Kapitel 30

Mittwochnacht

Eine Stunde vor Mitternacht war das Olsens voller Mittvierziger. Aus den Lautsprechern dröhnte Gerry Rafferty über die verschwitzten Glatzen.

»Echter Achtziger-Sound!«, rief Liz. »Prost!«

»Ich glaube, das ist noch aus den Siebzigern«, sagte Ulla.

»Mag ja sein, aber nach Manglerud ist das erst in den Achtzigern ­gekommen.«

Sie lachten. Ulla registrierte, dass Liz über einen Mann den Kopf schüttelte, der mit fragendem Blick an ihrem Tisch vorbeiging.

»Das ist schon das zweite Mal in dieser Woche, dass ich hier bin«, sagte Ulla.

»Aha? Und war es beim letzten Mal auch so lustig?«

Ulla schüttelte den Kopf. »Nichts ist lustiger, als mit dir auszugehen. Die Zeiten ändern sich, aber du bist immer noch die Alte.«

»Ja«, sagte Liz, legte den Kopf schief und musterte ihre Freundin. »Du nicht.«

»Echt? Habe ich abgenommen?«

»Nein, und eigentlich ist das ein bisschen irritierend. Aber du lächelst nicht mehr.«

»Ich lächle nicht mehr?«

»Du lächelst, aber nicht wirklich. Nicht wie Ulla aus Manglerud.«

Ulla schüttelte langsam den Kopf. »Wir sind umgezogen.«

»Ja klar, du hast jetzt Mann und Kinder und ein eigenes Haus. Aber das ist ein schlechter Tausch für ein Lächeln, Ulla. Was ist passiert?«

»Tja, was ist passiert?« Sie lächelte Liz an und trank einen Schluck. Sah sich um. Das Durchschnittsalter war etwa das ihre, aber sie sah keine bekannten Gesichter. Manglerud war gewachsen, es waren neue Leute zugezogen, andere verschwunden, und einige waren sicher auch gestorben oder hockten nur noch zu Hause. Tot und verschwunden.

»Soll ich’s sagen, oder wäre das unverschämt?«, fragte Liz.

»Nur zu.«

Rafferty war mit seinem Text am Ende, und Liz musste schreien, um das nachfolgende Saxophon zu übertönen. »Mikael Bellman aus Manglerud hat dir dein Lächeln genommen.«

»Das ist schon ziemlich unverschämt, Liz.«

»Ja, aber es stimmt, oder?«

Ulla hob ihr Weinglas an. »Ja, das stimmt wohl.«

»Ist er untreu?«

»Liz!«

»Das ist doch wohl kein Geheimnis …«

»Was ist kein Geheimnis?«

»Dass Mikael ein Schürzenjäger ist. Komm schon, Ulla. So naiv bist du nicht!«

Ulla seufzte. »Vielleicht nicht. Aber was soll ich machen?«

»Das Gleiche wie ich«, sagte Liz, nahm die Weißweinflasche aus dem Kühler und schenkte ihnen beiden nach. »Zahl es ihm mit gleicher Münze heim. Prost!«

Ulla spürte, dass sie langsam genug hatte und besser Wasser trinken sollte. »Ich habe es versucht, aber ich kann das nicht.«

»Dann versuch es noch einmal!«

»Und wofür soll das gut sein?«

»Das verstehst du erst, wenn du es getan hast. Nichts ist heil­samer für ein kaputtes Liebesleben zu Hause als ein extrem schlechter One-Night-Stand.«

Ulla lachte. »Es ist nicht der Sex, Liz.«

»Was dann?«

»Ich bin … ich bin … eifersüchtig.«

»Ulla Swart eifersüchtig? Es ist nicht möglich, so schön und ­eifersüchtig zu sein!«

»Doch, ich bin verdammt eifersüchtig«, protestierte Ulla. »Und das tut so verflucht weh! Ich will ihm das heimzahlen.«

»Und das musst du auch, Schwester! Fick ihn da, wo’s ihm weh tut … ich meine …« Sie prusteten vor Lachen den Wein durch die Gegend.

»Liz, du bist ja betrunken.«

»Betrunken und glücklich, Frau Polizeipräsidentin. Während du betrunken und unglücklich bist. Ruf ihn an!«

»Mikael anrufen? Jetzt?«

»Nicht Mikael, du Dummerchen! Den Glücklichen, der dich verführen darf.«

»Was? Nein, Liz!«

»Doch, ruf ihn an! Jetzt!« Liz zeigte auf die Telefonkabine hinten an der Wand. »Ruf ihn von da an, damit er alles hört! Ja, der Ort wäre genau passend.«

»Passend?«, fragte Ulla lachend und sah auf ihre Uhr. Sie musste bald gehen. »Warum?«

»Warum? Mein Gott, Ulla! Weil dein Mikael da drin damals diese Stine Mikaelsen gevögelt hat.«

»Was ist das?«, fragte Harry. Der Raum um ihn herum schwamm.

»Kamillentee!«, sagte Katrine.

»Die Musik«, brummte Harry in einem geborgten, kratzenden Wollpulli. Seine eigene Kleidung hing zum Trocknen im Bad, und noch durch die geschlossene Tür roch er den süßlichen ­Alkohol. Der Geruchssinn funktionierte also, warum wollten seine Augen dann nicht?

»Beach House. Hast du die noch nie gehört?«

»Weiß nicht«, sagte Harry. »Und genau das ist das Problem. Ich beginne Sachen zu vergessen.« Unter sich spürte er den ­groben Stoff der Tagesdecke, die über dem fast zwei Meter ­breiten, niedrigen Bett lag, das neben dem Schreibtisch, einem Stuhl und dem guten alten Hifi-Regal mit der einzelnen Kerze das einzige Möbelstück in der Wohnung war. Harry nahm an, dass sowohl der Pullover als auch die Anlage Bjørn Holm gehörten. Die Musik schien sich irgendwie durch den Raum zu bewegen. Harry hatte das schon einige wenige Male erlebt, wenn er an einer Alkoholvergiftung vorbeigeschrappt und wieder auf dem Weg an die Oberfläche war. Dass es Momente gab, in denen er sich fühlte wie frisch betrunken – das gute Gefühl –, und dass er auf dem Weg nach oben an all den Orten vorbeikam, die er auf dem Weg nach unten schon einmal besucht hatte.

»Das ist wohl so«, sagte Katrine. »Am Anfang haben wir alles, und dann verlieren wir, Stück für Stück. Stärke. Jugend. Zukunft. Die Menschen, die wir lieben …«

Harry versuchte sich zu erinnern, um was Bjørn ihn gebeten hatte, kriegte es aber nicht hin. Rakel. Oleg. Und als er die Tränen kommen spürte, wurden diese von einer unbändigen Wut verdrängt. Verdammt, natürlich verlieren wir all die, die wir festzuhalten versuchen. Das Schicksal verachtet uns, macht uns klein und jämmerlich. Wenn wir über die weinen, die wir ver­lieren, tun wir das nicht aus Mitgefühl, denn schließlich wissen wir, dass sie so endlich all ihre Schmerzen los sind. Wir weinen aus Selbstmitleid.

»Wo bist du, Harry?«

Er spürte ihre Hand auf seiner Stirn, als eine Windböe plötzlich gegen ein Fenster krachte. Draußen auf der Straße gab es ­einen Knall, irgendetwas war umgekippt. Er kam.

»Ich bin hier«, sagte er.

Der Raum schwamm. Er spürte nicht nur die Wärme ihrer Hand, sondern ihren ganzen Körper, der dicht neben ihm lag.

»Ich will als Erster sterben«, sagte er.

»Was?«

»Ich will sie nicht verlieren. Sie sollen mich verlieren. Sollen das einmal zu spüren bekommen.«

Ihr Lachen war weich und warm. »Du klaust mir meine Sätze, Harry.«

»Tue ich das?«

»Als ich in der Klinik war …«

»Ja?« Harry schloss die Augen, als ihre Hand sich unter seinen Nacken schob und ihre Finger dumpfe Stöße in sein Hirn schickten.

»Sie haben die Diagnose ständig geändert. Manisch-depressiv, Borderline, bipolar. Aber ein Wort stand in allen Berichten. Suizidal.«

»Hm.«

»Aber das geht vorbei.«

»Ja«, sagte Harry. »Und kommt wieder. Nicht wahr?«

Sie lachte. »Nichts ist für immer, das Leben ist per Definition vorübergehend und in ständiger Veränderung. Das macht es so schmerzhaft, aber auch so lebendig.«

»This too shall pass.«

»Wollen wir es hoffen. Weißt du was, Harry? Du und ich, wir sind uns ziemlich ähnlich. Wir sind für die Einsamkeit geschaffen. Sie zieht uns magisch an.«

»Weil wir uns von denen trennen, die wir lieben, meinst du?«

»Tun wir das?«

»Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich, wenn ich mich auf dieses hauchdünne Eis namens Glück begebe, eine solche Angst kriege, dass ich mir fast wünsche, es wäre alles schon vorbei und ich läge im Wasser.«

»Und deshalb fliehen wir vor denen, die wir lieben«, sagte Ka­trine. »Flüchten uns in Alkohol. Arbeit. Zufälligen Sex.«

Etwas, wozu wir zu gebrauchen sind, dachte Harry. Während sie verbluten.

»Wir können sie nicht retten«, sagte sie als Antwort auf seine Gedanken. »Und sie können uns nicht retten. Das können nur wir selbst.«

Harry spürte, wie die Matratze nachgab, und wusste, dass sie sich in seine Richtung gedreht hatte. Ihr warmer Atem strich über seine Wange.

»Du hattest sie in deinem Leben, Harry. Die große Liebe. Ihr beide hattet das. Und ich weiß nicht, auf wen von euch beiden ich eifersüchtiger war.«

Was war es nur, das ihn so empfindsam machte? Hatte er irgendwas genommen? Acid oder Ecstasy? Und wo hatte er das dann herbekommen? Er hatte keine Ahnung, der letzte Tag war ein einziges schwarzes Loch.

»Es heißt, man soll nicht im Voraus trauern«, sagte sie. »Aber wenn man weiß, dass vor einem nur noch Trauer liegt, ist die Vorbereitung der einzige Airbag, den man hat. Und die beste Vorbereitung ist es dann ja sicher, so zu leben, als wäre jeder Tag der letzte. Oder?«

Beach House. Er erinnerte sich mit einem Mal an den Song »Wishes«. Das war doch schon etwas. Und er erinnerte sich an Rakels blasses Gesicht auf dem weißen Kopfkissen. Im Licht und gleichsam doch im Dunkel, außer Fokus, nah und weit entfernt. Ein Gesicht, das sich im dunklen Wasser von unten gegen das Eis drückte. Und er erinnerte sich an Valentins Worte: Du bist so wie ich, Harry, du hältst es nicht aus.

»Was würdest du tun, Harry? Wenn du wüsstest, dass du bald sterben musst?«

»Ich weiß es nicht.«

»Würdest du …?«

»Ich weiß es nicht, habe ich gesagt.«

»Was weißt du nicht?«, flüsterte sie.

»Ob ich mit dir schlafen würde.«

In der Stille, die folgte, hörte er ein metallisches Klappern. Der Wind peitschte etwas über die Straße.

»Merkst du«, flüsterte sie. »Wir sterben.«

Harry hörte zu atmen auf. Ja, dachte er. Ich sterbe. Und spürte, dass auch sie zu atmen aufgehört hatte.

Hallstein Smith hörte den Wind in der Dachrinne pfeifen und spürte den Luftzug, der durch die Wand kam. Sie hatten sie so gut es ging isoliert, aber es war und blieb die Wand eines Stalls. Emilia. Er hatte gelesen, dass alle Orkane Mädchennamen bekommen hatten, seit im letzten Krieg ein Roman erschienen war, der von einem Sturm namens Maria handelte. Dass das in den Siebzigern dann aber aus Gründen der Gleichberechtigung geändert worden war, so dass diese zerstörerischen Naturkatastrophen nun auch Jungennamen trugen. Er starrte auf das lächelnde Gesicht über dem Skype-Symbol auf dem großen Bildschirm. Die Stimme war den Lippenbewegungen etwas voraus. »I think I have what I need, thank you so much for being with us, Mister Smith. At what for you must be very late, no? Here in L. A. it’s nearly three p. m., and in Sweden?«

»Norway. Almost midnight.« Hallstein Smith lächelte. »No problem, I’m only glad the press finally realized vampirism is for real and are seeking information about it.«

Sie beendeten das Gespräch, und Smith öffnete noch einmal seinen Mail-Posteingang.

Dreizehn E-Mails waren noch ungelesen, aus dem Betreff und dem Absender ging aber hervor, dass es sich um Anfragen für Interviews oder Vorträge handelte. Auch die E-Mail von Psychology Today hatte er noch nicht geöffnet. Weil er wusste, dass es nicht eilte. Er wollte sich das noch ein wenig aufsparen. Die Vorfreude genießen.

Er sah auf die Uhr. Die Kinder hatte er um halb neun ins Bett gebracht und dann noch wie gewöhnlich einen Tee getrunken. Sie hatten in der Küche gesessen, den Tag Revue passieren lassen und Freud und Leid miteinander geteilt. In den letzten Tagen hatte er ihr natürlich mehr zu erzählen gehabt als umgekehrt, er hatte aber darauf geachtet, dass auch die kleinen, dafür aber nicht weniger wichtigen Dinge des Hauses so viel Platz bekamen wie seine. Denn es stimmte, was er sagte: »Ich rede zu viel, und über diesen elenden Vampiristen liest du ja schon genug in der Zeitung.« Er sah aus dem Fenster, erahnte, wo das Wohnhaus stand, in dem jetzt alle schliefen, die er liebte. Die Wand knackte. Der Mond verschwand immer wieder hinter den dicken, dunklen Wolken, die schneller und schneller über den Himmel zogen. Die kahlen Zweige der toten Eiche draußen auf dem Acker schlugen hin und her, als wollten sie ihn warnen, dass Zerstörung und noch mehr Tod im Anmarsch waren.

Er öffnete eine E-Mail mit der Einladung, auf einem Psychologie-Kongress in Lyon eine Keynote zu halten. Derselbe Kongress hatte noch im Jahr davor seinen Antrag auf Redezeit abgelehnt. In Gedanken formulierte er eine Antwort. Er wollte sich bedanken, zum Ausdruck bringen, welche Ehre die Einladung für ihn sei, dann jedoch mit der Begründung ablehnen, dass er wichtigeren Kongressen Priorität geben und dieses Mal leider absagen müsse. Sie könnten aber gerne zu einer anderen Gelegenheit noch einmal anfragen. Er amüsierte sich, schüttelte dann aber über sich selbst den Kopf. Es gab keinen Grund, hochmütig zu werden, das plötzliche Interesse an Vampirismus würde schwinden, sobald die Angriffe aufhörten. Er nahm die Einladung an, wohl wissend, dass er höhere Forderungen stellen konnte, was die Reise, die Unterbringung und das Honorar anging, brachte es jedoch nicht übers Herz. Er hatte, was er brauchte, und wollte nur, dass sie ihm zuhörten und ihn auf der Reise durch das Labyrinth der menschlichen Psyche begleiteten. Und dass sie seine Arbeit anerkannten und verstanden und gemeinsam mit ihm dafür sorgten, dass das Leben der Menschen besser wurde. Mehr nicht. Er sah auf die Uhr. Drei Minuten vor zwölf. Und hörte ein Geräusch. Natürlich konnte das der Wind gewesen sein. Er klickte auf das Icon der Überwachungskameras auf dem Bildschirm. Das erste Bild war von der Kamera über dem Tor zum Grundstück. Es war auf.

Truls räumte auf.

Sie hatte angerufen. Ulla hatte angerufen.

Er stellte das Geschirr in die Spülmaschine und wusch zwei Weingläser ab. Er hatte noch immer die Flasche, die er für den Fall der Fälle gekauft hatte, bevor er ins Olsens gegangen war. Dann faltete er die leeren Pizzakartons zusammen und versuchte, sie in den Mülleimer zu stopfen, aber der Sack darin riss. Ärgerlich verstaute er sie daraufhin hinten im Schrank unter der Spüle. Musik. Was mochte sie? Er versuchte sich zu erinnern, und ein Lied kam ihm in den Sinn. Aber was war das noch mal? Etwas mit einer Barrikade? Duran Duran? Auf jeden Fall etwas, das wie a-ha geklungen hatte. Doch, die erste a-ha-Platte hatte er. Kerzen. Verdammt. Er hatte schon öfter Frauen bei sich zu Hause gehabt, aber da war es nicht so auf die Stimmung angekommen.

Das Olsens war gleich in der Nähe. Auch wenn draußen ein Sturm im Anmarsch war, sollte es kein Problem sein, an einem Mittwochabend ein Taxi zu kriegen. Sie konnte jeden Augenblick da sein, also nicht mehr duschen, sondern einfach Schwanz und Achselhöhlen waschen. Oder Achselhöhlen und dann den Schwanz. In der Reihenfolge. Mann, war er aufgeregt. Er hatte sich auf ­einen ruhigen Abend eingestellt, vielleicht auf eine Begegnung mit Megan Fox, wie sie früher gewesen war, aber dann hatte Ulla angerufen und gefragt, ob sie ihn nicht noch kurz besuchen dürfe. Was sie damit wohl meinte? Würde sie wieder wie beim letzten Mal Reißaus nehmen? T-Shirt. Das aus Thailand mit der Aufschrift »Same same but different«. Aber vielleicht ­verstand sie den Humor ja nicht. Oder sie dachte bei Thailand an irgendwelche Geschlechtskrankheiten. Oder sollte er das Armani-Shirt von MBK aus Bangkok anziehen? Nein, in dem synthetischen Stoff würde er nur schwitzen, und damit wäre klar, dass es eine billige Kopie war. Truls zog ein weißes T-Shirt unbekannter Herkunft an und hastete ins Bad. Sah, dass auch das Klo noch geputzt werden musste. Aber erst das Wichtigste …

Truls stand, den Schwanz in der Hand, am Waschbecken, als es zu klingeln begann.

Katrine starrte auf das brummende Telefon.

Es war bald Mitternacht, der Wind hatte in den letzten Minuten noch einmal zugelegt und kam nun in heftigen Böen, es heulte, knackte und schepperte draußen. Harry schlief trotzdem wie ein Stein.

Sie nahm das Gespräch an.

»Hier ist Hallstein Smith.« Er flüsterte aufgeregt.

»Ja, ich habe Ihre Nummer erkannt. Was ist denn los?«

»Er ist hier?«

»Was?«

»Ich glaube, es ist Valentin.«

»Was sagen Sie da?«

»Jemand hat das Tor geöffnet, und ich … mein Gott, ich höre jemanden kommen. Was soll ich machen?«

»Tun Sie nichts … versuchen Sie … können Sie sich verstecken?«

»Nein. Ich sehe über die Kamera jemanden auf dem Weg zum Eingang des Stalls. Mein Gott, er ist es.« Smith hörte sich an, als wäre er den Tränen nahe. »Was mache ich jetzt?«

»Verdammt, lassen Sie mich nachdenken«, stöhnte Katrine.

Jemand nahm ihr das Telefon aus der Hand.

»Smith? Harry hier, ich bin bei dir. Hast du die Tür zu deinem Büro abgeschlossen? Okay, dann tu das jetzt und schalte das Licht aus. Still und ruhig.«

Hallstein Smith starrte auf seinen Bildschirm. »Okay, ich habe abgeschlossen und das Licht ausgemacht.«

»Siehst du ihn?«

»Nein. Doch, jetzt sehe ich ihn.« Hallstein sah einen Mann am Eingang des Stalls. Er trat auf die Waage, taumelte etwas, fand die Balance wieder und ging an den Boxen vorbei direkt auf die Kamera zu. Als er unter einer der Lampen hindurchging, wurde sein Gesicht hell erleuchtet.

»Verdammt, er ist es wirklich, Harry. Es ist Valentin.«

»Immer mit der Ruhe.«

»Aber … das Tor ist sonst abgeschlossen, er muss einen Schlüssel haben, Harry. Vielleicht auch für die Bürotür.«

»Möglich, hast du da drinnen ein Fenster?«

»Ja, aber das ist zu eng und zu weit oben.«

»Etwas Schweres, womit du zuschlagen kannst?«

»Nein, aber … ich habe diese Pistole.«

»Du hast eine Pistole?«

»Ja, hier in der Schublade. Die habe ich aber noch nicht ausprobiert.«

»Atme, Smith. Wie sieht die aus?«

»Äh, schwarz. Im Präsidium haben sie gesagt, das sei irgendeine Glock.«

»Glock 17. Ist das Magazin drin?«

»Ja, und die Waffe soll auch geladen sein. Aber ich sehe keine Sicherung.«

»Ist okay, die ist im Abzug, du musst also nur den Abzug fest drücken, um zu schießen.«

Smith hielt sich den Hörer dicht vor den Mund und flüsterte, so leise er konnte. »Ich höre Schlüssel im Schloss.«

»Wie weit ist es bis zur Tür?«

»Zwei Meter.«

»Du stehst auf und nimmst die Pistole in beide Hände. Denk dran, dass du im Dunkel stehst und er das Licht hinter sich hat. Er sieht dich nicht richtig. Wenn er unbewaffnet ist, rufst du ­›Polizei‹ und ›Auf die Knie‹. Siehst du eine Waffe, schießt du dreimal. Drei Mal, verstanden?«

»Ja.«

Die Tür vor Smith ging auf.

Und da stand er, eine dunkle Silhouette vor dem hellerleuchteten Stall. Hallstein Smith schnappte nach der Luft, die aus dem Raum gesaugt zu werden schien, als der Mann vor ihm die Hand hob. Valentin Gjertsen.

Katrine zuckte zusammen. Obwohl Harry sich den Hörer aufs Ohr presste, war der Knall durch das Telefon zu hören gewesen.

»Smith?«, rief Harry. »Smith, bist du da?«

Keine Antwort.

»Smith!«

»Valentin hat ihn erschossen«, stöhnte Katrine.

»Nein«, sagte Harry.

»Nein? Du hast gesagt, dass er dreimal schießen soll, außerdem antwortet er nicht!«

»Das war eine Glock, keine Ruger.«

»Aber wie …?« Katrine hielt inne, als sie durch das Telefon eine Stimme hörte. Sie sah Harrys hochkonzentriertes Gesicht und versuchte vergeblich zu erkennen, wem er zuhörte. War das Smiths Stimme oder die helle Stimme, die sie von alten Aufnahmen kannte und von der sie Alpträume bekommen hatte? Sagte der andere Harry jetzt, was er als Nächstes vorhatte?

»Okay«, sagte Harry. »Hast du seinen Revolver aufgehoben? Gut, leg ihn in die Schublade und setz dich an eine Stelle, von der aus du ihn gut siehst. Wenn er in der Tür liegt, lass ihn da liegen. Bewegt er sich? Macht er Geräusche? Nein. Nein, keine Erste Hilfe. Wenn er verletzt ist, wartet er vielleicht nur darauf, dass du näher kommst. Und wenn er tot ist, ist es sowieso zu spät. Befindet er sich irgendwo dazwischen, hat er Pech, weil du sitzen bleibst und aufpasst. Hast du das verstanden, Smith? Gut. Wir sind in einer halben Stunde da. Ich rufe aus dem Auto wieder an. Lass ihn nicht aus den Augen. Und ruf deine Frau an und sag ihr, dass sie im Haus bleiben soll und wir auf dem Weg sind.«

Katrine nahm ihm das Telefon ab, sah Harry aus dem Bett rutschen und im Bad verschwinden. Sie glaubte, ihn etwas rufen zu hören, merkte dann aber, dass er sich übergab.

Truls’ Handflächen waren so verschwitzt, dass er die feuchte Wärme durch den Stoff seiner Hose spürte.

Ulla war betrunken. Trotzdem saß sie stocksteif auf dem Rand des Sofas und umklammerte die Bierflasche, die er ihr gegeben hatte, als wollte sie sich damit verteidigen.

»Schon erstaunlich, dass ich das erste Mal bei dir zu Hause bin«, sagte sie etwas nuschelnd. »Und dabei kennen wir uns … wie lange?«

»Seit wir fünfzehn sind«, sagte Truls, der in seinem momentanen Zustand nicht kopfrechnen konnte.

Sie lächelte vor sich hin und nickte, das heißt, ihr Kopf kippte nur nach vorn.

Truls räusperte sich. »Ein ganz schöner Sturm da draußen. Diese Emilia …«

»Truls?«

»Ja.«

»Hast du Lust, mit mir zu schlafen?«

Er schluckte.

Sie kicherte, ohne den Blick zu heben. »Truls, ich hoffe, dein Zögern heißt nicht …«

»Natürlich will ich«, sagte Truls.

»Gut«, sagte sie. »Gut.« Hob den Kopf und sah ihn mit schwimmenden Augen an. »Gut.« Ihr Kopf schien auf dem schlanken Hals nicht richtig festzusitzen. Als wäre er mit etwas Schwerem überladen. Schwermut? Schwere Gedanken. Aber daran durfte er jetzt nicht denken. Dies war seine Chance. Die Eröffnung, von der er geträumt, an die er aber nie zu glauben gewagt hatte: Er durfte mit Ulla Swart schlafen.

»Hast du ein Schlafzimmer, wo wir das machen können?«

Er sah sie an. Nickte. Sie lächelte, sah aber nicht froh aus. Zum Henker damit. Froh kann deine Großmutter aussehen, Ulla Swart war geil, und nur das zählte jetzt. Truls wollte die Hand ausstrecken und ihr über die Wange streicheln, aber sie gehorchte ihm nicht.

»Stimmt was nicht, Truls?«

»Nicht stimmen? Nein, nein, alles in Ordnung.«

»Du siehst so …«

Er wartete. Aber mehr kam nicht.

»So …?«, wiederholte er.

»Verloren aus.« Statt seiner Hand war es ihre, die ihm über die Wange streichelte. »Armer, armer Truls.«

Er hätte ihre Hand um ein Haar weggeschlagen, dabei berührte sie ihn nach so vielen Jahren zum ersten Mal, ohne Verachtung oder Abscheu. Was zum Teufel war nur mit ihm los? Die Frau wollte gefickt werden, einfach und gut, und das würde er doch wohl schaffen, er hatte doch noch nie Probleme damit gehabt, einen hochzubekommen. Er musste sie jetzt nur von diesem Sofa ins Schlafzimmer lotsen, die Klamotten ausziehen und den Pariser holen. Sie sollte schreien, stöhnen, sich unter ihm winden, und er würde erst aufhören, wenn sie …

»Weinst du, Truls?«

Weinen? Wie voll war sie denn? Sah sie Gespenster?

Dann nahm er wahr, wie sie die Hand zurücknahm und sich auf den Mund drückte.

»Das sind echte, salzige Tränen«, sagte sie. »Bist du traurig? Wegen was?«

Jetzt spürte auch Truls, wie etwas Warmes ihm über die Wangen lief. Auch seine Nase begann zu tropfen, und der Kloß in seinem Hals wurde immer größer und drohte ihn zu ersticken.

»Ist das wegen mir?«, fragte sie.

Truls schüttelte den Kopf, außerstande zu reden.

»Wegen … Mikael?«

Die Frage war so idiotisch, dass er fast wütend wurde. Natürlich war das nicht wegen Mikael. Warum sollte er ausgerechnet an Mikael denken? An den Arsch, der eigentlich sein bester Freund sein sollte, seit ihrer Jugend, aber nichts anderes getan hatte, als ihn auszunutzen und bei jeder Gelegenheit bloßzustellen, um sich dann wieder hinter ihm zu verstecken, wenn ihnen Prügel drohten. Und später, als sie beide bei der Polizei waren, hatte er Truls Fucking Beavis genötigt, die Drecksarbeit zu übernehmen. Damit Mikael Bellman die Ziele erreichte, die er er­reichen wollte. Warum sollte Truls hier sitzen und über eine Freundschaft weinen, die nur eine Zweckgemeinschaft zweier Außenseiter war, von denen einer erfolgreich und der andere ein ausgesprochener Verlierer geworden war? Nein, das war wirklich kein Grund. Aber warum begann der Verlierer dann wie ein Kind zu weinen, wenn er endlich die Chance hatte, ein bisschen was aufzuholen und die Frau des anderen zu vögeln? Jetzt sah Truls auch die Tränen in Ullas Augen. Ulla Swart. Truls Berntsen. Mikael Bellman. Es hatte immer nur sie drei gegeben. Der Rest von Manglerud konnte vor die Hunde gehen. Denn sie hatten niemanden sonst, nur sich.

Sie nahm ein Taschentuch aus ihrer Tasche und tupfte sich vorsichtig die Augen ab. »Soll ich gehen?«, schniefte sie.

»Ich …« Truls erkannte seine eigene Stimme kaum wieder. »Ich weiß … ich habe keine Ahnung, Ulla.«

»Ich auch nicht«, lachte sie, sah auf die abgewischte Schminke auf ihrem Taschentuch und legte es zurück in die Tasche. »Vergib mir, Truls. Das war eine schlechte Idee. Ich werde jetzt gehen.«

Er nickte. »Ein andermal«, sagte er. »In einem anderen Leben.«

»Bingo«, sagte sie und stand auf.

Truls blieb im Flur stehen, nachdem die Tür hinter ihr ins Schloss gefallen war, und lauschte dem immer leiser werdenden Echo ihrer Schritte im Treppenhaus. Bis er hörte, dass unten die Tür geöffnet wurde, geschlossen, und sie weg war, ganz weg.

Er fühlte … ja, was fühlte er? Erleichterung. Aber auch eine beinahe unerträgliche Verzweiflung, die sich wie ein physischer Schmerz in seiner Brust und seinem Bauch ausbreitete, so dass er für einen Moment an die Waffe dachte, die er im Schlafzimmerschrank aufbewahrte. Er könnte hier und jetzt Schluss machen. Dann sank er auf die Knie, stützte die Stirn auf die Fußmatte … und begann zu lachen. Ein Schnauben, das nicht mehr aufhören wollte, sondern immer lauter und lauter wurde. Verdammt, war das Leben herrlich!

Hallstein Smiths Herz hämmerte noch immer wie wild.

Er tat, was Harry gesagt hatte, und richtete seinen Blick und die Waffe auf den regungslos auf der Türschwelle liegenden Mann. Er spürte die Übelkeit kommen, als er sah, wie die Blut­lache auf dem Boden sich langsam in seine Richtung ausbreitete. Er durfte sich jetzt nicht übergeben, durfte nicht die Konzentration verlieren. Harry hatte gesagt, dass er dreimal schießen sollte. Sollte er noch zwei Kugeln auf ihn abfeuern? Nein, der Mann war tot.

Mit zitternden Fingern wählte er Mays Nummer. Sie antwortete sofort.

»Hallstein?«

»Ich dachte, du schläfst.«

»Ich sitze mit den Kindern im Bett. Sie können wegen des Sturms nicht schlafen.«

»Ach ja. Du, gleich wird die Polizei hier sein. Mit Blaulicht und vielleicht auch Sirenen, aber ihr müsst keine Angst haben.«

»Angst, wovor?«, fragte sie mit zitternder Stimme. »Was ist passiert, Hallstein? Wir haben einen Knall gehört. War das der Wind oder etwas anderes?«

»May, du musst jetzt ganz ruhig bleiben. Es ist alles in Ordnung.«

»Ich höre doch, dass nicht alles in Ordnung ist. Hallstein! Die Kinder sitzen hier und weinen!«

»Ich … komme rüber und erkläre es euch.«

Katrine steuerte den Wagen über die schmale Straße, die kreuz und quer durch Wald und Felder führte.

Harry legte das Handy in seine Tasche. »Smith ist ins Haus gegangen, um sich um seine Familie zu kümmern.«

»Verständlich«, sagte Katrine.

Harry antwortete nicht.

Der Wind war noch stärker geworden. Im Wald musste sie auf abgebrochene Äste und anderes, das herumlag, aufpassen, und im freien Gelände drohten die Böen sie immer wieder von der Straße zu drücken.

Harrys Telefon klingelte erneut, als sie durch das geöffnete Tor auf Smiths Hof fuhren.

»Wir sind jetzt angekommen«, sagte Harry. »Sperrt das Gelände ab, wenn ihr da seid, aber fasst nichts an, bevor nicht die Spurensicherung da ist.«

Katrine hielt vor den Stallungen und sprang aus dem Wagen.

»Zeig mir den Weg«, sagte Harry und folgte ihr in das Gebäude.

Sie hörte Harry hinter sich fluchen, als sie nach rechts in Richtung Büro eilte.

»Sorry, ich habe vergessen, dir von der Waage zu erzählen«, sagte Katrine.

»Das ist es nicht«, sagte Harry. »Da ist Blut am Boden.«

Katrine blieb vor der offenen Bürotür stehen und starrte auf die Blutlache am Boden. Scheiße. Sie war leer.

»Pass auf Smith auf«, sagte Harry hinter ihr.

»Was …?«

Sie drehte sich um und sah Harry gerade noch nach links aus der Stalltür verschwinden.

Eine Windböe packte Harry, als er die Taschenlampe des Handys einschaltete und damit auf den Boden leuchtete. Dann fand er das Gleichgewicht wieder. Die Blutflecken waren auf dem hellen Kies gut zu erkennen, und das ausfransende Ende der Tropfen verriet ihm, in welche Richtung Valentin geflohen war. Den Wind im Rücken. In Richtung Wohnhaus.

Nicht …

Harry zückte seine Glock. Er hatte sich nicht die Zeit genommen, um zu überprüfen, ob Valentins Revolver noch in der Schublade in Smiths Büro lag, andererseits musste er so oder so davon ausgehen, dass Valentin bewaffnet war.

Mit einem Mal waren die Blutspritzer weg.

Harry schwenkte sein Telefon hin und her und atmete erleichtert auf, als er sah, dass die Spuren vom Weg abzweigten und nicht mehr in Richtung Haus, sondern über das trockene gelbe Gras in Richtung Feld führten. Auch hier war das Blut gut zu erkennen. Der Sturm musste jetzt seine volle Stärke erreicht haben, und Harry spürte die ersten Regentropfen wie Projektile auf seine Haut schlagen. Sollte es richtig zu regnen beginnen, wären die Spuren innerhalb von Sekunden weg.

Valentin schloss die Augen, riss den Mund auf und hielt sein Gesicht in den Wind. Als könnte dieser neues Leben in ihn hauchen. Leben. Warum bekam alles immer erst wirklich einen Sinn, wenn man im Begriff war, es zu verlieren? Sie. Die Freiheit. Und jetzt das Leben, das langsam aus ihm heraussickerte. Er spürte das Blut in seine Schuhe laufen und dort kalt werden. Er hasste Blut. Der andere liebte es. Der, mit dem er den Pakt eingegangen war. Der Blutmann. Wann hatte er kapiert, dass dieser Mann der eigentliche Teufel war? Und dass er, Valentin Gjertsen, ihm seine Seele verkauft und sie verloren hatte? Er hob das Gesicht zum Himmel und lachte. Der Sturm war da. Der Dämon befreit.

Harry lief mit der Glock in der einen und dem Handy in der anderen Hand weiter.

Über die freie Fläche. Bergab mit Rückenwind, Valentin war verletzt und hatte den einfachsten Weg gewählt, um schnell ­Distanz zwischen sich und seine Verfolger zu bringen. Harry dröhnte der Kopf bei jedem Schritt, und auch der Magen wollte nicht mitspielen, aber er schluckte und würgte alles wieder herunter. Dachte an einen Waldweg. An einen Typ in neuen Under-Armour-Klamotten vor sich und rannte.

Als er sich dem Waldrand näherte, wurde er langsamer. Wenn er jetzt die Richtung ändern wollte, müsste er sich regelrecht gegen den Wind lehnen. Hinter den ersten Bäumen lag ein niedriger, verfallener Schuppen mit Wellblechdach. Ein Materiallager oder ein Unterstand für Tiere.

Harry richtete den Lichtschein auf den Schuppen. Er hörte nur den Sturm und sah nur die Dunkelheit. Er roch kein Blut – das schaffte er auch nicht einmal an einem warmen Tag mit Wind aus der richtigen Richtung –, wusste aber trotzdem, dass Valentin hier war. Wie er immer wieder etwas wusste und sich irrte.

Er leuchtete noch einmal auf den Boden. Die Blutspritzer lagen dichter beieinander, auch Valentin war an dieser Stelle langsamer geworden. Vielleicht um kurz nachzudenken, vielleicht aber auch, weil er erschöpft war und anhalten musste. Die Fährte, die bislang geradlinig verlaufen war, bog ab und führte zur linken Seite des Schuppens. Harry irrte sich nicht.

Er beschleunigte noch einmal seine Schritte und lief Richtung Waldrand auf die rechte Seite des Schuppens. Erst als er mehrere Reihen von Bäumen hinter sich hatte, blieb er stehen, schaltete das Licht seines Handys aus, hob die Glock und ging in einem Bogen um den Schuppen herum, um sich von der anderen Seite zu nähern. Die letzten Meter robbte er auf dem Boden weiter.

Er hatte den Wind jetzt im Gesicht, so dass das Risiko, dass Valentin ihn hörte, sehr gering war. Dafür trug der Wind ihm zwischen den Böen immer wieder Laute zu. Weit entfernt war das Heulen von Polizeisirenen zu hören.

Harry duckte sich gerade hinter einen umgestürzten Baum, als plötzlich ein Blitz vom Himmel zuckte und sich dicht am Schuppen eine Silhouette abzeichnete. Valentin. Er hockte, mit dem Rücken zu ihm, nur fünf oder sechs Meter entfernt.

Harry richtete die Waffe auf den Mann.

»Valentin!«

Der Ruf wurde teilweise übertönt von dem nun einsetzenden heranrollenden Donner, trotzdem war zu erkennen, wie die Gestalt vor ihm erstarrte.

»Ich habe meine Pistole auf Sie gerichtet, Valentin. Legen Sie Ihre Waffe weg!«

Plötzlich schien der Wind abzuflauen. Harry hörte ein anderes Geräusch. Ein helles Lachen.

»Harry, bist du wieder zum Spielen gekommen?«

»Man gibt nicht auf, solange man eine Chance hat. Legen Sie die Waffe weg!«

»Du hast mich überlistet. Woher hast du gewusst, dass ich ­außerhalb des Schuppens bin und nicht drinnen?«

»Weil ich Sie inzwischen kenne, Valentin. Sie dachten, ich würde zuerst an dem logischsten aller Orte suchen, weshalb Sie sich nach draußen gehockt haben, um sich noch eine letzte Seele einzuverleiben.«

»Meinen Weg zu Ende gehen«, sagte Valentin und hustete. Spuckte etwas aus. »Wir sind Zwillingsseelen, unsere Seelen müssen an denselben Ort, Harry.«

»Legen Sie die Waffe weg, sonst schieße ich.«

»Ich denke oft an meine Mutter, Harry, du auch?«

Harry sah Valentins Hinterkopf im Dunkeln vor und zurück schwanken, und plötzlich badete alles erneut in dem hellen Licht eines Blitzes. Der nächste Regentropfen. Dieses Mal schwer und rund, nicht vom Wind zerfetzt. Sie waren im Auge des Sturms.

»Ich denke an sie, weil sie der einzige Mensch war, den ich noch mehr gehasst habe als mich selbst, Harry. Ich versuche, mehr kaputtzumachen, als sie kaputtgemacht hat, aber ich weiß nicht, ob das möglich ist. Sie hat mich zerstört.«

»Und mehr ist nicht möglich? Wo ist Marte Ruud?«

»Nein, mehr geht nicht. Denn ich bin einzigartig, Harry. Du und ich, wir sind nicht wie die anderen. Wir sind einzigartig.«

»Tut mir leid, Sie zu enttäuschen, Valentin, aber ich bin nicht einzigartig. Wo ist sie?«

»Zwei schlechte Neuigkeiten, Harry. Erstens: Das rothaarige Mädchen können Sie vergessen. Zweitens: Doch, du bist einzigartig.« Neues Lachen. »Ein blöder Gedanke, oder? Du flüchtest dich in die Normalität, in die Durchschnittlichkeit der Masse und glaubst daran, dort so etwas wie Zugehörigkeit zu finden, dein wahres Ich. Aber dein wahres Ich sitzt hier, Harry, und fragt sich, ob es töten soll oder nicht. Und du nutzt diese Mädchen, Aurora, Marte, um deinen so wohligen Hass immer wieder neu anzufachen. Denn jetzt ist es deine Entscheidung, ob jemand leben oder sterben soll, und genau das genießt du. Du genießt es, Gott zu sein. Und hast davon geträumt, ich zu sein. Hast darauf gewartet, dass du auch einmal der Vampir sein darfst. Du spürst den Durst, das kannst du ruhig zugeben, Harry. Und eines Tages wirst auch du einen Schluck nehmen.«

»Ich bin nicht wie Sie«, sagte Harry und schluckte. Hörte sein Herz im Kopf hämmern. Spürte wieder den Wind. Und den nächsten zerfetzten Tropfen auf der Hand, die die Waffe hielt. Das war’s. Gleich waren sie wieder raus aus dem ruhigen Auge.

»Du bist wie ich«, sagte Valentin. »Und deshalb bist auch du überlistet worden. Du und ich, wir halten uns für schlau, aber letzten Endes werden wir alle überlistet, Harry.«

»Nicht …«

Valentin wirbelte herum, und Harry sah einen langen Lauf, der sich auf ihn richtete, bevor er den Abzug seiner Glock drückte. Einmal, zweimal. Wieder ließ ein Blitz den Wald taghell werden, und Harry sah Valentins Körper, der im Licht für einen Moment erstarrt war. Die Augen hervorgequollen, der Mund offen, die Brust rot von Blut. In der rechten Hand hielt er einen Stock, mit dem er auf Harry zeigte. Dann sackte er zusammen.

Harry stand auf und ging zu Valentin. Auf den Fersen hockend, den Oberkörper an einen Baum gelehnt, starrte er vor sich in die Luft. Er war tot.

Harry richtete die Waffe auf Valentins Brust und drückte ab. Der Donner übertönte den Schuss.

Drei Schüsse.

Nicht weil das Sinn machte, sondern weil die Musik nun mal so war, die Geschichte, es mussten drei sein.

Etwas näherte sich, ein Rauschen und Gepolter wie von donnernden Hufen, etwas, das die Luft vor sich herschob und die Bäume in die Knie zwang.

Dann kam der Regen.

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