Unter uns nennen wir das deshalb nur Blutbad. Sagen Sie nicht, Hämatologen hätten keinen Sinn für Humor.«
»Hm. Das meinten Sie also, als Sie gesagt haben, Sie seien An- und Verkäufer von Blut.«
»Entschuldigung?«
»Sie haben das gesagt, als Sie mir erklärt haben, warum Sie aus den Tatortfotos entnehmen konnten, wie viel Blut Penelope Rasch im Treppenhaus verloren hat. Augenmaß.«
»Ihre Erinnerung ist gut.«
»Wie geht es ihr?«
»Ach, rein physisch entwickelt sie sich gut. Aber sie wird die Hilfe eines Psychologen brauchen. Einem Vampir zu begegnen …«
»Vampirist.«
»… das ist bestimmt eine Warnung.«
»Warnung?«
»Ja. Im Alten Testament wird das Auftauchen vorhergesagt und der Vampir beschrieben.«
»Das Auftauchen eines Vampiristen?«
Steffens lächelte dünn. »In den Sprüchen 30,14. ›Eine Art, die Schwerter für Zähne hat und Messer für Backenzähne und verzehrt die Elenden im Lande und die Armen unter den Leuten‹. Da wären wir.«
Steffens hielt ihm die Tür auf, und Harry ging hinein. In die Nacht. Auf der anderen Seite der geschlossenen Gardine schien die Sonne, aber drinnen kam das einzige Licht von einer grün schimmernden Linie, die in Ausschlägen über einen schwarzen Bildschirm lief. Harry senkte den Blick und musterte ihr Gesicht. Sie sah so friedlich aus. Aber auch weit entfernt, schwebend in einem dunklen Universum, in dem er sie nicht erreichen konnte. Er setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett und wartete, bis er die Tür hinter Steffens ins Schloss fallen hörte. Dann nahm er ihre Hand und drückte sein Gesicht in die Decke.
»Geh nicht noch weiter weg, Liebes«, flüsterte er. »Nicht noch weiter weg!«
Truls Berntsen hatte die Stellwände im Großraumbüro des Präsidiums so verschoben, dass die Box, die er sich mit Anders Wyller teilte, von niemandem eingesehen werden konnte. Deshalb ärgerte es ihn, dass der Einzige, der Einblick hatte, nämlich Wyller, so verdammt neugierig war. Besonders darauf, mit wem Truls telefonierte. Im Augenblick war der Schnüffler aber in einem Tattoo- und Piercingladen. Sie hatten einen Tip bekommen, dass dort Vampirartikel importiert würden, unter anderem gebissähnliche Preziosen mit Reißzähnen aus Metall. Truls hatte sich vorgenommen, die willkommene Pause in vollen Zügen auszunutzen. Er hatte die letzte Folge der zweiten Staffel von The Shield heruntergeladen und die Lautstärke so eingestellt, dass nur er etwas hören konnte. Deshalb war es ihm gar nicht recht, dass sein Handy blinkte, wie ein Vibrator zu brummen begann und die ersten Töne von Britney Spears’ »I’m Not a Girl« erklangen. Warum er dieses Lied so mochte, konnte er gar nicht sagen. Die zweite Textzeile, dass sie noch keine Frau sei, weckte vage Vorstellungen von einem minderjährigen Mädchen, Truls hoffte aber, dass ihn nicht das bewogen hatte, ausgerechnet diese Melodie als Klingelton zu wählen. Aber war es wirklich pervers, dass er sich bei dem Gedanken an Britney Spears in Schuluniform einen runtergeholt hatte? Und wenn schon, dann war er eben pervers. Viel mehr beunruhigte ihn, dass ihm die Nummer auf dem Display irgendwie bekannt vorkam. Das Finanzamt. Oder die Abteilung für interne Ermittlungen? Ein alter, zweifelhafter Kontakt, für den er mal Beweismaterial hatte verschwinden lassen? Jemand, dem er Geld oder einen Gefallen schuldete? Auf jeden Fall war es nicht Mona Daas Nummer. Vielleicht einfach ein Kollege, der ihn anrief, was dann wiederum bedeuten würde, dass er irgendeine Aufgabe bekam, die er dann erledigen musste. Von wem der Anruf auch kam, dachte Truls, es brachte ihm keine Vorteile ein, ihn anzunehmen. Er legte das Telefon in eine Schublade und konzentrierte sich auf Vic Mackey und dessen Kollegen vom Strike-Team. Er liebte Vic, The Shield war wirklich die einzige Polizeiserie, in der sie verstanden hatten, wie echte Polizisten dachten. Plötzlich, aus heiterem Himmel, wusste er, woher er die Nummer kannte. Er riss die Schublade auf und nahm das Telefon. »Kommissar Berntsen.«
Zwei Sekunden lang blieb es am anderen Ende still, so dass er fürchtete, sie könnte bereits wieder aufgelegt haben. Aber dann war ihre Stimme da, sanft und liebkosend, direkt an seinem Ohr.
»Hallo, Truls, hier ist Ulla.«
»Ulla …?«
»Ulla Bellman.«
»Ulla, dass du mich anrufst.« Truls hoffte, dass er einigermaßen überzeugend klang. »Was kann ich für dich tun?«
Sie lachte leise. »Tja, was kannst du für mich tun? Ich habe dich heute in der Eingangshalle des Präsidiums gesehen, und da ist mir erst richtig klargeworden, wie lange wir schon nicht mehr miteinander geredet haben. Du weiß schon, so wie früher.«
Wir haben nie richtig miteinander geredet, dachte Truls.
»Sollen wir uns mal treffen?«
»Ja, gerne, warum nicht.« Truls versuchte, sein grunzendes Lachen zu ersticken.
»Schön. Was hältst du von Dienstag, da hat Mama die Kinder. Sollen wir irgendwo etwas trinken oder essen gehen?«
Truls traute seinen Ohren nicht. Ulla wollte ihn treffen. Wollte sie ihn wieder über Mikael ausfragen? Nein, sie musste wissen, dass er ihn nicht mehr so oft sah. Und außerdem: ein Glas trinken oder essen gehen? »Gerne. Hast du an was Bestimmtes gedacht?«
»Nur, dass es schön wäre, wenn wir uns mal wieder sehen würden. Ich habe nicht mehr zu so vielen von früher Kontakt.«
»Na dann«, sagte Truls. »Und wo?«
Ulla lachte. »Ich war seit Jahren nicht mehr aus. Ich weiß gar nicht, was es in Manglerud noch gibt. Du wohnst doch noch da, oder?«
»Schon, ja. Das Olsens unten in Bryn gibt es noch.«
»Wirklich? Na, dann lass uns doch dort treffen. Um acht?«
Truls nickte stumm, bis er sich besann und ein leises »Ja« murmelte.
»Und, Truls?«
»Ja?«
»Sag Mikael nichts von unserer Verabredung, okay?«
Truls hustete. »Nicht?«
»Nein. Dann sehen wir uns am Dienstag.«
Nachdem sie aufgelegt hatte, starrte er noch lange auf das Telefon. War das wirklich passiert oder nur ein Echo der Tagträume, die er als Jugendlicher gehabt hatte? Truls war so glücklich, dass seine Brust zu platzen drohte. Und dann kam die Panik. Bestimmt würde wieder alles komplett schiefgehen. Wie immer.
Es war schiefgegangen.
Hatte natürlich nicht so bleiben können, wie es war. Es war eine Frage der Zeit gewesen, wann er aus dem Paradies vertrieben werden würde.
»Ein Bier«, sagte er und sah zu der jungen, sommersprossigen Frau auf, die an seinen Tisch gekommen war.
Sie war ungeschminkt, hatte die Haare zu einem einfachen Pferdeschwanz zusammengebunden und die Ärmel der weißen Bluse hochgekrempelt, als wollte sie irgendwo mit anpacken. Sie notierte die Bestellung auf einem Block, als erwartete sie eine längere Liste. Harry schloss daraus, dass sie neu war, immerhin endeten im Schrøder neun von zehn Bestellungen exakt da, wo seine geendet hatte.
In den ersten Wochen würde sie den Job hassen. Die derben Witze der männlichen Gäste und die schlecht versteckte Eifersucht der versoffensten Frauen. Kaum Trinkgeld, keine Musik, zu der man sich bewegen konnte, keine Flirts mit hübschen Jungs. Dafür aber reichlich streitsüchtige alte Alkoholiker, die sie abends, wenn sie dichtmachten, rausschmeißen musste. Sie würde sich fragen, ob das alles das bisschen Geld wert war, das sie sich hier zu ihrem Studienkredit dazuverdienen konnte, um sich das zentral gelegene WG-Zimmer leisten zu können. Harry wusste aber auch, dass sich das nach und nach verändern würde, wenn sie den ersten Monat erst hinter sich gebracht hatte. Irgendwann würde sie beginnen, über den ziemlich absurden Humor der Gäste zu lachen, und es ihnen mit gleicher Münze heimzahlen. Wenn die weiblichen Gäste erkannt hatten, dass ihnen von der Neuen keine Gefahr drohte, würden sie sich ihr anvertrauen. Und dann würde sie auch Trinkgeld kriegen. Nicht viel, aber dafür ehrliches Geld, von ganzem Herzen gegeben, immer wieder verbunden mit aufmunternden, liebevollen Worten. Und sie würde einen Namen bekommen. Möglicherweise einen unerfreulich passenden, aber dieser Spitzname wäre wie ein Adelstitel in dieser unadeligen Gesellschaft. Klein Kari, Lenin, Rückspiegel, Bärin. Bei ihr würde es sicher etwas mit Sommersprossen und roten Haaren werden. Und während die Menschen in den WGs ein- und auszogen, Liebschaften kamen und gingen, würden diese Leute zu ihrer Familie werden. Eine herzensgute, spröde, nervenaufreibende, verlorene Familie.
Die junge Frau blickte von ihrem Block auf. »Ist das alles?«
»Ja«, erwiderte Harry mit einem Lächeln.
Sie hastete in Richtung Tresen, als stoppte jemand die Zeit. Und wer weiß, vielleicht stand Nina an der Bar und machte genau das.
Anders Wyller hatte eine SMS geschickt. Er wartete am Tattoos & Piercing in der Storgata auf ihn. Harry begann zu tippen, dass er sich allein darum kümmern müsse, als er hörte, wie jemand an seinem Tisch Platz nahm.
»Hallo, Nina«, sagte er, ohne den Blick zu heben.
»Hallo, Harry, Scheißtag?«
»Ja.« Er tippte das altmodische Smiley mit Doppelpunkt und Klammer.
»Und jetzt bist du hergekommen, um ihn noch beschissener zu machen?«
Harry antwortete nicht.
»Weißt du, was ich glaube, Harry?«
»Was glaubst du, Nina?« Sein Finger suchte nach Senden. »Ich habe gerade ein Bier bei Sommersprossen-Fia bestellt.«
»Belassen wir es vorläufig bei Marte. Und das Bier habe ich abbestellt. Der Teufel auf deiner rechten Schulter mag ja ein Bier wollen, aber der Engel auf deiner linken hat dich an einen Ort geführt, an dem dir kein Alkohol serviert wird und an dem es eine Nina gibt, von der du weißt, dass sie dir statt des Bieres einen Kaffee bringt, ein bisschen mit dir redet und dich dann nach Hause zu Rakel schickt.«
»Sie ist nicht zu Hause, Nina.«
»Ach, deshalb. Hat Harry Hole es wieder einmal geschafft, alles kaputtzumachen? Das könnt ihr Männer echt gut.«
»Rakel ist krank. Und ich brauche ein Bier, bevor ich Oleg anrufe.« Harry starrte auf sein Handy. Suchte immer noch nach Senden, als er Ninas weiche, warme Hand auf seiner spürte.
»Am Ende geht es in der Regel gut aus, Harry.«
Er sah sie an. »Nein, das tut es nicht. Oder kennst du irgendjemanden, der überlebt hat?«
Sie lachte. »›Am Ende‹ liegt irgendwo zwischen dem, was dich jetzt belastet, und dem Tag, an dem uns nichts mehr belastet, Harry.«
Harry sah noch einmal auf sein Telefon. Dann tippte er stattdessen Olegs Namen und rief ihn an.
Nina stand auf und ging weg.
Oleg antwortete nach dem ersten Klingeln. »Gut, dass du anrufst. Wir haben gerade Kolloquium und diskutieren Paragraph 20 des Polizeigesetzes. Es stimmt doch, dass man den so deuten muss, dass ein Polizist auf jeden Fall einem Kollegen mit höherem Dienstgrad unterstellt ist und die Befehle, die dieser ihm gibt, befolgen muss, auch wenn sie nicht im gleichen Dezernat oder sogar in unterschiedlichen Polizeibezirken Dienst tun, oder? Der Dienstgrad ist entscheidend in einer schwierigen Situation, oder nicht? Komm schon, sag, dass ich recht habe! Ich habe nämlich mit den anderen beiden Idioten hier gewettet. Um ein Bier.« Harry hörte das Gelächter der Studienfreunde im Hintergrund.
Harry schloss die Augen. Es stimmte, es gab etwas, worauf er hoffen konnte, worauf er sich freuen konnte: die Zeit, wenn einem all die Last von den Schultern gefallen war und einen nichts mehr belastete.
»Schlechte Nachrichten, Oleg. Mama ist im Krankenhaus. Im Ullevål.«
»Ich nehme den Fisch«, sagte Mona zum Kellner. »Aber lassen Sie Kartoffeln, Sauce und Gemüse weg.«
»Dann bleibt aber nur der Fisch«, sagte der Kellner.
»Genau«, erwiderte Mona, gab ihm die Speisekarte zurück und ließ ihren Blick über die anderen Mittagsgäste in dem gerade erst eröffneten, aber schon gutbesuchten Restaurant schweifen. Sie hatten mit Glück noch den letzten Zweiertisch bekommen.
»Nur Fisch?«, fragte Nora, die einen Caesarsalat ohne Dressing bestellt hatte, wobei Mona ganz genau wusste, dass die Freundin am Ende kapitulieren und sich zum Kaffee einen Nachtisch bestellen würde.
»Ich muss definieren«, sagte Mona.
»Definieren?«
»Ich muss das Unterhautfett wegkriegen, damit die Muskeln sichtbarer werden. In drei Wochen sind die nationalen Meisterschaften.«
»Bodybuilding? Du willst wirklich teilnehmen?«
Mona lachte. »Mit der Hüfte meinst du? Ich setze darauf, dass ich mit Beinen und Oberkörper genug punkten kann. Und natürlich mit meinem einnehmenden Wesen.«
»Du wirkst nervös.«
»Natürlich.«
»Der Wettkampf ist erst in drei Wochen, und du bist nie nervös. Was ist los? Hat das mit den Vampiristenmorden zu tun? Apropos, danke für den Tip, Smith war wunderbar. Und Bratt hat auf ihre Weise auch Terrain gemacht. Sie sah jedenfalls gut aus. Isabelle Skøyen, diese Ex-Senatorin, hat uns übrigens angerufen und gefragt, ob wir uns nicht auch Mikael Bellman als Gast vorstellen könnten.«
»Damit er auf die Kritik reagieren kann, dass Valentin Gjertsen nie gefasst wurde? Vielen Dank. Sie hat uns auch schon angerufen, wir sollen darüber schreiben. Die Frau weiß wirklich, was sie will.«
»Ihr wolltet nicht? Mein Gott, alles, was mit diesem Vampiristen zu tun hat, schafft doch Schlagzeilen.«
»Ich wollte nicht. Meine Kollegen waren da anderer Meinung.« Mona tippte auf ihr iPad und reichte es Nora, die laut von der VG-Homepage vorlas:
»Die frühere Senatorin Isabelle Skøyen weist die Kritik an der Osloer Polizei zurück und betont, dass der Polizeipräsident alles im Griff habe: ›Mikael Bellman und seine Polizeieinheiten haben den Vampiristenmörder bereits identifiziert und sind nun mit einem Großaufgebot auf der Suche nach ihm. Unter anderem hat der Polizeipräsident den berühmten Ermittler Harry Hole ins Team geholt, der nur allzu gerne bereit war, seinem früheren Vorgesetzten zu helfen, und sich darauf freut, diesen armseligen Perversen hinter Schloss und Riegel zu bringen.‹«
Nora gab das iPad zurück. »Ziemlich verrückt, muss ich schon sagen. Was hältst du eigentlich von diesem Hole? Würdest du ihn von der Bettkante stoßen?«
»Definitiv. Du etwa nicht?«
»Ich weiß nicht.« Nora starrte vor sich hin. »Nicht stoßen. Vielleicht nur ein bisschen stupsen. So nach dem Motto ›Jetzt geh doch bitte und fass mich bloß nicht da oder da und ganz bestimmt nicht da an‹.« Nora kicherte.
»Mein Gott«, sagte Mona und schüttelte den Kopf. »Frauen wie du erhöhen eindeutig die Zahl der Missverständnis-Vergewaltigungen.«
»Missverständnis-Vergewaltigung? Gibt es das Wort? Macht das Sinn?«
»Und ob! Mich hat jedenfalls noch nie jemand missverstanden.«
»Was mich daran erinnert, dass ich endlich herausgefunden habe, warum du Old Spice benutzt.«
»Hast du nicht«, sagte Mona genervt.
»Doch! Du willst dich damit vor Vergewaltigern schützen. Oder? Rasierwasser, das nach Testosteron riecht, vertreibt die so sicher wie Pfefferspray. Aber hast du bedacht, dass das auch alle anderen in die Flucht schlägt?«
»Ich gebe es auf«, sagte Mona mit einem Seufzen.
»Ja! Gib auf und sag es endlich!«
»Das ist wegen meinem Vater.«
»Aha?«
»Der hat immer Old Spice benutzt.«
»Stimmt, ihr wart euch so nah. Du vermisst ihn, du Arme.«
»Ich benutze es als Erinnerung an das Wichtigste, das ich von ihm gelernt habe.«
Nora zwinkerte ihr zu. »Sich zu rasieren?«
Mona lachte kurz und nahm ihr Glas. »Niemals aufzugeben, niemals.«
Nora legte den Kopf schief und sah ihre Freundin ernst an. »Du bist nervös, Mona. Was ist los? Und warum wolltest du nicht mit dieser Skøyen reden? Die Vampiristengeschichte ist doch deine Story.«
»Weil ich einen dickeren Fisch an der Angel habe.« Mona nahm die Hände vom Tisch, als der Kellner erschien.
»Das will ich auch wirklich hoffen«, sagte Nora und sah auf das mickrige Filet, das der Kellner ihrer Freundin servierte.
Mona stocherte mit der Gabel darin herum. »Und ich bin nervös, weil ich vermutlich überwacht werde.«
»Was sagst du da?«
»Ja, was sage ich? Nichts, weil ich dir nichts sagen kann, Nora. Dir nicht und auch sonst niemandem. Das ist Teil der Abmachung, und es ist durchaus möglich, dass wir abgehört werden.«
»Abgehört? Wir? Du machst Witze! Und ich habe gesagt, dass Hole …« Nora schlug sich die Hand vor den Mund.
Mona lächelte. »Das wird sicher nicht gegen dich verwendet. Es ist durchaus möglich, dass ich kurz vor dem Scoop der Kriminaljournalistik bin. Aller Zeiten.«
»Erzähl!«
Mona schüttelte entschieden den Kopf. »Was ich erzählen kann, ist, dass ich eine Pistole habe.« Sie tippte auf ihre Handtasche.
»Du machst mir Angst, Mona! Und was, wenn sie hören, dass du eine Pistole hast?«
»Ich will ja, dass sie das hören! Dann kapieren sie vielleicht, dass sie nicht auf dumme Gedanken kommen sollten.«
Nora stöhnte resigniert auf. »Und warum musst du das allein machen, wenn es so gefährlich ist?«
»Weil es dann in die Geschichte eingeht, liebe Nora.« Mona grinste breit und hob ihr Wasserglas an. »Wenn es läuft, wie es laufen soll, zahle ich das nächste Essen. Und Meisterschaft hin oder her, dann trinken wir Champagner.«
»Ja!«
»Tut mir leid, dass ich so spät bin«, sagte Harry und schloss die Tür des Tattoos & Piercing hinter sich.
»Wir gehen gerade das Sortiment durch«, sagte Anders Wyller lächelnd. Er stand hinter dem Verkaufstisch und blätterte gemeinsam mit einem o-beinigen Mann mit VIF-Cap, schwarzem Hüsker-Dü-T-Shirt und einem Bart, der schon voll ausgebildet war, als alle Hipster gleichzeitig aufgehört hatten, sich zu rasieren.
»Lasst euch nicht stören«, sagte Harry und blieb an der Tür stehen.
»Wie gesagt«, sagte der Bärtige und zeigte in den Katalog. »Die da sind auch nur zum Schmuck und können nicht wirklich in den Mund eingesetzt werden. Die Zähne sind auch nicht spitz, sieht man mal von den Reißzähnen ab.«
»Und was ist mit denen da?«, fragte Anders Wyller.
Harry sah sich um. Es war niemand sonst im Laden, und für andere Kunden wäre auch kaum noch Platz. Jeder Quadratmeter, um nicht zu sagen Kubikmeter, wurde genutzt. Mitten im Raum stand die Tätowierbank, von der Decke hingen T-Shirts herunter, und an den Wänden standen Regale und Ständer mit Piercingschmuck, Totenschädeln und Zeichentrickfiguren aus verchromtem Metall. Die wenigen freien Stellen an den Wänden waren mit Zeichnungen und Fotos von Tattoos beklebt. Auf einem der Fotos erkannte Harry eine russische Gefängnistätowierung, eine Makarow-Pistole, für Eingeweihte ein sicheres Zeichen, dass der Träger einen Polizisten ermordet hatte. Die wenig präzisen Stiche konnten bedeuten, dass das Tattoo auf herkömmliche Weise gestochen worden war, mit einer Gitarrensaite, befestigt an einem Rasierer, und als Farbe die Asche verbrannter Schuhsohle und Urin verwendet worden war.
»Sind das alles Ihre Tattoos?«, fragte Harry.
»Keins davon«, antwortete der Mann. »Die Bilder stammen von überall. Aber cool, oder?«
»Wir sind gleich fertig«, sagte Anders.
»Nehmt euch die Zeit, die …« Harry hielt abrupt inne.
»Tut mir leid, dass ich Ihnen nicht helfen konnte«, sagte der Bärtige zu Wyller. »Was Sie mir da beschrieben haben, finden Sie vielleicht eher in einem Laden für Sex-Fetischisten.«
»Danke, aber das haben wir auch schon überprüft.«
»Na, dann. Aber sagen Sie Bescheid, wenn wir Ihnen irgendwie anders …«
»Das da.«
Die beiden drehten sich zu dem großgewachsenen Polizisten um, der den Zeigefinger auf eine Tattoozeichnung hoch oben an der Wand gerichtet hatte. »Wo haben Sie das her?«
Sie gingen zu ihm.
»Aus der Haftanstalt Ila«, sagte der Bärtige. »Das ist eine der Zeichnungen, die Rico Herrem gemacht hat, ein Tätowierer, der da eingesessen hat. Er ist in Pattaya, Thailand, gestorben, kurz nachdem er seine zwei- oder dreijährige Haftstrafe abgesessen hatte, Milzbrand.«
»Haben Sie dieses Motiv jemandem gestochen?«, fragte Harry und spürte, wie der schreiende Mund des Dämons sie in den Bann zog.
»Nee, nie. Es hat auch keiner danach gefragt, wer will schon mit so etwas herumlaufen?«
»Niemand?«
»Nicht dass ich wüsste. Aber jetzt, wo Sie das sagen, hier hat mal jemand gearbeitet, der dieses Tattoo schon einmal gesehen haben will. Er hat das als Cin bezeichnet. Ich erinnere mich daran, weil Cin und seytan die einzigen türkischen Wörter sind, die ich noch kenne. Cin bedeutet Dämon.«
»Hat er gesagt, wo er das gesehen hat?«
»Nein, und er ist zurück in die Türkei gezogen. Ich habe aber noch seine Telefonnummer, sollte das wichtig sein.«
Harry und Wyller warteten, bis der Mann mit einem handgeschriebenen Zettel aus dem Hinterzimmer zurückkam.
»Der spricht allerdings kaum Englisch.«
»Wie …?«
»Zeichensprache, mein Dönertürkisch und sein Kebabnorwegisch. Das hat er inzwischen aber sicher vergessen. Ich empfehle einen Dolmetscher.«
»Nochmals danke«, sagte Harry. »Und ich fürchte, wir müssen diese Zeichnung mitnehmen.« Er drehte sich um und wollte nach einem Stuhl Ausschau halten, um so weit nach oben zu kommen, bemerkte dann aber, dass Wyller ihm schon einen hingestellt hatte.
Harry sah für einen Augenblick seinen jungen, lächelnden Kollegen an. Dann kletterte er auf den Stuhl.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Wyller, als sie draußen auf der Storgata standen und die Straßenbahn an ihnen vorbeiratterte.
Harry steckte die Zeichnung in die Innentasche seiner Jacke und sah zu dem Blaukreuzler-Signet hinauf, das an der Hauswand über ihnen prangte.
»Wir gehen in eine Bar.«
Er ging über den Krankenhausflur. Den Blumenstrauß hielt er vor sich in die Höhe, so dass sein Gesicht wenigstens teilweise verdeckt war. Aber keiner, der ihm entgegenkam, weder Besucher noch Personal, bemerkte ihn. Ruhepuls. Er hatte Ruhepuls. Mit dreizehn war er von einer Gardinenleiter gefallen, als er über den Zaun hinweg die Nachbarsfrau beobachten wollte. Er schlug mit dem Kopf auf der betonierten Terrasse auf und verlor das Bewusstsein. Als er wieder zu sich kam, lag seine Mutter mit dem Ohr an seiner Brust über ihm, so dass er ihren Duft riechen konnte, ihr Lavendelparfüm. Sie hielt ihn für tot, da sie weder sein Herz schlagen hörte noch seinen Puls finden konnte. Ob das, was er in diesem Moment in ihrer Stimme wahrnahm, Erleichterung oder Enttäuschung war, wusste er nicht. Auf jeden Fall hatte sie ihn zu einem jungen Arzt gebracht, auch der hatte nur mit größter Mühe seinen Puls finden können. Bei dieser Untersuchung war festgestellt worden, dass sein Herz ungewöhnlich langsam schlug. Dabei führten Gehirnerschütterungen eigentlich zu einem erhöhten Puls. Man hatte ihn in ein Krankenhaus eingewiesen, wo er eine Woche in einem weißen Bett gelegen und blendend weiße Träume gehabt hatte. Überbelichtete Bilder, etwa so, wie man in Filmen das Leben nach dem Tod darstellte. Engelsweiß. Nichts in einem Krankenhaus bereitet dich auf das Schwarz vor, das draußen wartet.
Das Schwarz, das jetzt die Frau erwartete, die in dem Zimmer lag, dessen Nummer sie ihm bereitwillig gegeben hatten.
Das Schwarz, das den Polizisten mit dem besonderen Blick erwartete, wenn er erfuhr, was passiert war.
Das Schwarz, das uns alle erwartete.
Harry starrte auf die Flaschen, die vor dem Spiegel auf dem Barregal standen. Der goldene Inhalt funkelte warm in dem reflektierenden Licht der Lampen. Rakel schlief. Fünfundvierzig Prozent. Die Überlebenschancen und der Alkoholgehalt stimmten in etwa überein. Schlafen. Er könnte gemeinsam mit ihr dort sein, wo sie jetzt war. Er hob den Blick. Sah Mehmet, dessen Lippen unverständliche Worte formten. Harry hatte irgendwo gelesen, dass die türkische Grammatik die drittschwerste der Welt sein sollte.
»Saggolun«, sagte Mehmet und gab Harry das Handy zurück. »Er hat gesagt, dass er den Cin auf der Brust eines Mannes in einem türkischen Bad in Sagene gesehen hat. Es soll Cagaloglu Hamam heißen. Er will ihn dort sogar ein paarmal gesehen haben, das letzte Mal vor knapp einem Jahr, bevor er zurück in die Türkei gegangen ist. Der Mann soll die meiste Zeit einen Bademantel getragen haben, sogar im Bad. Nur im Hararet soll er den abgelegt haben.«
»Im was?«
»Im Dampfbad. Wenn da die Tür aufgeht, entweicht ein wenig Dampf, hat er gesagt, und da hat er ihn für ein paar Sekunden gesehen. Er meinte, dass man so ein Tattoo nie vergisst, es hätte ausgesehen, als würde dieser seytan im wahrsten Sinne des Wortes versuchen, aus der Haut zu fahren.«
»Hm. Haben Sie mit ihm über irgendwelche besonderen Merkmale gesprochen?«
»Ja, ich habe gefragt, aber er hat die Narben unter dem Kinn, von denen Sie gesprochen haben, nicht gesehen. Und auch sonst nichts.«
Harry nickte nachdenklich, während Mehmet die Kaffeekanne holte, um ihnen nachzuschenken.
»Überwachen wir das Bad?«, fragte Wyller, der neben Harry auf einem Barhocker saß.
Harry schüttelte den Kopf. »Wir wissen nicht, ob und wann er wieder auftaucht, und selbst wenn, haben wir keine Ahnung, wie Valentin aussieht. Er ist viel zu klug, um sein Tattoo jetzt zu zeigen.«
Mehmet kam zurück und füllte die Tassen vor ihnen auf dem Tresen.
»Danke für die Hilfe, Mehmet«, sagte Harry. »Es hätte uns sicher einen Tag gekostet, einen vereidigten türkischen Dolmetscher zu finden.«
Mehmet zuckte mit den Schultern. »Bei so was muss man doch helfen. Außerdem war Elise vor ihrer Ermordung hier bei mir.«
»Hm.« Harry starrte in seine Tasse. »Anders?«
»Ja?« Anders Wyller klang froh, vielleicht weil es das erste Mal war, das Harry ihn beim Vornamen genannt hatte.
»Holst du schon mal den Wagen und fährst vor?«
»Ja, aber, der steht doch nur …«
»Ich komme dann raus.«
Als Wyller durch die Tür war, trank Harry einen Schluck von dem Kaffee. »Es geht mich ja nichts an, Mehmet, aber Sie stecken in Schwierigkeiten, oder?«
»Schwierigkeiten?«
»Sie haben eine blitzsaubere Akte, das habe ich überprüft. Aber das trifft nicht auf den Typen zu, der hier war und sofort wieder gegangen ist, als wir gekommen sind. Er hat mich zwar nicht gegrüßt, aber Danial Banks und ich sind alte Bekannte. Hat er Sie am Wickel?«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich meine, dass Sie hier eine neue Kneipe aufgemacht haben, laut Steuerbescheid, aber kein Vermögen besitzen. Banks hat sich darauf spezialisiert, Leuten wie Ihnen Geld zu leihen.«
»Leuten wie mir?«
»Die bei keiner Bank Geld kriegen würden. Was er macht, ist gegen das Gesetz, das wissen Sie? Wucherzinsen sind laut Strafgesetzbuch verboten. Sie können ihn anzeigen, dann kommen Sie da raus. Lassen Sie mich Ihnen helfen.«
Mehmet starrte den Polizisten mit den blauen Augen an. Dann nickte er. »Sie haben recht, Harry …«
»Gut.«
»… das geht Sie nichts an. Hört sich an, als würde Ihr Kollege bereits warten.«
Er schloss die Tür des Krankenzimmers hinter sich. Die Jalousien waren heruntergelassen worden, und nur wenig Licht drang in den Raum. Er legte den Blumenstrauß auf das Nachtschränkchen, das am Kopfende des Bettes stand. Sah auf die schlafende Frau. Sie sah einsam aus.
Er zog die Gardinen vor. Setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett, zog eine Spritze aus der Jackentasche und entfernte die Schutzkappe. Nahm ihren Arm. Betrachtete die Haut. Echte Haut. Er liebte echte Haut. Am liebsten hätte er sie geküsst, wusste aber, dass er sich beherrschen und an den Plan halten musste. Der Plan. Dann stach er ihr die Nadel der Spritze in den Arm. Spürte, wie sie widerstandslos in die Haut eindrang.
»So«, flüsterte er leise. »Jetzt nehme ich dich ihm weg. Jetzt gehörst du mir. Nur mir.«
Er drückte den Kolben durch und sah, wie der dunkle Inhalt in ihrem Arm verschwand. Sie mit Schwärze erfüllte. Und Schlaf.
»Präsidium?«, fragte Wyller.
Harry sah auf die Uhr. Zwei. In einer Stunde hatte er sich mit Oleg am Krankenhaus verabredet.
»Ullevål-Krankenhaus«, sagte er.
»Fühlst du dich schlecht?«
»Nein.«
Wyller wartete, dann legte er den Gang ein und fuhr los.
Harry sah aus dem Fenster und fragte sich, warum er niemandem etwas gesagt hatte. Katrine musste er einweihen, schon aus rein praktischen Gründen. Und darüber hinaus? Nein, warum?
»Ich habe gestern Father John Misty heruntergeladen«, sagte Wyller.
»Warum?«
»Weil du mir das empfohlen hast.«
»Habe ich? Dann muss es gut sein.«
Sie schwiegen, bis sie auf dem Ullevålsveien waren und hinter der Sankt-Olav-Domkirche in Richtung Nordahl Bruns gate im Verkehr steckenblieben.
»Halt mal da vorn an der Bushaltestelle«, sagte Harry. »Da ist jemand, den ich kenne.«
Wyller bremste und fuhr in die Haltebucht. Vor dem Wartehäuschen stand eine Gruppe Jugendlicher, wahrscheinlich war gerade Schulschluss. Die Kathedralschule, ja, auf die ging sie. Sie stand etwas abseits der laut redenden Gruppe, die Haare im Gesicht. Ohne eigentlichen Plan, was er sagen sollte, ließ Harry das Fenster herunter.
»Aurora!«
Ein Zucken ging durch den Körper des langbeinigen Mädchens, und wie eine verschreckte Antilope rannte es los. Harry blieb perplex sitzen und sah ihr im Seitenspiegel nach, während sie in Richtung Domkirche über den Ullevålsveien verschwand.
»Hast du immer diese Wirkung auf junge Mädchen?«, fragte Wyller.
Sie rennt gegen die Fahrtrichtung des Autos, dachte Harry, und das ohne nachzudenken. Sie muss sich vorher schon Gedanken darüber gemacht haben. Wenn du vor jemandem in einem Auto weglaufen musst, immer gegen die Fahrtrichtung. Warum oder was das zu bedeuten hatte, wusste er nicht. Vielleicht bloß irgendeine Teenagerangst. Oder eine Phase, wie Ståle es genannt hatte.
Etwas weiter den Ullevålsveien entlang wurde der Verkehr wieder flüssiger.
»Ich warte im Auto«, sagte Anders, als sie auf dem Krankenhausgelände vor dem Eingang von Gebäude 3 hielten.
»Das kann aber eine Weile dauern«, sagte Harry. »Willst du nicht lieber in den Warteraum gehen?«
Er schüttelte den Kopf. »Keine guten Krankenhauserinnerungen.«
»Hm. Deine Mutter?«
»Wie bist du draufgekommen?«
Harry zuckte mit den Schultern. »Es musste jemand sein, der dir sehr nahestand. Ich habe meine Mutter auch in einem Krankenhaus verloren, als ich klein war.«
»War das bei dir auch die Schuld des Arztes?«
Harry schüttelte den Kopf. »Nein, ihr war nicht mehr zu helfen. Deshalb habe ich mir die Schuld gegeben.«
Wyller verzog den Mund zu einem traurigen Lächeln. »Bei meiner Mutter war es einer dieser selbsternannten Götter in Weiß. Deshalb setze ich da keinen Fuß mehr rein.«
Auf dem Weg ins Krankenhaus bemerkte Harry einen Mann, der ihm mit einem Blumenstrauß vor dem Gesicht entgegenkam. Seltsam, dachte Harry, eigentlich geht man mit Blumen doch eher ins Krankenhaus hinein.
Oleg wartete auf einer der Sitzgruppen der Station. Sie umarmten sich im Beisein von Patienten und Besuchern um sie herum, die Gespräche führten oder irgendwelche alten Magazine durchblätterten. Oleg fehlten nur noch ein paar Zentimeter, dann war er so groß wie Harry, der immer wieder vergaß, dass der Junge inzwischen ein ausgewachsener Mann war und er ihre Wette längst gewonnen hatte.
»Haben sie noch was gesagt?«, fragte Oleg. »Was es ist oder ob diese Scheiße gefährlich ist?«
»Nein«, sagte Harry. »Nein, aber mach dir keine Sorgen. Sie wissen schon, was sie tun. Sie ist ganz bewusst in ein künstliches Koma versetzt worden. Die haben alles unter Kontrolle. Okay?«
Oleg öffnete den Mund. Schloss ihn wieder und nickte. Und Harry sah es. Oleg hatte längst verstanden, dass Harry ihn schonen wollte und nicht die Wahrheit gesagt hatte. Und er hatte es zugelassen.
Ein Pfleger kam und sagte, dass sie jetzt zu ihr reingehen dürften.
Harry ging vor.
Die Jalousien waren heruntergelassen.
Er trat ans Bett. Sah ihr blasses Gesicht. Sie sah aus, als wäre sie weit weg.
Viel zu weit weg.
»A…atmet sie?«
Es war Oleg. Er war dicht hinter Harry getreten, wie er es immer als Kind getan hatte, wenn ihnen einer der großen Hunde oben am Holmenkollen entgegengekommen war.
»Ja«, sagte Harry und nickte in Richtung der blinkenden Maschinen.
Sie setzten sich rechts und links neben ihr Bett. Und starrten, wann immer sie meinten, dass der andere es nicht sah, auf die grüne, immer wieder ausschlagende Linie auf dem Monitor.
Katrine ließ den Blick über die unzähligen Hände schweifen.
Die Pressekonferenz dauerte jetzt schon knappe fünfzehn Minuten, und die Ungeduld im Saal war deutlich spürbar. Katrine fragte sich, ob es die Anwesenden am meisten aufbrachte, dass die Polizei keine Neuigkeiten über die Jagd nach Valentin Gjertsen hatte oder dass es keine Neuigkeiten von Valentin Gjertsens Jagd nach neuen Opfern gab. Seit seiner letzten Tat waren sechsundvierzig Stunden vergangen.
»Ich fürchte, ich kann Ihnen auf diese Frage nur wieder dieselbe Antwort geben«, sagte sie. »Wenn es keine anderen Fragen gibt …«
»Wie reagieren Sie darauf, dass Sie es jetzt mit drei und nicht mehr mit zwei Morden zu tun haben?«
Die Frage war von einem Journalisten ganz hinten im Saal gekommen.
Katrine konnte sehen, wie sich Unruhe unter den Anwesenden breitmachte. Sie schaute zu Bjørn Holm, der in der ersten Reihe saß, erntete aber nur ein Schulterzucken, schließlich beugte sie sich zum Mikrofon vor.
»Es ist möglich, dass einige von Ihnen Informationen haben, von denen wir noch keine Kenntnis besitzen, darauf muss ich also zu einem späteren Zeitpunkt zurückkommen.«
Eine andere Stimme: »Wir haben eine Nachricht aus dem Krankenhaus erhalten, Penelope Rasch ist tot.«
Katrine hoffte, dass ihr Gesicht nicht zur Gänze die Verwirrung zeigte, die sie fühlte. Penelope Rasch war doch außer Lebensgefahr gewesen.
»Wenn das so ist, beenden wir die Pressekonferenz jetzt und kommen darauf zurück, wenn wir mehr wissen.« Katrine packte ihre Papiere zusammen, verließ rasch das Podium und verschwand durch die Seitentür. »Wenn wir mehr wissen als ihr«, schimpfte sie leise vor sich hin.
Wütend stampfte sie über den Korridor. Was zum Henker war passiert? War während der Behandlung etwas schiefgelaufen? Sie konnte nur hoffen, dass es eine medizinische Erklärung gab, unvorhergesehene Komplikationen, eine plötzliche Verschlechterung oder einen Kunstfehler. An die Alternative, dass Valentin sein Versprechen gehalten und zurückgekommen war, wollte sie einfach nicht denken. Die Zimmernummer von Penelope war geheim, nur ihre nächsten Angehörigen hatten die bekommen.
Bjørn schloss zu ihr auf. »Ich habe gerade mit dem Krankenhaus gesprochen. Sie sagen, es handele sich um eine Vergiftung, die sie bisher noch nicht bemerkt hätten, gegen die sie aber wohl auch nichts hätten tun können.«
»Vergiftung? Von dem Biss, oder ist das im Krankenhaus passiert?«
»Das ist noch unklar, morgen wissen sie mehr.«
Was für ein verfluchtes Chaos. Katrine hasste Chaos. Und wo war Harry? Verdammte Scheiße!
»Vorsichtig, sonst trittst du noch ein Loch in den Boden«, sagte Bjørn leise.
Harry hatte Oleg gesagt, dass die Ärzte noch nichts wussten. Dass sie keine Ahnung hatten, wie es weitergehen würde. Danach hatten sie über praktische Dinge gesprochen, die jetzt zu regeln waren, auch wenn das nicht viel war. Und sie hatten geschwiegen, lange wortlos beieinandergesessen.
Harry sah auf die Uhr. Sieben.
»Du solltest nach Hause gehen«, sagte er. »Iss was und geh schlafen. Du musst ja morgen in die Schule.«
»Nur wenn ich weiß, dass du hier bist«, sagte Oleg. »Wir dürfen sie nicht allein lassen.«
»Ich bleibe hier, bis ich rausgeschmissen werde, was bald der Fall sein wird.«
»Aber bis dahin bleibst du? Und gehst nicht arbeiten?«
»Arbeiten?«
»Du bleibst hier und kümmerst dich nicht … um den Fall?«
»Natürlich nicht.«
»Ich weiß, wie du bist, wenn du an einem Mordfall sitzt.«
»Weißt du das?«
»An ein bisschen was kann ich mich erinnern. Und Mama hat mir auch das eine oder andere erzählt.«
Harry seufzte. »Ich bleibe hier. Ich verspreche es. Ehrenwort. Die Welt dreht sich auch ohne mich weiter, aber …« Er hielt inne, und die Fortsetzung blieb zwischen ihnen in der Luft hängen … nicht ohne sie.
Harry holte tief Luft. »Wie geht es dir?«
Oleg zuckte mit den Schultern. »Ich habe Angst. Und es tut weh.«
»Ich weiß. Geh jetzt und komm morgen nach der Schule wieder. Ich bin morgens hier.«
»Harry?«
»Ja?«
»Wird es morgen besser?«
Harry sah ihn an. Der Junge mit den braunen Augen und den schwarzen Haaren hatte nicht einen Tropfen Blut von ihm im Körper, trotzdem hatte er das Gefühl, in einen Spiegel zu blicken. »Was glaubst du?«
Oleg schüttelte den Kopf, und Harry sah, dass er mit den Tränen kämpfte.
»Tja«, sagte Harry. »Ich habe so wie du am Bett meiner Mutter gesessen, als sie krank war. Stunde um Stunde, Tag um Tag. Ich war damals noch ein kleiner Junge, aber das Ganze hat mich innerlich aufgefressen.«
Oleg wischte sich die Augen mit dem Handrücken ab und schniefte. »Würdest du dir wünschen, es nicht getan zu haben?«
Harry schüttelte den Kopf. »Nein, das ist ja das Komische. Wir haben nicht mehr viel geredet, sie war zu schwach. Lag einfach da, ein blasses Lächeln auf den Lippen, und verschwand immer mehr, wie die Farben auf einem Bild, das in der Sonne liegt. Es ist meine schlimmste, aber auch meine beste Erinnerung aus der Kindheit. Verstehst du das?«
Oleg nickte langsam. »Ich glaube schon.«
Sie nahmen sich zum Abschied in den Arm.
»Papa …«, flüsterte Oleg, und Harry spürte eine warme Träne an seinem Hals.
Er selbst konnte nicht weinen. Wollte nicht weinen. Fünfundvierzig Prozent, fünfundvierzig gute Prozent.
»Ich bin hier, mein Junge«, sagte Harry. Ruhige Stimme. Bedrücktes Herz. Er fühlte sich stark. Er konnte das schaffen.