Kapitel 17
Montagmorgen
Katrine ließ den Blick über die blassen Gesichter der Ermittlergruppe schweifen. Einige ihrer Kollegen hatten die ganze Nacht durchgearbeitet, aber auch die anderen hatten nicht viel geschlafen. Sie waren die Liste von Valentin Gjertsens bekannten Kontaktpersonen durchgegangen. Vorwiegend Kriminelle, von denen einige einsaßen und andere, wie sich herausstellte, tot waren. Anschließend hatte Tord Gren sie über die Telefonlisten der drei Opfer informiert, die darüber Auskunft gaben, mit wem die Betreffenden in den Stunden und Tagen vor der Ermordung telefoniert hatten. Bis jetzt hatten sie keine übereinstimmenden Telefonnummern, verdächtigen Gespräche oder SMS gefunden. Nur bei Ewa Dolmen gab es etwas Auffälliges. Sie war zwei Tage vor ihrem Tod von einer unbekannten Nummer angerufen worden, hatte den Anruf aber nicht angenommen. Der Anruf war von einem Prepaid-Telefon gekommen, das sich nicht mehr orten ließ. Vermutlich ausgeschaltet oder zerstört, oder das Guthaben war komplett aufgebraucht.
Anders Wyller hatte das vorläufige Resultat der 3-D-Drucker-Verkäufe vorgelegt. Das Ergebnis war ernüchternd. Es waren einfach zu viele solcher Drucker verkauft worden. Überdies war der Anteil der nicht registrierten Käufer so hoch, dass es keinen Sinn machte, dieser Spur zu folgen.
Katrine hatte zu Harry geblickt, der über das Ergebnis nur den Kopf schüttelte, ihre Schlussfolgerung aber teilte.
Bjørn Holm hatte erklärt, dass die Kriminaltechnik sich jetzt, da sie durch die physischen Spuren vom Tatort einen konkret Tatverdächtigen hätten, darauf konzentrieren würde, Valentin Gjertsen auch mit den anderen Tatorten und Opfern in Verbindung zu bringen.
Katrine wollte gerade die Aufgaben des Tages verteilen, als Magnus Skarre die Hand hob und zu reden begann, bevor sie ihm das Wort erteilt hatte.
»Warum ist öffentlich gemacht worden, dass Valentin Gjertsen unser Tatverdächtiger ist?«
»Warum?«, wiederholte Katrine. »Natürlich um an Informationen zu seinem Aufenthaltsort zu kommen.«
»Ja, und davon werden wir jetzt Hunderte, wenn nicht Tausende bekommen, alle basierend auf der Bleistiftskizze eines Gesichts, das auch zu zwei Onkeln von mir passen könnte. Und wir müssen jedem dieser Hinweise nachgehen, denn nicht auszudenken, was passieren würde, sollte sich später herausstellen, dass bereits ein Hinweis über seinen Aufenthaltsort vorlag, als er Opfer vier und fünf totgebissen hat. Dann rollen hier ein paar Köpfe.«
Skarre sah sich nach Unterstützung um. Oder hatte er die bereits und sprach auch im Namen einiger anderer, fragte sich Katrine. »Das ist immer ein Dilemma, Skarre. Aber so haben wir uns entschieden.« Skarre nickte einer der Analystinnen zu, die den Staffelstab übernahm.
»Skarre hat recht, Katrine. Wir könnten wirklich mehr Ruhe zum Arbeiten brauchen. Wir haben die Bevölkerung schon früher um Hinweise zu Valentin Gjertsen gebeten, ohne dass uns das irgendwas gebracht hätte. Das hat uns damals nur von anderen Sachen abgelenkt, die möglicherweise zum Ziel hätten führen können.«
»Und noch etwas«, sagte Skarre. »Jetzt weiß er, dass wir Bescheid wissen. Außerdem haben wir ihn so vielleicht vertrieben. Er muss ja auch schon in den letzten drei Jahren ein Schlupfloch gehabt haben, in das er sich jetzt vielleicht wieder verkriecht.« Skarre verschränkte triumphierend die Arme vor der Brust.
»Wer riskiert hier was?«, fragte jemand und ließ ein schnaubendes Lachen folgen. Die Stimme kam aus dem hinteren Teil des Raumes. »Wenn hier jemand was riskiert, dann doch wohl all die Frauen, die als Lockvögel fungieren, wenn wir nicht mit unserem Wissen an die Öffentlichkeit gehen. Und wenn wir diesen Arsch nicht kriegen, ist es meiner Meinung nach okay, wenn wir ihn wenigstens wieder in sein Loch zurücktreiben.«
Skarre schüttelte lächelnd den Kopf. »Berntsen, wenn Sie ein bisschen länger hier im Dezernat sind, werden Sie schon lernen, dass Leute wie Valentin Gjertsen niemals aufhören. Der schlägt allenfalls an einem anderen Ort zu. Sie haben gehört, was die … Chefin …«, er sprach das Wort übertrieben langsam aus, »gestern im Fernsehen gesagt hat. Vielleicht ist Valentin bereits im Ausland. Sollten Sie wirklich glauben, dass er mit Popcorn und Strickzeug zu Hause sitzt, wird Ihnen ein bisschen mehr Erfahrung sicher helfen, diesen Irrtum zu erkennen.«
Truls Berntsen starrte auf seine Handflächen und murmelte etwas, das nicht bis zu Katrine vordrang.
»Wir hören Sie nicht, Berntsen!«, rief Skarre, ohne sich zu ihm umzudrehen.
»Ich hab gesagt, dass die Bilder, die Sie gestern hier von der Jacobsen unter ihren Surfbrettern gesehen haben, nicht alles gezeigt haben«, sagte Truls Berntsen mit lauter, klarer Stimme. »Sie hat noch gelebt, als ich dort eintraf. Aber sie konnte nicht reden, weil er ihr mit einer Zange die Zunge aus dem Hals gerissen und woanders reingesteckt hat. Wissen Sie, was noch alles mitkommt, wenn Sie jemandem die Zunge ausreißen, statt sie abzuschneiden, Skarre? Wie dem auch sei, wenn ich das damals richtig verstanden habe, hat sie mich angefleht, sie zu erschießen. Und wenn ich meine Waffe dabeigehabt hätte, hätte ich vermutlich ernsthaft darüber nachgedacht. Die Frage hat sich dann aber von allein geklärt, weil sie kurz darauf gestorben ist. Das nur zum Thema Erfahrung.«
In der Stille, die folgte, dachte Katrine, dass sie diesen Berntsen eines Tages vielleicht sogar noch mögen würde. Ein Gedanke, der gleich darauf von Truls Berntsens Finale ad absurdum geführt wurde.
»Und soweit ich weiß, sind wir hier für Norwegen verantwortlich, Skarre. Wenn Valentin irgendwo anders anfängt, Nigger und Asis umzubringen, ist das nicht mehr unser Problem. Auf jeden Fall ist das besser, als wenn er sich hier an norwegischen Mädchen vergreift.«
»Wir machen jetzt Schluss«, sagte Katrine und sah in die Runde. Wenigstens schienen jetzt alle wieder wach zu sein. »Wir treffen uns heute um 16 Uhr hier zur Nachmittagsbesprechung. Die Pressekonferenz ist für 18 Uhr angesetzt. Ich werde in den nächsten Stunden versuchen, für Sie alle erreichbar zu sein, fassen Sie sich also kurz und bleiben Sie sachlich, wenn Sie mir Ihre Berichte durchgeben. Und nur damit das klar ist: Es eilt. Alles. Dass er gestern nicht zugeschlagen hat, bedeutet nicht, dass er nicht heute zuschlägt. Auch Gott hat am Sonntag eine Pause eingelegt.«
Der Besprechungsraum leerte sich schnell. Katrine packte ihre Papiere zusammen, klappte den Laptop zu und wollte gerade gehen.
»Ich will Wyller und Bjørn.« Es war Harry. Er saß noch immer auf seinem Stuhl, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, die Beine weit ausgestreckt.
»Wyller ist okay, was Bjørn angeht, musst du die Neue von der Kriminaltechnik fragen. Irgendeine Lien.«
»Ich habe mit Bjørn gesprochen, und er hat gesagt, dass er mit ihr redet.«
»Das wird er wohl«, rutschte es Katrine heraus. »Hast du mit Wyller schon gesprochen?«
»Ja, er hat sich richtiggehend gefreut.«
»Und der Letzte?«
»Hallstein Smith.«
»Wirklich?«
»Warum nicht?«
Katrine zuckte mit den Schultern. »Ein exzentrischer Nussallergiker ohne Erfahrung in Polizeiarbeit?«
Harry lehnte sich im Stuhl zurück, fuhr mit der Hand in die Hosentasche und fischte ein zerknülltes Päckchen Camel heraus. »Wenn es da im Dschungel tatsächlich ein neues Tier namens Vampirist gibt, hätte ich halt gerne den an meiner Seite, der am meisten über dieses Tier weiß. Du meinst, das mit der Nussallergie spricht gegen ihn?«
Katrine seufzte. »Ich meine nur, dass ich all diese Allergiker langsam leid bin. Anders Wyller ist allergisch gegen Latex, der kann keine Handschuhe anziehen. Und bestimmt auch keine Kondome. Stell dir das mal vor.«
»Lieber nicht«, sagte Harry, warf einen Blick in das Päckchen und schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen. Die abgebrochene Spitze hing traurig nach unten.
»Warum steckst du deine Zigaretten nicht wie andere Leute in die Jackentasche, Harry?«
Harry zuckte mit den Schultern. »Angebrochene Zigaretten schmecken besser. Gehe ich eigentlich recht in der Annahme, dass der Heizungsraum kein reguläres Büro ist? Dann gilt da auch kein Rauchverbot, oder?«
»Tut mir leid«, sagte Hallstein Smith am Telefon. »Aber danke, dass Sie gefragt haben.«
Er legte auf, steckte sich das Handy in die Tasche und sah zu seiner Frau May hinüber, die auf der anderen Seite des Tisches saß.
»Stimmt was nicht?«, fragte sie besorgt.
»Das war die Polizei. Sie haben gefragt, ob ich bereit wäre, in einer kleinen Gruppe mitzuarbeiten, die diesen Vampiristen finden soll.«
»Und?«
»Ich muss doch bald meine Doktorarbeit abgeben. Ich hab keine Zeit. Und ich interessiere mich auch nicht für diese Art von Menschenjagd. Es reicht mir, hier zu Hause den Habicht zu spielen.«
»Und das hast du ihnen gesagt?«
»Ja, bis auf das mit dem Habicht.«
»Und was haben sie geantwortet?«
»Er. Ein Mann. Harry.« Hallstein Smith lachte. »Er hat gesagt, dass er mich versteht und dass Polizeiarbeit ohnehin eine langweilige, detailverliebte Arbeit sei. Gar nicht so wie im Fernsehen.«
»Na, dann«, sagte May und führte sich die Teetasse an die Lippen.
»Ja«, sagte Hallstein und machte das Gleiche.
Harrys und Anders Wyllers Schritte hallten an den Wänden wider und übertönten das leise Klatschen der Wassertropfen, die von der Tunneldecke fielen.
»Wo sind wir hier?«, fragte Wyller, der den Bildschirm und die Tastatur eines älteren Computers trug.
»Unter dem Park, irgendwo zwischen dem Präsidium und dem Gefängnis«, sagte Harry. »Im Volksmund heißt dieser Tunnel Kulverten.«
»Und hier unten gibt es geheime Büros?«
»Nicht geheim, nur leer.«
»Wer will denn hier unten, unter der Erde, ein Büro haben?«
»Keiner, deshalb ist es ja leer.« Harry blieb vor einer Stahltür stehen, steckte den Schlüssel ins Schloss und drehte ihn herum. Dann ruckte er an der Tür.
»Zweimal abgeschlossen?«, fragte Wyller.
»Nee, nur festgerostet«, Harry stemmte einen Fuß gegen die Wand und riss die Tür mit einem Ruck auf.
Der Geruch von feuchter Wärme und klammem Mauerwerk schlug ihnen entgegen. Harry sog ihn gierig ein. Zurück im Heizungsraum.
Er schaltete das Licht ein, und die Leuchtstoffröhren an der Decke begannen nach ein paar Sekunden Bedenkzeit tatsächlich blau zu blinken. Als das Flackern wieder aufhörte, sahen sie sich in dem beinahe quadratischen Raum mit dem graublauen Linoleumboden um. Es gab keine Fenster, nur kahle graue Betonwände.
Harry sah zu Wyller und fragte sich, ob der Anblick des Arbeitsraums die spontane Freude dämpfen würde, die der junge Kommissar gezeigt hatte, als Harry ihn gebeten hatte, in seiner kleinen Guerillagruppe mitzuarbeiten. Es sah nicht so aus.
»Rock ’n’ roll«, sagte Anders Wyller und grinste.
»Wir sind die Ersten, du kannst dir also einen Platz aussuchen.« Harry nickte in Richtung der drei Schreibtische. Auf einem standen eine alte Kaffeemaschine mit schmutziger Glaskanne und vier weiße Becher, auf die Namen geschrieben worden waren.
Wyller hatte den PC gerade angeschlossen und Harry die Kaffeemaschine in Gang gesetzt, als die Tür mit einem Ruck aufging.
»Oh, ist doch wärmer hier, als ich es in Erinnerung hatte«, sagte Bjørn Holm mit einem Lachen. »Das hier ist dieser Hallstein.«
Ein Mann mit großer Brille, wirren Haaren und karierter Anzugjacke kam hinter Bjørn Holm zum Vorschein.
»Smith«, sagte Harry und streckte ihm die Hand entgegen, »Ich freue mich, dass Sie sich doch noch anders entschieden haben.«
Hallstein Smith nahm Harrys Hand. »Ich habe eine Schwäche für umgekehrte Psychologie«, sagte er. »Wenn das denn Ihre Taktik war. Ansonsten sind Sie der schlechteste Telefonverkäufer, der mich jemals angerufen hat. Auf jeden Fall war es das erste Mal, dass ich einen Telefonverkäufer zurückgerufen habe, um sein Angebot doch noch anzunehmen. Und übrigens, du kannst mich duzen.«
»Es macht keinen Sinn, jemanden zu bedrängen«, sagte Harry. »Wir brauchen hier Menschen, die die richtige Motivation für diese Arbeit haben. Magst du deinen Kaffee stark?«
»Nein, eigentlich nicht … ich nehme den so, wie ihr den trinkt.«
»Gut. Sieht aus, als wäre das hier deine Tasse.« Harry reichte Smith einen der weißen Becher.
Smith rückte seine Brille zurecht und las den Namen, der mit Edding darauf geschrieben war. »Lew Wygotski?«
»Und diese hier ist für unseren Kriminaltechniker«, sagte Harry und gab Bjørn Holm einen der anderen Becher.
»Noch immer Hank Williams«, las Bjørn Holm zufrieden. »Soll das heißen, dass die Tasse seit drei Jahren nicht gespült worden ist?«
»Wasserfester Stift«, sagte Harry. »Und das ist deine, Wyller.«
»Popeye Doyle? Wer ist das denn?«
»Der beste Polizist aller Zeiten. Schlag’s nach.«
Bjørn drehte den vierten Becher in den Fingern. »Harry? Warum steht auf deinem Becher nicht Valentin Gjertsen?«
»Vermutlich vergessen«, Harry nahm die Kanne aus der Kaffeemaschine und goss ihnen allen ein.
Bjørn drehte sich zu den beiden fragenden Gesichtern um. »Der Tradition folgend haben wir jeweils unsere Helden auf den Tassen, während auf Harrys der Name des Hauptverdächtigen steht. Yin und Yang.«
»Aber das macht doch nichts«, sagte Hallstein Smith. »Und nur dass das gesagt ist: Lew Wygotski ist nicht mein Lieblingspsychologe. Er war zwar ein Pionier, aber …«
»Du hast die Tasse von Ståle Aune«, sagte Harry und schob den letzten Stuhl in die Mitte zu den drei anderen. Sie bildeten einen Kreis. »Wir haben also freie Hand, wir sind unsere eigenen Chefs und niemandem verpflichtet. Aber wir sorgen dafür, dass Katrine Bratt informiert ist und umgekehrt. Setzt euch. Fangen wir damit an, dass jeder von euch ganz ehrlich sagt, was er von diesem Fall hält. Ihr könnt euch auf Fakten, Erfahrungen oder rein auf euer Bauchgefühl beziehen, auf ein einzelnes idiotisches Detail oder einfach auf gar nichts. Nichts, was ihr hier sagt, wird später gegen euch verwendet, und es ist auch erlaubt, vollkommen danebenzuliegen. Wer macht den Anfang?«
Die vier setzten sich.
»Ich habe hier ja eigentlich gar nichts zu sagen«, begann Hallstein Smith, »aber ich finde, dass … dass du anfangen solltest, Harry.« Smith hatte die Hände um seinen Becher gelegt, als fröre er, obwohl der Raum dicht neben den Heizkesseln lag, die das ganze Gefängnis mit Wärme versorgten. »Vielleicht sagst du uns, warum du nicht glaubst, dass es Valentin Gjertsen ist.«
Harry sah zu Smith. Nippte an seiner Tasse. Schluckte. »Okay, dann fange ich an. Ich glaube nicht, dass es nicht Valentin Gjertsen ist. Obwohl mir dieser Gedanke tatsächlich auch schon gekommen ist. Ein Mörder begeht zwei Morde, ohne auch nur eine Spur zu hinterlassen. Das erfordert Planung und einen kühlen Kopf. Und dann überfällt er plötzlich jemanden und verteilt wie nichts Spuren und Beweise? Das ist auffällig, als legte der Betreffende es darauf an, seine Identität preiszugeben. Und das weckt dann natürlich den Verdacht, dass uns da jemand manipulieren und auf eine falsche Fährte führen will. In dem Fall wäre Valentin Gjertsen wirklich der perfekte Sündenbock.« Harry sah zu den anderen und registrierte Anders Wyllers konzentrierten Blick und seine weit aufgerissenen Augen, Bjørn Holms fast geschlossene Lider und Hallstein Smiths freundliche Offenheit, als wäre er in Anbetracht der Situation automatisch in die Rolle des Psychologen geschlüpft. »Valentin Gjertsen ist aufgrund seiner Akte ein naheliegender Täter«, fuhr Harry fort. »Außerdem weiß der Mörder, dass wir ihn nicht so leicht finden, da wir schon lange ohne Ergebnis nach ihm fahnden. Vielleicht weiß der Mörder aber auch, dass Valentin Gjertsen tot und beerdigt ist. Weil er ihn selbst ermordet und irgendwo verscharrt hat. Weil ein in aller Stille begrabener Valentin den Verdacht gegen sich nicht mit irgendeinem Alibi oder Ähnlichem entkräften kann. Die Ermittlungen würden sich weiterhin auf ihn konzentrieren, und niemand würde an mögliche andere Täter denken.«
»Die Fingerabdrücke?«, warf Bjørn Holm ein. »Das Tattoo des Dämons? Die DNA an den Handschellen?«
»Tja.« Harry trank noch einen Schluck. »Die Fingerabdrücke könnte der Täter platziert haben, indem er einen Finger von Valentins Hand abgetrennt und mit nach Hovseter genommen hat. Das Tattoo kann falsch sein, vielleicht eine abwaschbare Zeichnung. Und die Haare an den Handschellen könnten auch von Valentins Leiche stammen. Vielleicht hat er uns die Handschellen mit voller Absicht dagelassen.«
Die Stille im Heizungsraum wurde nur durch ein letztes Röcheln der Kaffeemaschine unterbrochen.
»Verrückt«, lachte Anders Wyller.
»Das findet glatt einen Platz auf der Top-10-Liste der Verschwörungstheorien meiner paranoiden Patienten«, sagte Hallstein Smith. »Ähm … und das meine ich als Kompliment.«
»Genau deshalb sind wir hier«, sagte Harry und beugte sich auf seinem Stuhl vor. »Wir sollen über Alternativen nachdenken, Möglichkeiten berücksichtigen, die an Katrines Ermittlergruppe komplett vorbeigegangen sind. Weil die bereits eine klare Vorstellung von dem hat, was passiert ist. Und je größer eine Gruppe ist, desto schwieriger ist es, sich von den gegenwärtigen Ideen und Schlussfolgerungen zu lösen. Das ist wie mit der Religion, man glaubt automatisch, dass sich so viele Menschen nicht irren können. Aber«, Harry hob den namenlosen Becher an, »das können sie. Und das tun sie. Immer wieder.«
»Amen«, sagte Smith. »Ähm, die Doppeldeutigkeit war nicht beabsichtigt.«
»Dann lasst uns zur zweiten falschen Theorie kommen«, sagte Harry. »Wyller?«
Anders Wyller starrte in seinen Becher. Holte tief Luft. »Smith, du hast im Fernsehen beschrieben, wie ein Vampirist sich phasenweise weiterentwickelt. Bei uns in Skandinavien werden junge Menschen kontinuierlich medizinisch untersucht, derart extreme Tendenzen würden da auffallen, bevor sie überhaupt die letzte Phase erreichen könnten. Der Vampirist ist kein Norweger, er stammt aus einem anderen Land. Das ist meine Theorie.« Er hob den Blick.
»Danke«, sagte Harry. »Ich kann ergänzen, dass es in der aktuell gültigen Statistik über Serienmörder nicht einen einzigen bluttrinkenden Skandinavier gibt.«
»Der Atlas-Mord in Stockholm 1932«, sagte Smith.
»Hm. Kenne ich nicht.«
»Vermutlich weil man den Vampiristen nie gefunden und auch keinen Zusammenhang mit Serienmorden hat herstellen können.«
»Interessant. Und das Opfer war eine Frau wie hier?«
»Lilly Lindström, zweiunddreißig Jahre alt, Prostituierte. Und ich fresse den Besen, den ich zu Hause stehen habe, wenn sie die Einzige war. Später hat man den Mord auch als Vampirmord bezeichnet.«
»Details?«
Smith blinzelte zweimal, dann kniff er die Augen leicht zusammen und begann zu erzählen, als erinnerte er sich Wort für Wort an den Sachverhalt: »Es war der 30. April, Walpurgisnacht, Sankt Eriksplan 11, eine Einzimmerwohnung. Lilly hatte in ihrer Wohnung einen Mann empfangen. Zuvor war sie bei einer Freundin im Erdgeschoss gewesen und hatte um ein Kondom gebeten. Als die Polizei sich Zutritt zu Lillys Wohnung verschaffte, lag sie tot auf einer Ottomane. Es gab weder Fingerabdrücke noch andere Spuren. Der Mörder hatte aufgeräumt und sogar Lillys Kleidung ordentlich zusammengelegt. Im Waschbecken in der Küche fand die Polizei eine mit Blut verschmierte Schöpfkelle.«
Bjørn wechselte einen Blick mit Harry, dann fuhr Smith fort: »Keiner der Namen in Lillys Notizbuch, das waren alles aber auch nur Vornamen, brachte die Polizei weiter. Sie waren nie auch nur in der Nähe des Vampiristen, der da unterwegs war.«
»Aber wenn das wirklich ein Vampirist gewesen wäre, hätte der doch wohl wieder zugeschlagen?«
»Ja«, sagte Smith. »Und wer sagt, dass er das nicht getan hat? Nur dass er später noch gründlicher hinter sich aufgeräumt hat.«
»Smith hat recht«, sagte Harry. »Die Anzahl der Personen, die jedes Jahr verschwinden, ist größer als die Anzahl der registrierten Morde. Aber Wyller hat sicher auch nicht unrecht, wenn er sagt, dass ein sich entwickelnder Vampirist hier in Skandinavien frühzeitig auffallen würde.«
»Was ich im Fernsehen beschrieben habe, war die typische Entwicklung«, sagte Smith. »Es gibt aber auch Leute, die erst später den Vampirismus in sich entdecken, wie es bei manchen Menschen auch dauert, bis sie ihre wahren sexuellen Neigungen erkennen. Einer der bekanntesten Vampiristen der Geschichte, Peter Kürten, der sogenannte Vampir von Düsseldorf, war sechsundvierzig Jahre alt, als er das erste Mal Blut von einem Tier trank, einem Schwan, den er im Dezember 1929 im Hofgarten von Düsseldorf getötet hatte. Im gleichen Jahr hatte er bereits acht Menschen getötet und bis zu seiner Verhaftung im Mai 1930 weitere zwanzig in Mordabsicht attackiert.«
»Hm. Du findest es also nicht merkwürdig, dass Valentin Gjertsens ansonsten bereits beängstigende Akte keine Hinweise auf das Trinken von Blut oder Kannibalismus beinhaltet?«
»Nein.«
»Okay, was denkst du, Bjørn?«
Bjørn Holm richtete sich in seinem Stuhl auf und rieb sich die Augen. »Eigentlich dasselbe wie du, Harry.«
»Als da wäre?«
»Der Mord an Ewa Dolmen könnte eine Kopie des Mordes in Stockholm sein. Das Sofa, das Aufräumen und die Tatsache, dass er das Ding, woraus er das Blut getrunken hat, ins Waschbecken gestellt hat.«
»Hört sich das plausibel an, Smith?«, fragte Harry.
»Kopie? Das wäre dann aber neu. Ähm, sollte das paradox klingen, ist das nicht beabsichtigt. Es gab natürlich immer wieder Vampiristen, die sich als Wiedergeburt von Graf Dracula gesehen haben, aber dass ein Vampirist denkt, der wiedergeborene Atlas-Mörder zu sein, halte ich für unwahrscheinlich. Vermutlich hat es eher mit bestimmten Charaktereigenschaften zu tun, die für alle Vampiristen typisch sind.«
»Harry meint, dass unser Vampirist einen Sauberkeitswahn hat«, sagte Wyller.
»Oh«, sagte Smith. »Der Vampirist John George Haigh war vom Händewaschen besessen und lief sommers wie winters mit Handschuhen herum. Er hasste Schmutz und trank das Blut seiner Opfer nur aus frisch gespülten Gläsern.«
»Und du, Smith? Was glaubst du, wer unser Vampirist ist?«
Smith legte Mittel- und Zeigefinger auf die Lippen und bewegte sie auf und ab, so dass ein schmatzendes Geräusch entstand. Er atmete tief aus und ein.
»Ich glaube, dass es sich bei unserem Täter in Übereinstimmung mit anderen Vampiristen um einen intelligenten Mann handelt, der seit seiner Kindheit oder Jugend Tiere und vielleicht sogar Menschen gequält hat. Dass er aus einer bürgerlichen, angepassten Familie kommt, in der nur er unangepasst war. Er wird sehr bald wieder Blut brauchen, und ich glaube, dass es ihn sexuell befriedigt, Blut zu sehen und zu trinken. Er ist auf der Suche nach dem perfekten Orgasmus, den er irgendwo zwischen Vergewaltigung und Blut vermutet. Peter Kürten … also unser Schwanmörder aus Düsseldorf, erklärte, dass die Anzahl Stiche, die er seinen Opfern jeweils versetzt hat, abhängig davon war, wie stark sie bluteten, entsprechend schnell bekam er seinen Orgasmus.«
Beklommenes Schweigen legte sich über die kleine Gruppe.
»Und wo und wie finden wir eine solche Person?«, fragte Harry.
»Vielleicht hatte Katrine gestern im Fernsehen recht«, sagte Bjørn. »Vielleicht hat Valentin sich ins Ausland abgesetzt. Vielleicht macht er ja gerade einen Ausflug zum Roten Platz.«
»Moskau?«, fragte Smith überrascht.
»Kopenhagen«, sagte Harry. »Das Multikulti-Nørrebro. Es gibt dort einen Park, den Menschenhändler regelrecht in ihrer Hand haben. Allerdings vorwiegend Import. Man setzt sich auf eine Bank oder Schaukel und hält irgendein Ticket hoch, egal ob für Flug oder Bus oder was weiß ich. Irgendwann kommt dann ein Typ und fragt dich, wohin du willst. Er fragt auch noch anderes Zeug, natürlich nichts, was ihn auffliegen lassen würde, während ein Kollege von ihm, der irgendwo anders im Park sitzt, Fotos von dir gemacht hat, ohne dass du das bemerkt hast. Die Fotos überprüft er im Internet, um sicherzugehen, dass du kein Spitzel bist. Ein wirklich diskretes, teures Reisebüro, bei dem trotzdem niemand business fliegt. Die billigsten Plätze sind in einem Container.«
Smith schüttelte den Kopf. »Ein Vampirist hat kein wirkliches Gefühl für das Risiko. Er denkt nicht so objektiv wie wir, ich glaube nicht, dass er sich abgesetzt hat.«
»Ich auch nicht«, sagte Harry. »Also, wo ist er? Wohnt er allein? Umgibt er sich mit anderen Menschen? Versteckt er sich in der Menge, oder lebt er an einem einsamen Ort? Hat er Freunde? Ist es möglich, dass er eine Lebensgefährtin hat?«
»Ich weiß es nicht.«
»Jeder hier versteht, dass das niemand wissen kann, Smith, Psychologe hin oder her. Ich will ja nur hören, was dir als Erstes in den Sinn kommt. Dein erster Eindruck.«
»Wir Forscher haben häufig so unsere Schwierigkeiten mit ersten Eindrücken. Aber er ist einsam. Da bin ich mir ziemlich sicher. Sehr einsam sogar. Ein Eigenbrötler.«
Es klopfte.
»Zieh fest an der Tür und komm rein!«, rief Harry.
Die Tür ging auf. »Guten Tag, verehrte Vampirjäger«, sagte Ståle Aune und schob sich, den Bauch voran, in den Raum. An der Hand ein junges Mädchen mit hochgezogenen Schultern, dem die schwarzen Haare derart ins Gesicht hingen, dass Harry sie nicht erkannte. »Ich habe zugesagt, dir einen Crashkurs in psychologischer Polizeiarbeit zu geben, Smith.«
Smiths Gesicht hellte sich auf. »Das weiß ich wirklich zu schätzen, verehrter Kollege.«
Ståle Aune wippte auf den Füßen. »Das solltest du auch. Aber ich habe nicht vor, auch nur noch ein einziges Mal in dieser Katakombe hier zu arbeiten, wir dürfen Katrines Büro nutzen.« Er legte eine Hand auf die Schulter des Mädchens. »Aurora ist mitgekommen, weil sie einen neuen Pass braucht. Könntest du das auf dem kleinen Dienstweg regeln, während Smith und ich ein wenig fachsimpeln, Harry?«
Das Mädchen strich sich die Haare zur Seite. Harry konnte erst kaum glauben, dass die blasse junge Frau mit der fettigen Haut und den roten Pickeln das kleine, süße Mädchen war, das er zuletzt vor ein paar Jahren gesehen hatte. Den Klamotten und der dicken Schminke nach zu urteilen, war sie zurzeit auf dem Gothic-Trip. Oleg würde sie vermutlich als Emo bezeichnen. In ihrem Blick lagen aber weder Trotz noch Aufruhr. Auch keine jugendliche Langeweile oder Zeichen der Freude, dass sie Harry – ihren Lieblings-Nicht-Onkel, wie sie ihn genannt hatte – endlich einmal wiedersah. Ihr Blick war leer. Oder nein, nicht leer. Da war noch etwas, das er nicht in Worte fassen konnte.
»Kurzer Dienstweg, wird gemacht! So korrupt sind wir«, sagte Harry und erntete so etwas wie ein Lächeln von Aurora. »Dann gehen wir mal nach oben zum Meldeamt.«
Die vier verließen den Heizungsraum. Harry und Aurora gingen schweigend durch den Kulverten, während Ståle Aune und Hallstein Smith, die dicht hinter ihnen waren, wild durcheinanderredeten.
»Ich hatte da mal einen Patienten – einen gewissen Paul Stavnes, der so indirekt über seine wirklichen Probleme gesprochen hat, dass ich wirklich nichts verstanden habe«, sagte Aune. »Als ich ihn durch Zufall als den gesuchten Valentin Gjertsen entlarvt habe, ist er auf mich losgegangen. Wäre Harry mir nicht zu Hilfe gekommen, hätte er mich umgebracht.«
Harry hörte Aurora tief seufzen.
»Er konnte abhauen, aber während er mich angegriffen hat, konnte ich mir ein klareres Bild von ihm machen. Er hat mir ein Messer an die Kehle gehalten und versucht, mir eine Diagnose zu entlocken. Er hat sich selbst als ›fehlerhafte Ware‹ bezeichnet. Sollte ich nicht antworten, wollte er mich ausbluten lassen. Dabei pumpte sich sein Schwanz auf.«
»Interessant. Konntest du sehen, ob er wirklich eine Erektion hatte?«
»Nein, aber spüren. So wie ich die Zacken dieses Jagdmessers gespürt habe. Ich weiß noch, dass ich damals gehofft habe, mein Doppelkinn würde mich retten.« Ståle amüsierte sich.
Harry spürte das Zittern, das durch Aurora ging, drehte sich um und sah Ståle vielsagend an.
»Oh, entschuldige, mein Mädchen«, rief Ståle aus.
»Über was habt ihr geredet?«, fragte Smith.
»Über viel«, sagte Ståle und senkte die Stimme. »Er war besessen von den Stimmen im Hintergrund von Pink Floyds Dark Side of the Moon.«
»Das sagt mir was! Aber … bei mir nannte er sich nicht Paul, glaube ich. Außerdem wurden meine Patientenlisten gestohlen.«
»Harry, Smith sagt …«
»Habe ich gehört.«
Sie gingen nach oben ins Erdgeschoss, wo Aune und Smith vor dem Fahrstuhl stehen blieben. Harry und Aurora gingen weiter in die Eingangshalle. Ein Zettel am Übergang zum Meldeamt informierte darüber, dass die Kamera für die Passbilder defekt sei und die Fotos im Automaten auf der Rückseite des Gebäudes gemacht werden müssten.
Harry führte Aurora zu dem einem Klohäuschen ähnlichen Kasten, zog den Vorhang zur Seite und gab ihr ein paar Münzen. Dann setzte sie sich auf die Bank.
»Ach ja«, sagte er. »Du darfst die Zähne nicht zeigen.« Dann zog er den Vorhang zu.
Aurora starrte auf ihr Spiegelbild in dem dunklen Glas vor der Kamera.
Spürte die Tränen kommen.
Am Morgen hatte sie es noch für eine gute Idee gehalten, Papa zu sagen, dass sie mit ins Präsidium wolle, um Harry zu treffen. Dass sie einen neuen Pass bräuchte, um mit der Klasse nach London fahren zu können. Von diesen Dingen hatte er nie Ahnung, darum kümmerte sich immer Mama. Sie hatte gehofft, ein paar Minuten lang mit Harry allein sein und ihm alles erzählen zu können. Aber jetzt, da sie allein waren, konnte sie es trotzdem nicht. Die Angst war wieder aufgelodert, als Papa im Tunnel über das Messer gesprochen hatte, sie hatte erneut zu zittern begonnen, und ihr waren die Knie weich geworden. Denn das Messer mit den Zacken kannte auch sie, der Mann hatte es auch an ihren Hals gehalten. Und jetzt war er zurück. Aurora schloss die Augen, um ihren eigenen verängstigten Gesichtsausdruck nicht sehen zu müssen. Er war zurück, und er würde sie alle töten, wenn sie redete. Außerdem, was sollte Reden schon nützen? Sie hatte ja keine Ahnung, wie sie ihn finden konnten. Das würde also weder Papa noch sonst jemanden retten. Aurora öffnete die Augen und sah sich in dem winzigen Raum um. Er war genau wie damals die Toilette in der Sporthalle. Ihr Blick ging automatisch nach unten und wurde am Ende des Vorhangs fündig. Stiefelspitzen. Sie warteten auf sie, wollten rein, rein …
Aurora riss den Vorhang zur Seite und stürzte an Harry vorbei. Sie hörte ihn hinter sich ihren Namen rufen, war aber gleich darauf draußen im Tageslicht, in offenem Gelände. Sie rannte über das Gras durch den Park in Richtung Grønlandsleiret. Hörte, wie sich ihr Schluchzen mit dem Keuchen ihres Atems mischte, als bekäme sie selbst hier draußen nicht genug Luft. Aber sie hielt nicht an. Sie rannte. Wusste, dass sie rennen würde, bis sie stürzte.
»Paul, oder Valentin, hat mir damals nicht erzählt, dass er sich von Blut als solchem irgendwie angezogen fühlt«, sagte Aune, der hinter Katrines Schreibtisch Platz genommen hatte. »Und mit Blick auf seine Akte können wir wohl sagen, dass er bislang keine Hemmungen hatte, seine sexuellen Neigungen auch auszuleben. So ein Mensch entdeckt nur selten im Erwachsenenalter ganz neue sexuelle Seiten.«
»Vielleicht war die Neigung schon immer da«, sagte Smith. »Nur dass er keinen Weg gefunden hat, seine Phantasien auszuleben. Wenn es sein eigentlicher Wunsch war, Menschen bis aufs Blut zu beißen und direkt aus der Quelle zu trinken, musste er vielleicht erst diese Eisenzähne entdecken, um wirklich loszulegen.«
»Das Blut anderer Menschen, meistens seiner Gegner, zu trinken ist ein uraltes Ritual. Es geht dabei darum, ihre Kräfte und Fähigkeiten zu übernehmen, nicht wahr?«
»Richtig.«
»Wenn du ein Profil von diesem Serienmörder erstellst, Smith, rate ich dir, von einer Person auszugehen, die unbedingt die Kontrolle haben will, wie wir es von konventionelleren Triebtätern und Lustmördern kennen. Oder noch besser von einer Person, die die Kontrolle zurückerlangen will, eine Macht, die ihr irgendwann genommen wurde. Sozusagen als Wiederherstellung.«
»Danke«, sagte Smith. »Wiederherstellung. Ich bin ganz deiner Meinung. Ich werde diesen Aspekt definitiv berücksichtigen.«
»Was meint ihr mit Wiederherstellung?«, fragte Katrine, die auf dem Fensterbrett Platz genommen hatte, nachdem die beiden Psychologen ihr eine Aufenthaltserlaubnis erteilt hatten.
»Wir streben doch alle danach, die Schäden, die man uns zufügt, zu reparieren«, sagte Aune. »Oder zu rächen, was aufs Gleiche hinausläuft. Ich habe mich zum Beispiel entschlossen, der geniale Psychologe zu werden, weil ich dermaßen schlecht Fußball gespielt habe, dass niemand mich in seinem Team haben wollte. Harry war noch ein kleiner Junge, als seine Mutter starb, er hat sich entschlossen, Kommissar zu werden und im Morddezernat zu arbeiten, um diejenigen zu bestrafen, die Leben nehmen.«
Der Türrahmen knackte.
»Wenn man vom Teufel spricht«, sagte Aune.
»Tut mir leid, dass ich euch stören muss«, sagte Harry. »Aber Aurora ist plötzlich abgehauen. Ich weiß nicht, was in sie gefahren ist, aber irgendetwas muss passiert sein.«
Es sah aus, als zöge ein Tiefdruckgebiet über Ståle Aunes Gesicht. Stöhnend erhob er sich. »Ja, bei diesen Teenagern wissen wirklich nur die Götter Bescheid. Ich werde sie finden. Das war jetzt nur kurz, Smith, ruf mich an, dann nehmen wir den Faden wieder auf.«
»Was Neues?«, fragte Harry, als Aune den Raum verlassen hatte.
»Ja und nein«, sagte Katrine. »Die Rechtsmedizin hat mit hundertprozentiger Sicherheit bestätigt, dass die DNA an den Handschellen von Valentin Gjertsen stammt. Nur ein Psychologe und zwei Sexologen haben Kontakt mit uns aufgenommen und auf Smiths Aufforderung reagiert, ihre Patientenlisten durchzugehen. Die Namen, die sie nannten, konnten wir aber bereits ausschließen. Und wir haben, wie erwartet, mehrere Hundert Tips bekommen: seltsame Nachbarn, Hunde mit Bissspuren von Vampiren, Werwölfe, Kobolde und Trolle. Aber auch ein paar, die es wert sind, genauer unter die Lupe genommen zu werden. Übrigens, Rakel hat angerufen und nach dir gefragt.«
»Ja, ich habe schon gesehen, dass sie es versucht hat. Unten in unserem Bunker ist schlechter Empfang. Meinst du, man kann da was machen?«
»Ich frage Tord, ob es da irgendeine Möglichkeit gibt. Gehört das Büro dann wieder mir?«
Harry und Smith waren allein im Fahrstuhl.
»Du vermeidest Blickkontakt«, sagte Smith.
»Macht man das in Fahrstühlen nicht so?«, fragte Harry.
»Ich meinte generell.«
»Wenn es dasselbe ist, keinen Blickkontakt zu suchen oder ihn zu vermeiden, hast du vermutlich recht.«
»Und du fährst nicht gerne Aufzug.«
»Hm. Ist das so deutlich?«
»Die Körpersprache lügt nicht. Und du findest, dass ich zu viel rede.«
»Es ist dein erster Tag, vielleicht bist du noch ein bisschen nervös.«
»Nein, ich bin immer so.«
»Okay. Ich habe mich übrigens noch gar nicht dafür bedankt, dass du dich doch für uns entschieden hast.«
»Keine Ursache, es tut mir leid, dass ich anfangs so egoistisch war. Immerhin stehen Menschenleben auf dem Spiel.«
»Ich verstehe gut, dass die Doktorarbeit wichtig für dich ist.«
Smith lächelte. »Ja, du verstehst das, du bist ja auch einer von uns.«
»Einer von wem?«
»Von der sonderlichen Elite. Kennst du das Goldman-Dilemma aus den Achtzigern? Damals haben sie Hochleistungssportler gefragt, ob sie dopen würden, wenn ihnen das die Goldmedaille garantierte, auch wenn sie dafür fünf Jahre früher sterben würden. Mehr als die Hälfte hat mit Ja geantwortet. Von der übrigen Bevölkerung haben nur zwei von 250 mit Ja geantwortet. Ich weiß, dass sich das für die meisten Menschen komplett verrückt anhört, nicht aber für Leute wie dich und mich, Harry. Du würdest dein Leben opfern, um diesen Mörder zu kriegen, nicht wahr?«
Harry sah den Psychologen lange an. Hörte das Echo von Ståles Worten. Du verstehst das mit der Affenfalle, du kannst selber ja auch nie loslassen, Harry.
»Noch irgendwas anderes, was du wissen willst, Smith?«
»Ja, hat sie zugenommen?«
»Wer?«
»Ståles Tochter?«
»Aurora?« Harry zog die Augenbrauen hoch. »Tja. Früher war sie dünner.«
Smith nickte. »Ich fürchte, dass du mir die nächste Frage übelnehmen wirst, Harry.«
»Warten wir’s ab.«
»Ist es möglich, dass Ståle Aune eine inzestuöse Beziehung zu seiner Tochter hat?«
Harry starrte Smith an. Er hatte sich für diesen Mann entschieden, weil er Leute wollte, die originell dachten, und solange Smith lieferte, war Harry bereit, das meiste zu schlucken. Das meiste.
Smith hob die Hände. »Ich sehe, dass ich dich wütend gemacht habe, Harry. Ich frage nur, weil sie all die klassischen Symptome zeigt.«
»Okay«, sagte Harry leise. »Du hast zwanzig Sekunden, um ganz schnell zurückzurudern. Nutze sie.«
»Ich will damit nur sagen, dass …«
»Noch achtzehn.«
»Okay, okay. Die Selbstverletzung. Sie trug ein langärmeliges T-Shirt, das die Narben an ihren Unterarmen verdeckte, an denen sie sich die ganze Zeit gekratzt hat. Hygiene. Wenn man nah an ihr dran war, konnte man riechen, dass sie es mit der Hygiene nicht so genau nimmt. Essen. Übertriebenes Fressen oder zu starkes Abnehmen sind typisch für Opfer von Übergriffen. Mentaler Stillstand. Sie wirkte generell deprimiert, vielleicht verängstigt. Mir ist bewusst, dass Kleider und Schminke das Bild beeinflussen können, aber Körpersprache und Gesichtsausdruck lügen nicht. Intimität. Ich habe dir angesehen, dass du sie unten im Heizungsraum eigentlich in die Arme nehmen wolltest. Sie hat so getan, als hätte sie das nicht bemerkt, und hatte extra die Haare im Gesicht, als sie reingekommen ist. Ihr kennt einander gut, habt euch früher in die Arme genommen, weshalb sie das vorhergesehen hat. Opfer von Übergriffen vermeiden Intimität und Körperkontakt. Ist meine Zeit rum?«
Der Fahrstuhl blieb mit einem Ruck stehen.
Harry trat einen Schritt vor, so dass er direkt vor Smith stand und ihn deutlich überragte. Sein Finger drückte den Türknopf, damit die Türen geschlossen blieben. »Nehmen wir für einen Moment an, dass du recht hast, Smith.« Harry senkte die Stimme, bis nur noch ein Flüstern zu hören war. »Warum Ståle, es kämen doch auch andere in Frage? Sieht man mal davon ab, dass du ihm deinen Spitznamen und den Rausschmiss aus der Osloer Uni zu verdanken hast.«
Harry sah den Schmerz in Smiths Augen, als wäre er geohrfeigt worden. Smith blinzelte und schluckte. »Verdammt. Du hast wahrscheinlich recht, vielleicht bilde ich mir das alles nur ein, weil ich tief in meinem Inneren noch immer wütend bin. Das war nur so eine Ahnung, und ich habe dir ja gesagt, dass ich darin nicht gut bin.«
Harry nickte langsam. »Erfahrung hast du aber trotzdem damit, oder? Also, was hast du gesehen?«
Hallstein Smith richtete sich auf. »Ich habe einen Vater gesehen, der seine jugendliche Tochter an der Hand gehalten hat. Mein erster Gedanke war: wie süß, dass die das noch machen. Ich habe mir spontan gewünscht, dass meine Töchter das auch noch akzeptieren, wenn sie Teenager sind.«
»Aber?«
»Man kann das auch anders sehen, es könnte auch vom Vater ausgehen, der Macht und Kontrolle über sie ausübt, indem er sie festhält.«
»Und was hat dich das denken lassen?«
»Dass sie von ihm wegrennt, sobald sie die Gelegenheit dazu bekommt. Ich habe mit Verdachtsfällen für Inzest gearbeitet, Harry, und das Weglaufen von zu Hause ist einer der Punkte, auf den wir besonders achten. Die Symptome, die ich erwähnt habe, können auch tausend andere Ursachen haben, aber wenn es nur die Spur eines Risikos gibt, dass sie zu Hause bedrängt wird, wäre es professionell nicht zu verantworten, das nicht zu erwähnen, oder? Ich weiß, dass du mit Ståles Familie befreundet bist, und genau deshalb sage ich das. Du kannst mit ihr reden.«
Harry ließ den Knopf los, die Türen öffneten sich, und Hallstein Smith schlüpfte nach draußen.
Harry blieb stehen, bis die Türen sich wieder zu schließen begannen. Er schob einen Fuß in den Spalt und folgte Smith über die Treppe nach unten in den Kulverten, als sein Handy in der Hosentasche zu vibrieren begann.
Er nahm das Gespräch an.
»Hallo, Harry.« Isabelle Skøyens maskuline, aber sinnlich gurrende Stimme war unverkennbar. »Wie ich höre, sitzt du wieder im Sattel.«
»Da bin ich mir noch nicht so sicher.«
»Wir sind doch schon mal zusammen geritten, Harry. Das war nett und hätte noch viel netter werden können.«
»Ich denke, es war so nett wie eben gerade möglich.«
»Egal, Schwamm drüber, Harry. Ich rufe an, weil ich dich um einen Gefallen bitten möchte. Unser PR-Büro arbeitet auch ein bisschen für Mikael, und du hast ja vielleicht gesehen, dass das Dagbladet in seiner Onlineausabe gerade einen Artikel publiziert hat, der Mikael ziemlich hart trifft.«
»Nein.«
»Sie schreiben darin, Zitat: ›Die Stadt bezahlt nun den Preis dafür, dass die Osloer Polizei unter Mikael Bellman ihren Job nicht anständig gemacht und Leute wie Valentin Gjertsen nicht hinter Gitter gebracht hat. Es ist ein Skandal und Armutszeugnis, dass Gjertsen über drei Jahre hinweg mit der Polizei Katz und Maus spielen konnte. Und jetzt, da er keine Lust mehr hat, die Maus zu sein, setzt er sein Spiel als Katze fort.‹ Was sagst du dazu?«
»Hätte besser geschrieben sein können.«
»Wir hätten nun gern, dass jemand vor die Presse tritt und erklärt, wie ungerecht diese Kritik an Mikael ist. Jemand, der an die hohe Aufklärungsrate bei schweren Gewalttaten erinnert, die unter Bellman erreicht werden konnte. Jemand, der selbst Mordfälle gelöst hat und als integer empfunden wird. Und da du inzwischen ja Dozent an der Hochschule bist, kann dir auch niemand vorwerfen, befangen zu sein. Du wärst genau der Richtige, Harry. Was sagst du?«
»Natürlich helfe ich Ihnen und Bellman gern.«
»Du machst das? Wunderbar.«
»Auf die Art, die ich am besten kann. Indem ich Valentin Gjertsen finde. Womit ich zurzeit auch alle Hände voll zu tun habe. Wenn Sie mich also entschuldigen würden, Skøyen?«
»Ich weiß, dass du hart arbeitest, Harry, aber es kann dauern, bis du ihn hast.«
»Und warum eilt es so, Mikael Bellmans Ruf aufzupolieren? Sparen wir uns die Zeit. Ich werde niemals vor ein Mikro treten und etwas sagen, was mir eine PR-Agentur diktiert hat. Wenn wir jetzt auflegen, können wir sagen, dass wir ein zivilisiertes Telefonat geführt haben und ich Sie am Ende nicht zum Teufel jagen musste.«
Isabelle Skøyen lachte laut. »Du hältst dich gut, Harry. Noch immer verlobt mit dieser hübschen schwarzhaarigen Juristin?«
»Nein.«
»Nicht? Dann sollten wir vielleicht mal wieder was zusammen trinken gehen.«
»Rakel und ich sind nicht verlobt, sondern verheiratet.«
»Aha. Sieh an. Aber ist das ein Hindernis?«
»Für mich schon. Für Sie vielleicht nur eine Herausforderung.«
»Verheiratete Männer sind die Besten. Die machen keinen Ärger. Nie.«
»Wie Bellman?«
»Mikael ist wirklich unglaublich süß. Und er hat den besten Mund der ganzen Stadt. Aber das Gespräch beginnt mich zu langweilen, Harry. Ich lege jetzt auf. Du hast meine Nummer.«
»Nein, habe ich nicht. Tschüss.«
»Okay, aber wenn du nicht das Hohelied auf Mikael singen willst, kann ich ihn ja vielleicht von dir grüßen und ihm sagen, dass du dich freust, diesen armseligen Perversen endlich hinter Schloss und Riegel zu bringen?«
»Sagen Sie, was Sie wollen. Einen schönen Tag noch.«
Die Verbindung war weg. Rakel. Er hatte vergessen, dass sie angerufen hatte. Er suchte ihre Nummer heraus, während er nur zum Spaß nachfühlte, ob Isabelle Skøyens Anmache in irgendeiner Weise auf ihn gewirkt hatte. Hatte sie ihn geil gemacht? Nein. Doch. Ein bisschen vielleicht. Aber hatte das etwas zu sagen? Nein. Und wenn, dann so wenig, dass er sich keine Gedanken darüber zu machen brauchte, ob er ein Schwein war. Was nicht hieß, dass er kein Schwein war. Dieses Kitzeln, dieser unwillkürliche, bruchstückhafte Gedanke an eine Situation, der durch seinen Kopf gehuscht war – ihre langen Beine mit den breiten Hüften –, reichte aber nicht, um ihn anzuklagen. Wirklich nicht. Er hatte sie abgewiesen. Auch wenn er wusste, dass seine Ablehnung Isabelle Skøyen nur anspornen würde, ihn wieder anzurufen.
»Rakel Faukes Telefon. Sie sprechen mit Doktor Steffens.«
Harry spürte ein Kribbeln im Nacken. »Hier ist Harry Hole. Ist Rakel da?«
»Nein, Hole, das ist sie nicht.«
Harry spürte, wie sich sein Hals zuzog und die Panik kam. Er konzentrierte sich auf seinen Atem.
»Wo ist sie?«
In der langen Pause, die folgte und für die es sicher einen Grund gab, gingen Harry Unmengen von Gedanken durch den Kopf. Und von all den Schlussfolgerungen, die sein Hirn ganz automatisch zog, blieb eine in seinem Kopf hängen. Das war das Ende, und der einzige Wunsch, den er wirklich gehabt hatte, dass die Tage heute und morgen eine Kopie des gestrigen waren, würde nicht in Erfüllung gehen.
»Sie liegt im Koma.«
Aus Verwirrung oder reiner, blanker Verzweiflung versuchte sein Hirn ihm zu sagen, dass Koma irgendein medizinisches Untersuchungsgerät war.
»Aber sie hat versucht, mich anzurufen. Vor weniger als einer Stunde.«
»Ja«, sagte Steffens. »Und Sie sind nicht drangegangen.«