Kapitel 3
Donnerstagnachmittag
Katrine hatte während der Pressekonferenz Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Neben ihr saß der Leiter des Dezernats für Gewaltverbrechen, Gunnar Hagen. Er informierte kurz über die Identität und das Alter des Opfers und ging in wenigen Worten darauf ein, wo und wann die Tat geschehen war. Bei der ersten Pressekonferenz kurz nach einem Mordfall kam es eigentlich nur darauf an, im Namen einer modernen, offenen Demokratie an die Öffentlichkeit zu treten, dabei aber so wenig wie möglich zu sagen.
Die Blitzlichter spiegelten sich auf seinem blanken, von dunklen Haaren gesäumten Schädel, während er die kurzen Sätze, die sie gemeinsam vorbereitet hatten, vom Blatt ablas. Katrine war froh, dass Hagen das Wort führte. Nicht, dass sie das Rampenlicht scheute, aber ihre Zeit würde noch kommen. Vorläufig bevorzugte sie es als neue Chefermittlerin, Hagen dabei zu beobachten, wie es ihm dank seiner Erfahrung gelang, mehr durch Körpersprache und Ton als durch Fakten den Eindruck zu vermitteln, die Polizei habe alles unter Kontrolle.
Sie war sitzen geblieben und ließ den Blick über die Gesichter der rund dreißig Journalisten schweifen, die sich im Parolesaal im dritten Stock vor dem großen Gemälde versammelt hatten. Das Bild, das die gesamte Wand einnahm, lenkte sie ab. Es zeigte nackte, badende Menschen, die meisten kleine, schmächtige Jungs. Eine idyllische, unschuldige Szene aus einer Zeit, in der noch nicht alles gleich aufs Übelste gedeutet und interpretiert worden war. Dabei war sie keinesfalls besser, weil sie automatisch annahm, dass der Künstler pädophil war. Hagen wiederholte sein Mantra, egal, wie die Fragen der Journalisten lauteten: »Darauf können wir Ihnen leider keine Antwort geben«, leicht variiert, damit es nicht arrogant oder gar komisch wirkte. »Zum jetzigen Zeitpunkt können wir das nicht kommentieren.« Oder etwas wohlwollender: »Darauf werden wir noch zurückkommen.«
Die Presseleute schrieben mit und formulierten immer neue Fragen. »War der Leichnam übel zugerichtet?«, »Gab es Anzeichen für einen sexuellen Übergriff?«, »Hat die Polizei einen Verdächtigen, und falls ja, ist es jemand, der dem Opfer nahestand?«
Spekulative Fragen, die aufgrund der Antwort »Kein Kommentar« Raum ließen für Spannung und Nervenkitzel.
Am anderen Ende des Saals erschien eine bekannte Gestalt, mit schwarzer Klappe über dem einen Auge und in Polizeipräsidentenuniform, die, wie Katrine wusste, immer frisch gebügelt in seinem Büro hing. Mikael Bellman. Er betrat den Saal nicht, sondern blieb als stummer Zuhörer in der Tür stehen. Auch Hagen schien ihn bemerkt zu haben, denn er richtete sich unter den Augen des jüngeren Polizeipräsidenten etwas auf.
»Das wäre dann alles«, schloss der Pressesprecher.
Katrine sah Bellman die Hand heben. Er wollte sie sprechen.
»Wann wird die nächste Pressekonferenz stattfinden?«, rief Mona Daa, die Kriminalreporterin der Zeitung VG.
»Darauf werden wir zurückk…«
»Sobald wir etwas Neues haben«, unterbrach Hagen den Pressesprecher.
»Sobald« registrierte Katrine, nicht »wenn« oder »falls«. Diese kleinen Dinge, etwa die exakte Wortwahl, signalisierten, dass die Diener des Rechtsstaats unermüdlich arbeiteten, die Mühlen der Gerechtigkeit mahlten und es nur eine Frage der Zeit war, bis der Schuldige gefasst wurde.
»Etwas Neues?«, fragte Bellman, als sie durch die Eingangshalle des Präsidiums gingen. Früher hatte seine beinahe feminine Ausstrahlung – lange Wimpern, gepflegte, etwas zu lange Haare und brauner Teint mit den eigentümlichen Pigmentflecken – mitunter etwas Affektiertes, Schwächliches gehabt. Die Augenklappe allerdings, die bei anderen vielleicht inszeniert gewirkt hätte, vermittelte einen Eindruck von Stärke. Dieser Mann nahm rein äußerlich nicht einmal durch den Verlust eines Auges Schaden.
»Die Kriminaltechnik hat etwas in den Bisswunden gefunden«, sagte Katrine, während sie hinter Bellman durch die Kontrolle im Eingangsbereich ging.
»Speichel?«
»Rost.«
»Rost?«
»Ja.«
»Wie in …?« Bellman drückte auf den Knopf des Fahrstuhls.
»Keine Ahnung«, sagte Katrine und trat neben ihn.
»Und ihr wisst noch immer nicht, wie der Täter in ihre Wohnung gekommen ist?«
»Nein. Das Schloss ist mit einem Dietrich nicht zu öffnen, und weder Türen noch Fenster wurden aufgebrochen. Und an die Möglichkeit, dass sie ihn reingelassen hat, glauben wir nicht.«
»Vielleicht hatte er einen Schlüssel.«
»Die Wohnungstüren und die Haustür unten sind mit dem gleichen Systemschlüssel zu öffnen. Laut Hausverwaltung gab es für Elise Hermansens Wohnung nur einen Schlüssel. Und den hatte sie selbst. Berntsen und Wyller haben mit zwei jungen Männern gesprochen, die im Hausflur waren, als sie kam, und die sind sich beide sicher, dass sie die Tür selbst aufgeschlossen hat und nicht von jemandem, der schon in ihrer Wohnung war, hereingelassen wurde.«
»Verstehe. Könnte ihr Mörder den Schlüssel irgendwie nachgemacht haben?«
»Dafür müsste er sich den Originalschlüssel beschafft und dann noch einen Schlüsseldienst gefunden haben, der Systemschlüssel ohne schriftliche Genehmigung der Hausverwaltung nachmacht. Das ist ziemlich unwahrscheinlich.«
»Okay, aber das war eigentlich gar nicht das, worüber ich mit dir reden wollte …« Die Fahrstuhltüren öffneten sich vor ihnen, und zwei Kommissare traten heraus. Sie hörten augenblicklich auf zu lachen, als sie den Polizeipräsidenten sahen.
»Es geht um Truls«, sagte Bellman, nachdem er ihr höflich den Vortritt gelassen hatte. »Also Berntsen.«
»Ja?«, erwiderte Katrine und nahm den schwachen Duft seines Rasierwassers wahr. Sie hatte eigentlich gedacht, dass die meisten Männer sich nach dem Rasieren nicht mehr mit alkoholischen Lösungen pflegten. Bjørn hatte sich elektrisch rasiert, ohne eine Pflege zu benutzen, und die, die sie danach gehabt hatte … nun, in einigen Fällen wäre Katrine da schweres Parfüm sicher lieber gewesen als der natürliche Geruch dieser Männer.
»Wie fügt er sich ein?«
»Berntsen? Gut.«
Sie standen nebeneinander, den Blick auf die Fahrstuhltür gerichtet, aber aus den Augenwinkeln nahm sie sein schiefes Lächeln wahr.
»Gut?«, wiederholte er nach kurzem Schweigen.
»Berntsen erledigt die Aufgaben, die wir ihm geben.«
»Und die sind nicht sonderlich anspruchsvoll, nehme ich mal an.«
Katrine zuckte mit den Schultern. »Er hat keine Erfahrung als Ermittler, arbeitet aber als Kommissar im größten Morddezernat des Landes, sieht man mal vom Kriminalamt ab. Klar, dass man da nicht immer in der ersten Reihe mitmischt, oder?«
Bellman nickte und rieb sich das Kinn. »Ich wollte eigentlich nur hören, dass er sich anständig benimmt. Dass er … sich an die Spielregeln hält.«
»Soweit ich weiß, ja.« Der Fahrstuhl hielt an. »Von welchen Spielregeln reden wir eigentlich?«
»Es wäre mir lieb, wenn du ihn im Auge behalten würdest, Bratt. Truls Berntsen hat es nicht leicht gehabt.«
»Denkst du an die Verletzungen, die er durch die Explosion davongetragen hat?«
»Ich denke an … sein Leben, Bratt. Er ist etwas … wie soll ich das sagen?«
»Mitgenommen?«
Bellman lachte kurz und nickte in Richtung der offenen Fahrstuhltür. »Deine Etage, Bratt.«
Bellman betrachtete Bratts durchtrainierten Po, als sie sich über den Flur entfernte, und ließ seiner Phantasie freien Lauf, bis die Fahrstuhltüren sich wieder schlossen. Dann konzentrierte er sich wieder auf das Problem. Das eigentlich weniger ein Problem war als eine neue Möglichkeit. Trotzdem stand er vor einem Dilemma. Er hatte unter Wahrung höchster Diskretion eine Anfrage aus dem Büro des Ministerpräsidenten erhalten. Es war zu erwarten, dass es in der Regierung einige Veränderungen geben würde, unter anderem wurde vermutlich der Posten des Justizministers vakant. Die Anfrage bezog sich nun darauf, was Bellman – natürlich rein hypothetisch – antworten würde, sollte ihm dieses Amt angeboten werden. Anfangs war er einfach nur verblüfft gewesen, doch bei näherer Betrachtung war ihm klargeworden, dass die auf ihn gefallene Wahl vollkommen logisch war. Er hatte als Polizeipräsident nicht nur substantiell dazu beigetragen, dass der international als Polizeischlächter bekannt gewordene Täter dingfest gemacht werden konnte, sondern in der Hitze des Kampfes auch noch ein Auge eingebüßt, wofür man ihm über die Landesgrenzen hinaus Anerkennung zollte. Ein Polizeipräsident mit Juraexamen, der sich gut ausdrücken konnte, erst knapp über vierzig war und die Hauptstadt erfolgreich gegen Mord, Drogen und Kriminalität verteidigte, war sicher auch für höhere Aufgaben geeignet. Und dass er gut aussah, war kein Handicap, man musste ja auch an die weiblichen Wähler denken. Also hatte er – rein hypothetisch – mit ja geantwortet.
Bellman trat in der obersten Etage aus dem Fahrstuhl und ging an der Reihe der Porträts der früheren Polizeipräsidenten vorbei.
Bis die Entscheidung definitiv war, durfte sein Lack keine Kratzer bekommen. Am meisten fürchtete er, dass Truls irgendeinen Mist baute, der auf ihn zurückfiel. Bellman dachte mit Schaudern an die möglichen Schlagzeilen: »Polizeipräsident hielt seine Hand schützend über korrupten Polizisten und Freund«.
Truls war in sein Büro spaziert, hatte die Füße auf den Schreibtisch gelegt und gesagt, dass er sich – falls er jemals gefeuert werden sollte – damit trösten würde, einen ebenso schmutzigen Polizeipräsidenten mit in die Tiefe zu reißen. Es war Bellman deshalb ausgesprochen leichtgefallen, Truls’ Wunsch nachzukommen und ihm einen Posten im Dezernat für Gewaltverbrechen zuzuschustern. Insbesondere da dieser – wie Bratt ihm gerade bestätigt hatte – dort nicht so viel Verantwortung innehatte, dass er die Ermittlungen in einem konkreten Fall wirklich sabotieren konnte.
»Ihre hübsche Frau wartet drinnen«, sagte Lena, als Mikael Bellman in sein Vorzimmer kam. Lena war über sechzig, und als Bellman vor vier Jahren seine Stelle angetreten hatte, hatte sie als Erstes gesagt, dass sie auf keinen Fall als Assistentin bezeichnet werden wollte. Moderne Stellenbeschreibung hin oder her, sie sei eine Vorzimmerdame und wolle das auch bleiben.
Ulla saß auf dem Sofa der Sitzgruppe am Fenster. Lena hatte recht, seine Frau war hübsch. Sie war zierlich und noch immer attraktiv, daran hatten auch die drei Schwangerschaften nichts geändert. Noch wichtiger war aber, dass sie sich hinter ihn gestellt und erkannt hatte, dass sie ihn bei seiner Karriere unterstützen und ihm Ellbogenfreiheit geben musste. Und dass der eine oder andere Fehltritt im Privatleben nur menschlich war, wenn man dem Druck einer derart anspruchsvollen Stelle standhalten wollte.
Sie war so unverdorben, fast naiv, dass er alles in ihrem Gesicht lesen konnte. Und jetzt las er Verzweiflung. Das Erste, was Bellman dachte, war, dass einem der Kinder etwas passiert war. Er wollte schon fragen, aber dann bemerkte er den Anflug von Verbitterung in ihrer Miene und erkannte, dass sie etwas herausgefunden haben musste. Schon wieder. Verdammt! »Du siehst so ernst aus, Liebes«, sagte er ruhig und ging, die Uniform aufknöpfend, zum Kleiderschrank. »Ist etwas mit den Kindern?«
Sie schüttelte den Kopf. Er atmete erleichtert auf. »Nicht dass ich mich nicht freuen würde, dich zu sehen, aber ich mache mir immer gleich Sorgen, wenn du unangemeldet hier auftauchst.« Er hängte die Jacke in den Schrank und setzte sich ihr gegenüber auf den Sessel. »Und?«
»Du hast sie wiedergesehen«, sagte Ulla. Er hörte, dass sie sich die Worte genau zurechtgelegt und sich vorgenommen hatte, nicht zu weinen. Trotzdem standen ihr bereits wieder die Tränen in den blauen Augen.
Er schüttelte den Kopf.
»Du brauchst es gar nicht abzustreiten«, sagte sie mit belegter Stimme. »Ich habe dein Telefon überprüft. Du hast sie allein in dieser Woche dreimal angerufen, Mikael. Du hast versprochen …«
»Ulla.« Er beugte sich vor und wollte ihre Hand nehmen, aber sie zog sie zurück. »Ich habe mit ihr gesprochen, weil ich ihren Rat brauchte. Isabelle Skøyen arbeitet inzwischen als Kommunikationsberaterin in einem Unternehmen, das auf Lobbying und Politik spezialisiert ist. Sie kennt die Irrwege der Macht, sie hat sich selbst schon darin verlaufen. Und sie kennt mich.«
»Kennt?« Ullas Gesicht verzog sich zu einer Grimasse.
»Wenn ich – wenn wir – diese Herausforderung annehmen wollen, muss ich jeden Vorteil, der sich mir bietet, nutzen, um am Ende wirklich eine Kopflänge vorne zu liegen. Diesen Job wollen noch andere Leute. Regierung. Ulla. Es gibt nichts Größeres.«
»Nicht mal die Familie?«, sagte sie.
»Du weißt ganz genau, dass ich unsere Familie niemals im Stich lassen würde …«
»Niemals im Stich lassen?«, rief sie mit einem Schluchzen. »Das hast du doch bereits …«
»… und ich hoffe, dass du das auch niemals tun wirst, Ulla. Nicht aus grundloser Eifersucht auf eine Frau, mit der ich nur aus Karrieregründen telefoniert habe.«
»Die Frau war doch nur Kommunalpolitikerin, und das noch nicht mal sonderlich lang. Was kann die dir schon sagen?«
»Unter anderem, was man nicht tun darf, wenn man als Politiker überleben will. Diese Erfahrung hat das Unternehmen mit eingekauft, als sie sich für sie entschieden haben. Unter anderem darf man nie gegen seine Ideale verstoßen. Die Pflichten verletzen und sich aus der Verantwortung stehlen. Und macht man Fehler, muss man um Vergebung bitten und versuchen, es beim nächsten Mal richtig zu machen. Man darf Fehler machen, aber niemanden betrügen, Ulla. Und das will ich versuchen.« Er griff wieder nach ihrer Hand, und dieses Mal schaffte sie es nicht, sie wegzuziehen. »Ich weiß, dass ich nach all dem, was vorgefallen ist, nicht zu viel verlangen darf, aber wenn ich das jetzt hinbekommen will, brauche ich dein Vertrauen und deine Unterstützung. Du musst mir vertrauen.«
»Wie soll das gehen?«
»Komm.« Er stand auf, ohne ihre Hand loszulassen, und zog sie ans Fenster. Stellte sich hinter sie und legte ihr die Hände auf die Schultern. Da das Präsidium auf einer kleinen Anhöhe lag, sah sie halb Oslo in der Sonne vor sich. »Willst du dabei sein und etwas bewegen, Ulla? Willst du mir helfen, die Zukunft unserer Kinder ein bisschen sicherer zu machen? Der Kinder unserer Nachbarn. Unserer Stadt. Unseres Landes?«
Seine Worte zeigten Wirkung. Mein Gott, sie gingen auch an ihm nicht spurlos vorbei. Er war geradezu gerührt. Die Worte stammten aus ein paar Notizen, die er sich mit Blick auf die Medien gemacht hatte. Wenn es mit dem Posten des Justizministers offiziell würde, hätte er nicht viel Zeit, bis Fernsehen, Radio und Zeitungen ein Statement von ihm wollten.
Truls Berntsen wurde von einer kleinen Frau aufgehalten, als er und Wyller nach der Pressekonferenz in die Eingangshalle des Polizeipräsidiums traten.
»Mona Daa, VG. Sie habe ich schon mal gesehen …« Sie wandte sich von Truls ab. »Aber Sie müssen neu im Präsidium sein?«
»Stimmt«, sagte Wyller lächelnd. Truls musterte Mona Daa von der Seite. Nettes Gesicht. Breit, vielleicht samisch. Aber aus ihrem Körperbau war er nie schlau geworden. In den bunten, weiten Gewändern, die sie trug, erinnerte sie eher an eine Opernkritikerin der alten Schule als an eine hartgesottene Kriminalreporterin. Sie konnte kaum älter als dreißig sein, aber Truls hatte das Gefühl, dass sie schon immer da gewesen war. Stark, standhaft und dominant. Es brauchte schon einen Orkan, um Mona Daa umzuwerfen. Außerdem roch sie nach Mann, benutzte Gerüchten zufolge Old-Spice-Aftershave.
»Sie haben uns auf der Pressekonferenz nicht gerade viel präsentiert.« Mona Daa lächelte. Wie Journalisten lächeln, die etwas wollen. Auch wenn es ihr im Augenblick nicht vorrangig um Informationen zu gehen schien. Ihr Blick zog Wyller förmlich aus.
»Wir hatten wohl nicht mehr«, sagte Wyller und erwiderte ihr Lächeln.
»Dann darf ich Sie so zitieren?«, sagte Mona Daa und machte sich Notizen. »Name?«
»Was zitieren?«
»Dass die Polizei nicht mehr hat, als Hagen und Bratt auf der Pressekonferenz vorgetragen haben.«
Truls sah die aufkeimende Panik in Wyllers Augen. »Nein, nein, das hab ich nicht gemeint … bitte … bitte schreiben Sie nichts.«
Mona Daa antwortete, machte sich aber zeitgleich weitere Notizen: »Ich habe mich als Journalistin vorgestellt, da sollte Ihnen klar sein, dass ich beruflich hier bin.«
Wyller sah hilfesuchend zu Truls, aber Truls sagte nichts. Jetzt war der junge Mann nicht mehr so selbstsicher und arrogant wie in dieser Studenten-WG.
Wyller räusperte sich und versuchte, seiner Stimme einen tieferen Klang zu geben. »Ich untersage Ihnen, dieses Zitat zu veröffentlichen.«
»Verstehe«, sagte Daa. »Dann zitiere ich das, was klarmacht, dass die Polizei die Presse zu zensieren versucht.«
»Ich … nein, das …« Wyller wurde rot, und Truls musste sich zusammenreißen, um nicht zu lachen.
»Entspannen Sie sich, ich mach doch nur Witze«, sagte Mona Daa.
Anders Wyller starrte sie einen Augenblick lang an, dann atmete er tief durch.
»Welcome to the game. Wir spielen hart, aber fair. Und wenn wir können, helfen wir einander. Nicht wahr, Berntsen?«
Truls grunzte eine unverständliche Antwort, die man in alle Richtungen verstehen konnte.
Daa blätterte in ihrem Notizbuch. »Ich werde die Frage, ob es irgendwelche Verdächtigen gibt, nicht wiederholen, dazu sollen sich Ihre Vorgesetzten äußern. Aber lassen Sie mich generell ein paar Fragen zu den Ermittlungen stellen.«
»Nur zu«, sagte Wyller und lächelte, er saß schon wieder hoch zu Ross.
»Ist es nicht so, dass sich bei Ermittlungen in einem Mordfall wie diesem der Fokus immer auf frühere Geliebte oder Partner richtet?«
Anders Wyller wollte antworten, aber Truls legte ihm eine Hand auf die Schulter und übernahm.
»Ich sehe, worauf Sie hinauswollen, Daa: Die leitenden Ermittler wollten sich zu möglichen Verdächtigen nicht äußern, die VG hat allerdings aus Polizeikreisen erfahren, dass sich die Ermittlungen auf frühere Partner und Liebschaften richten.«
»Also«, sagte Mona Daa, »ich wusste ja gar nicht, dass Sie so spitzfindig sind, Berntsen.«
»Und ich wusste nicht, dass Sie meinen Namen kennen.«
»Ach, jeder Polizist hat so seinen Ruf, wissen Sie. Und das Morddezernat ist so groß ja nun auch wieder nicht. Aber was Sie angeht, weiß ich noch nichts.«
Anders Wyller lächelte blass.
»Wie ich sehe, ziehen Sie es vor, nichts mehr zu sagen. Aber Ihren Namen können Sie mir doch wenigstens verraten.«
»Anders Wyller.«
»Und hier finden Sie mich, Wyller.« Sie reichte ihm eine Visitenkarte, bevor sie – nach einem gewissen Zögern – auch Truls eine gab. »Wie gesagt, wir schätzen die Tradition, einander zu helfen. Und wir bezahlen durchaus gut, wenn die Tips was taugen.«
»Sie bezahlen doch wohl keine Polizisten?«, fragte Wyller und steckte ihre Karte in die Hosentasche.
»Warum nicht?«, erwiderte sie, und ihr Blick streifte Truls. »Tips sind Tips. Also rufen Sie ruhig an, wenn Ihnen etwas einfällt. Oder kommen Sie ins Gain-Fitnessstudio. Sie finden mich dort jeden Abend ab neun. Dann können wir ein bisschen zusammen schwitzen …« Sie lächelte Wyller an.
»Ich schwitze lieber draußen«, sagte Wyller.
Mona Daa nickte. »Mit dem Hund joggen. Sie sehen aus wie ein Hundetyp. Gefällt mir.«
»Warum?«
»Katzenallergie. Okay, Jungs, im Sinne der Zusammenarbeit werde ich euch anrufen, wenn ich auf etwas stoße, von dem ich glaube, dass es für euch interessant sein könnte.«
»Danke«, sagte Truls.
»Aber dafür brauche ich eine Telefonnummer, die ich anrufen kann.« Mona Daa hielt den Blick auf Wyller gerichtet.
»Sicher«, sagte er.
»Ich notiere.«
Wyller sagte Ziffer für Ziffer, bis Mona Daa den Blick hob. »Das ist doch die Nummer der Zentrale hier im Präsidium.«
»Ja, hier arbeite ich ja auch«, sagte Anders Wyller. »Außerdem habe ich eine Katze.«
Mona Daa klappte ihr Notizbuch zu. »Bis dann.«
Truls sah ihr hinterher, als sie wie ein Pinguin in Richtung Ausgang watschelte und die schwere Metalltür mit dem Bullauge aufdrückte.
»Die Besprechung beginnt um drei«, sagte Wyller.
Truls sah auf die Uhr. Die Nachmittagsbesprechung der Ermittlergruppe. Das Dezernat für Gewaltverbrechen war spitze, bis auf die Morde. Morde waren scheiße. Morde bedeuteten Überstunden, Berichte, nicht enden wollende Besprechungen und Stress. Aber wenigstens gab es in der Kantine dann Gratis-Essen. Er seufzte, drehte sich um, ging in Richtung Kontrolle im Eingangsbereich und erstarrte.
Ulla.
Was machte sie hier?
Sie war auf dem Weg nach draußen. Ihr Blick huschte über ihn, aber sie tat so, als hätte sie ihn nicht gesehen. Vielleicht weil es immer etwas peinlich war, wenn sie ein seltenes Mal ohne Mikael zusammentrafen. Sie hatten das schon immer bewusst vermieden, seit sie sich kannten. Er, weil er in ihrer Gegenwart zu schwitzen begann und sein Herz so stark schlug und weil ihn anschließend all die blöden Dinge quälten, die er gesagt hatte, und auch die intelligenten, richtigen Worte, die natürlich in dem Moment wieder nicht über seine Lippen gekommen waren. Und sie … weil … nun vermutlich, weil er schwitzte, sein Herz zu stark schlug und er nichts oder ausnahmslos blöde Dinge sagte.
Trotzdem hätte er dort in der Eingangshalle beinahe ihren Namen gerufen.
Aber sie war bereits durch die Metalltür verschwunden. Gleich würde draußen das Sonnenlicht ihre seidigen blonden Haare küssen.
Ulla, flüsterte er tonlos.