Kapitel 12
Samstag, später Abend
Metall schlug hart gegen Metall, als die Stange der Langhantel über der schmalen Bank auf dem Stativ aufsetzte. Für manche Leute war das Lärm, für Mona Daa klang es wie ein Glockenspiel. Das niemanden störte, sie war allein im Studio. Seit einem halben Jahr hatte das Gain rund um die Uhr geöffnet, angeblich inspiriert von Studios in Los Angeles und New York. Bis jetzt hatte Mona aber nach Mitternacht noch nie jemanden gesehen. Die Norweger arbeiteten nicht so lange, dass sie tagsüber keine Trainingszeit fanden. Mona Daa war eine Ausnahme. Sie wollte eine Ausnahme sein. Ein Mutant. Wie in der Evolution, die Ausnahmen brachten die Welt weiter. Perfektionierten sie.
Das Telefon klingelte, und sie erhob sich von der Bank.
Es war Nora. Mona drückte sich den Ohrhörer ins Ohr und nahm das Gespräch an.
»Du trainierst wieder, du Bitch«, stöhnte die Freundin.
»Nur ein bisschen.«
»Das ist eine Lüge, ich sehe doch, dass du schon seit zwei Stunden da bist.«
Mona, Nora und einige der anderen Freundinnen aus dem Studium folgten einander über das GPS ihrer Handys. Sie hatten einen Tracking-Dienst aktiviert, der die Telefone der anderen orten konnte. Sie fühlten sich dadurch sicherer und sozial enger verknüpft. Nur für Mona hatte das manchmal auch etwas Bedrückendes. Eine professionelle Schwesternschaft war gut, aber trotzdem brauchte man ja nicht so aneinanderzukleben wie mit vierzehn, als man sogar zusammen aufs Klo ging. Es war an der Zeit, sich endlich klarzumachen, dass für junge, tüchtige Frauen alle Wege nach oben führen konnten, wenn sie nur mutig und wirklich ehrgeizig waren. Nur darum ging es, und nicht darum, ob sie bei den anderen wohlgelitten war.
»Ich hasse dich ein bisschen, wenn ich daran denke, wie viel Kalorien du jetzt wieder verbrennst«, sagte Nora. »Während ich hier auf meinem fetten Arsch sitze und mich mit noch einer Piña Colada tröste. Hör mal …«
Als langgezogenes Schlürfen durch einen Strohhalm ihr fast das Trommelfell zerriss, hätte Mona sich am liebsten den Ohrhörer herausgerissen. Für Nora war Piña Colada das einzige Gegengift gegen frühe Herbstdepression.
»Gibt es etwas Wichtiges, Nora? Ich bin mitten in …«
»Ja«, sagte Nora. »Arbeit.«
Nora und Mona hatten beide die Journalistenhochschule besucht. Die Aufnahmebedingungen waren damals härter gewesen als für jedes andere Studium des Landes. Irgendwie hatte man gedacht, dass es der Traum eines jeden klugen Mädchens oder Jungen sei, eine eigene Kommentarspalte in einer Zeitung zu bekommen oder mal im Fernsehen sprechen zu dürfen. Auf jeden Fall waren das Monas und Noras Ziele gewesen. Sollten sich doch andere, weniger Schlaue, mit der Krebsforschung oder der Führung des Landes auseinandersetzen. In den letzten Jahren war die Popularität der staatlichen Journalistenhochschule gesunken, da zahlreiche lokale Hochschulen – gefördert mit staatlichen Subventionen – gefragtere Studien im Bereich Journalistik, Film, Musik und Beauty anboten, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, welche Fachkompetenzen in der Gesellschaft wirklich gefragt und nötig waren. Das fehlende Wissen importierte das reichste Land der Erde dann lieber aus härter arbeitenden Nationen, während die ebenso sorg- wie arbeitslosen Jungen und Mädchen, die Filmwissenschaften studiert hatten, zu Hause saßen, ihren Strohhalm tief in den staatlichen Milchshake steckten und ausländische Filme sahen – und vielleicht sogar kritisierten. Ein anderer Grund für die sinkende Popularität der staatlichen Journalistenschule war natürlich auch, dass die Jugend die Blogs entdeckt und erkannt hatte, dass man nicht für gute Noten kämpfen musste, um sich die gleiche Aufmerksamkeit zu sichern, wie man sie durch Zeitungen und Fernsehen bekam. Mona hatte einen Artikel darüber geschrieben, dass die Medien keine fachlichen Anforderungen mehr an ihre Journalisten stellten und dies auch nicht mehr nötig war, weil die neue Medienlandschaft mit ihrer immer stärkeren Ausrichtung auf Promis die Rolle der Journalisten auf die von Waschweibern reduzierte. Mona hatte ihre eigene Zeitung, die größte Zeitung des Landes, als Beispiel angeführt. Der Artikel war nie gedruckt worden. »Weil er zu lang ist«, hatte der Redakteur der Gesellschaftsseite gesagt und sie an den Magazinredakteur verwiesen. »Weil Kritik nun einmal das ist, was die sogenannte kritische Presse am wenigsten mag«, hatte ihr ein wohlgesinnter Kollege erklärt. Mona hatte das Gefühl, dass die Aussage des Magazinredakteurs den Nagel auf den Kopf traf: »Aber, Mona, in dem ganzen Artikel kommt ja nicht eine bekannte Person zu Wort.«
Mona trat ans Fenster und ließ den Blick über den Frognerpark schweifen. Es waren Wolken aufgezogen. Zwar waren die Wege hell erleuchtet, aber abgesehen davon lag eine beinahe stoffliche Dunkelheit über dem Park. Es war wie in jedem Herbst, bevor das Laub von den Bäumen fiel und alles durchscheinender und die Stadt wieder kalt und hart wurde. Von Ende August bis Ende September war Oslo wie ein weiches, warmes Kuscheltier, das einfach nur festgehalten werden wollte.
»Ich bin ganz Ohr, Nora.«
»Es geht um den Vampiristen.«
»Du hast den Auftrag bekommen, ihn dir als Gast zu holen. Glaubst du, er mag Talkshows?«
»Zum letzten Mal, die Sendung ist ein Talkmagazin, Mona. Ich habe Harry Hole angerufen, aber er hat abgelehnt und gesagt, dass Katrine Bratt die Ermittlungen leitet.«
»Und die ist nicht hübsch? Du beschwerst dich doch immer, wie schwierig es ist, an gute weibliche Gäste zu kommen.«
»Ja, aber Hole ist als Ermittler fast ein Promi. Erinnerst du dich noch an die letzte Sendung, in der er war? Da war er komplett besoffen! Natürlich war das ein Skandal, aber die Leute haben es geliebt!«
»Hast du ihm das gesagt?«
»Nein, aber ich habe ihm gesagt, dass das Fernsehen auf bekannte Gesichter angewiesen ist und wir nur so der Arbeit der Polizei in dieser Stadt mehr Aufmerksamkeit schenken können.«
»Schlau. Aber hat er dir das abgekauft?«
»Er hat gesagt, dass er noch morgen damit beginnen würde, an seinem Slowfox zu arbeiten, sollte ich ihn stellvertretend für die Polizei zu Let’s Dance einladen. Dass es sich bei dieser Sache aber um eine höchst schwierige Mordermittlung handele und nur Katrine Bratt den Durchblick habe und bevollmächtigt sei, sich öffentlich zu äußern.«
Mona lachte.
»Was?«
»Ach, ich stelle mir nur Harry Hole bei Let’s Dance vor.«
»Meinst du etwa, der hat das ernst gemeint?«
Mona lachte noch lauter.
»Du kennst dich doch in der Szene aus. Was hältst du von dieser Katrine Bratt?«
Mona nahm zwei leichte Hanteln vom Stativ und machte ein paar schnelle Curls, um den Kreislauf in Gang zu halten und die Schlacke aus den Muskeln zu kriegen. »Bratt ist klug. Und sie kann sich gut ausdrücken. Ein bisschen streng vielleicht.«
»Aber glaubst du, dass sie auf dem Bildschirm rüberkommt und die Leute erreicht? In den Aufzeichnungen von der Pressekonferenz wirkt sie ein bisschen …«
»Grau? Ja, aber sie kann verdammt gut aussehen, wenn sie will. Ein paar der Jungs aus der Redaktion meinen, sie wäre der heißeste Feger im ganzen Präsidium. Aber sie hängt das nicht an die große Glocke und mag’s lieber professionell.«
»Ich merke, dass ich sie schon jetzt hasse. Und was ist mit Hallstein Smith?«
»Da hast du vielleicht auf die lange Bank einen Stammgast. Exzentrisch, intelligent und redegewandt. Den kannst du wirklich einladen.«
»Gut, danke. Sisters are doing it for themselves, okay?«
»Sind wir damit nicht langsam durch?«
»War doch nur ironisch gemeint.«
»Ach ja. Ha-ha.«
»Und du?«
»Ja?«
»Er ist noch immer da draußen.«
»Das ist mir klar.«
»Ich meine das so, wie ich es sage. Es ist nicht so weit von Hovseter bis zum Frognerpark.«
»Von was redest du?«
»Oje, hast du das noch gar nicht mitbekommen? Er hat wieder zugeschlagen.«
»Verdammt!«, schrie Mona und sah aus den Augenwinkeln, wie der junge Mann an der Rezeption den Blick hob. »Diese scheiß Chefin vom Dienst! Ich hatte ihr gesagt, dass sie mich anrufen soll! Jetzt hat sie das jemand anders gegeben. Mach’s gut, Nora.«
Mona ging zur ihrem Spind, stopfte ihre Straßenkleider in die Tasche, rannte über die Treppe nach unten und raus auf die Straße. Auf dem Weg zum VG-Haus hielt sie nach einem Taxi Ausschau und fand an einer roten Ampel eins. Sie ließ sich auf den Rücksitz fallen, nahm ihr Handy und rief Truls Berntsen an. Nach nur zwei Klingeltönen hörte sie ein seltsam grunzendes Lachen.
»Was?«, fragte sie.
»Ich habe mich schon gefragt, wie lange Sie brauchen«, sagte Truls Berntsen.