Kapitel 31
Mittwochnacht
Harry saß an Smiths Küchentisch mit einer Tasse Tee in den Händen und einem Handtuch über den Schultern. Regenwasser tropfte aus seiner Kleidung auf den Boden. Draußen heulte noch immer der Wind, und das Wasser klatschte derart gegen die Scheibe, dass die Polizeiwagen mit den kreisenden Blaulichtern draußen auf dem Hof wie verkrüppelte Ufos aussahen. Trotzdem hatte man irgendwie den Eindruck, als hätten die Wassermassen die Luft abgebremst. Mond. Es roch nach Mond.
Harry bemerkte, dass Hallstein Smith, der ihm gegenübersaß, noch immer unter Schock stand. Seine Pupillen waren geweitet, der Blick apathisch.
»Und du bist dir ganz sicher …«
»Ja, Hallstein, er ist tot«, sagte Harry. »Aber es ist nicht sicher, dass ich noch am Leben wäre, hättest du nicht seinen Revolver mitgenommen, als du gegangen bist.«
»Ich weiß wirklich nicht, warum ich das getan habe, ich habe ihn ja für tot gehalten«, flüsterte Smith mit metallener Roboterstimme und starrte auf den Tisch, auf dem der große Revolver mit dem rotbraunen Schaft und die Pistole lagen, mit der er Valentin angeschossen hatte. »Ich dachte, ich hätte ihn mitten in die Brust getroffen.«
»Das hast du auch«, sagte Harry.
Mond. Die Astronauten hatten darüber gesprochen. Der Mond sollte nach verbranntem Pulver riechen, und dieser Geruch kam zum einen von der Pistole, die in Harrys Jacke steckte, zum anderen von der Glock, die auf dem Tisch lag. Harry nahm Valentins rotbraunen Revolver und roch an der Mündung. Auch da war das Pulver zu riechen, nur nicht so stark. Katrine kam in die Küche. Aus ihren schwarzen Haaren tropfte Wasser. »Die Spurensicherung ist jetzt bei Valentin.«
Sie sah auf den Revolver.
»Aus der Waffe ist geschossen worden«, sagte Harry.
»Nein, das stimmt nicht«, flüsterte Smith und schüttelte mechanisch den Kopf. »Er hat damit nur auf mich gezielt.«
»Nicht jetzt«, sagte Harry und sah zu Katrine. »Man riecht das Pulver noch Tage danach.«
»Marte Ruud?«, sagte Katrine. »Glaubst du …?«
»Ich habe zuerst geschossen.« Smith hob den Kopf und sah sie mit glasigen Augen an. »Ich habe auf Valentin geschossen, und jetzt ist er tot.«
Harry beugte sich vor und legte dem Psychologen die Hand auf die Schulter. »Und deshalb bist du am Leben, Hallstein.«
Smith nickte langsam.
Harry gab Katrine mit den Augen zu verstehen, dass sie sich um Hallstein kümmern sollte. Dann stand er auf. »Ich gehe in den Stall.«
»Aber nur dahin«, sagte Katrine. »Die werden mit dir reden wollen.«
Harry nickte. Der interne Ermittlungsdienst.
»Er wusste es«, flüsterte Smith. »Er wusste, wo er mich findet.«
Obwohl Harry nur vom Haus zu den Stallungen ging, war seine Kleidung erneut durchnässt, als er in Smiths Büro stand. Er setzte sich an den Schreibtisch und ließ den Blick durch den Raum schweifen, bis seine Augen an der Zeichnung hängenblieben. Das Wesen mit den Fledermausflügeln wirkte eher einsam als bedrohlich. Vielleicht kam ihm das Bild deshalb so bekannt vor. Harry schloss die Augen.
Er brauchte einen Drink, verdrängte den Gedanken und schlug die Augen wieder auf. Das Foto auf dem Bildschirm vor ihm war zweigeteilt, eines für jede Überwachungskamera. Er nahm die Maus, führte den Cursor zur Uhr und spulte zurück bis drei Minuten vor Mitternacht. Etwa da hatte Hallstein Smith angerufen. Nach ungefähr zwanzig Sekunden kam eine Gestalt vor dem Tor des Grundstücks zum Vorschein. Valentin. Er kam von links. Da war die große Straße. Bus? Taxi? Er hielt einen weißen Schlüssel in der Hand, schloss auf und schlüpfte hinein. Das Tor ging langsam wieder zu, fiel aber nicht ins Schloss. Fünfzehn bis zwanzig Sekunden später sah Harry Valentin auf dem Foto mit dem Stalleingang und der Waage. Valentin hätte auf der Waage beinahe das Gleichgewicht verloren. Der Zeiger an der Wand gab an, dass die Bestie, die so viele Menschen getötet hatte, einige davon mit den bloßen Händen, nur vierundsiebzig Kilo wog, zweiundzwanzig weniger als Harry. Dann kam Valentin auf die Kamera zu, es sah aus, als starrte er direkt in die Linse, ohne sie zu sehen. Bevor er aus dem Bild verschwand, sah Harry, wie er die Hand tief in die Tasche seiner Jacke steckte. Dann waren nur noch der leere Stall, der Zeiger der Waage und der oberste Teil von Valentins Schatten zu sehen. Harry rekonstruierte die Sekunden. Er erinnerte sich an jedes Wort des Telefonats mit Hallstein Smith. Der Rest des Tages und die Stunden bei Katrine waren vollkommen weg, diese Sekunden aber waren wie in Stein gemeißelt. So war es immer gewesen. Wenn er trank, wurde sein privates Hirn mit Teflon abgedichtet, während sein Polizistenhirn weiterhin alles aufsaugte, als wollte der eine Teil vergessen, der andere hingegen sich zwanghaft an alles erinnern. Die Kollegen von der internen Ermittlung müssten ein dickes Vernehmungsprotokoll schreiben, wollten sie alle Details festhalten, an die er sich erinnerte.
Harry sah den Rand der Tür ins Bild ragen, als Valentin öffnete, den Arm hob, und zu Boden ging.
Harry ließ das Video schneller laufen.
Dann schaute er sich an, wie Hallstein durch den Stall nach draußen eilte.
Eine Minute später schleppte Valentin sich in dieselbe Richtung. Harry ließ die Bilder wieder langsamer laufen. Valentin lehnte sich an die Boxen an einer Seite des Stalls. Er sah aus, als würde er jeden Moment zusammenbrechen. Aber er kam weiter, Meter für Meter. Blieb schwankend auf der Waage stehen. Der Zeiger zeigte anderthalb Kilo weniger als bei seinem Kommen. Harry warf einen Blick auf die Blutlache auf dem Boden hinter dem PC, bevor er beobachtete, wie Valentin mit dem Mechanismus der Stalltür kämpfte. Fast glaubte Harry, Valentins Überlebenswillen spüren zu können. Oder war es nur die Furcht, gefasst zu werden? In diesem Moment wurde Harry bewusst, dass die Filmsequenz, die er gerade verfolgte, sicher einmal an die Öffentlichkeit geraten und ein YouTube-Hit werden würde.
Bjørn Holms blasses Gesicht tauchte in der Tür auf. »Hier hat das also alles angefangen.« Er trat ein, und Harry war sogleich wieder fasziniert davon, wie der ansonsten motorisch so wenig elegante Kriminaltechniker sich an einem Tatort in einen Balletttänzer verwandelte. Bjørn ging neben der Blutlache in die Hocke.
»Wir bringen ihn jetzt weg.«
»Hm.«
»Vier Schusswunden, Harry. Wie viele davon sind von …?«
»Drei«, sagte Harry. »Hallstein hat nur einmal geschossen.«
Bjørn Holm schnitt eine Grimasse. »Er hat auf einen bewaffneten Mann geschossen, Harry. Was willst du der internen Ermittlung zu deinen Schüssen sagen?«
Harry zuckte mit den Schultern. »Die Wahrheit, was sonst? Dass es dunkel war, und Valentin einen Stock in der Hand hielt, um mir weiszumachen, er hätte eine Waffe. Bjørn, er wusste, dass er am Ende war und wollte, dass ich ihn erschieße.«
»Trotzdem. Drei Schüsse in die Brust eines unbewaffneten Mannes …«
Harry nickte.
Bjørn holte tief Luft, sah sich über die Schulter um und fügte leise hinzu: »Okay, es war dunkel, Regen und Sturm. Und dann da draußen im Wald. Wenn ich jetzt noch mal da rausgehe, finde ich in dem Matsch, in dem Valentin gelegen hat, vielleicht ja doch noch eine Pistole.«
Die zwei sahen sich an, während der Wind die Wände knacken ließ.
Harry starrte auf Bjørn Holms gerötete Wangen und wusste, welche Überwindung ihn das kosten musste. Dass er mehr anbot, als er geben konnte, und aufs Spiel setzte, was ihnen beiden heilig war. Die Moral. Den Seelenfrieden.
»Danke«, sagte Harry. »Danke, mein Freund, aber das muss ich ablehnen.«
Bjørn Holm blinzelte zweimal. Schluckte. Atmete lang und zitternd aus und lachte kurz und unpassend, erleichtert.
»Ich sollte wieder zurückgehen«, sagte er und stand auf.
»Tu das«, sagte Harry.
Bjørn Holm stand zögernd vor ihm, als wollte er noch etwas sagen oder einen Schritt vortreten und ihn in die Arme nehmen. Harry konzentrierte sich wieder auf den PC. »Bis später, Bjørn.«
Auf dem Bildschirm verfolgte er den gebeugten Rücken des Kriminaltechnikers auf dem Weg nach draußen.
Harry schlug mit der Faust auf die Tastatur. Einen Drink. Verdammt, verdammte Scheiße! Nur einen Drink!
Dann fiel sein Blick auf den Fledermausmann.
Was hatte Hallstein gesagt? Er wusste es. Er wusste, wo er mich findet.