Kapitel 10

Samstagmorgen

Harry lief. Er tat das nicht gern. Manche Menschen laufen angeblich, weil sie das mögen, wie Haruki Murakami. Harry mochte die Bücher von Murakami, nur eben das eine über das Laufen nicht, das hatte er zur Seite gelegt. Harry lief, um anzukommen, und weil er das Gefühl liebte, gelaufen zu sein. Krafttraining war eher nach seinem Geschmack. Konkrete Schmerzen, die von der Leistungskraft der Muskeln und nicht vom Willen abhingen, Schmerzen zu ertragen. Vermutlich sagte das etwas über seinen schwachen Charakter aus, seine Neigung, wegzulaufen und eine Linderung der Schmerzen zu suchen, bevor es überhaupt richtig weh tat.

Ein klapperdürrer Jagdhund, eine dieser Rassen, die sich die Reichen hier oben am Holmenkollen hielten, obwohl sie allenfalls alle anderthalb Jahre mal an einer Elchjagd teilnahmen, rannte an ihm vorbei. Sein Besitzer kam hundert Meter dahinter angelaufen. In der neuen Kollektion von Under Armour. Harry konnte sich ein Bild von seiner Lauftechnik machen, als sie wie zwei Züge aneinander vorbeirauschten. Schade, dass sie nicht in dieselbe Richtung liefen. Harry hätte sich ihm gerne an die Fersen geheftet und irgendwann so getan, als müsste er sich zurückfallen lassen, um dann doch an der Steigung zum Tryvann an ihm vorbeizuziehen und ihm die abgetretenen Sohlen seiner zwanzig Jahre alten Adidas-Schuhe zu zeigen. Oleg fand Harry beim Joggen unglaublich kindisch. Selbst wenn sie vereinbart hatten, die ganze Strecke ruhig zu laufen, schlug Harry kurz vorm Ziel jedes Mal ein Wettrennen vor. Er forderte die Niederlage regelrecht heraus, denn Oleg hatte ungerechterweise die Sauerstoffaufnahmefähigkeit seiner Mutter geerbt.

Zwei übergewichtige Frauen, die mehr gingen als liefen, redeten und schnauften so laut, dass sie Harry nicht von hinten kommen hörten, weshalb er auf einen kleineren Weg auswich und sich plötzlich auf unbekanntem Terrain befand. Die Bäume sperrten hier das Morgenlicht aus, und Harry fühlte sich auf einmal in seine Kindheit versetzt, bis er wieder in offeneres Gelände kam. Wie damals hatte er für einen Augenblick die Angst gespürt, sich zu verlaufen und nie wieder zurückzufinden. Dabei wusste er jetzt ganz genau, wo er hinmusste und wo sein Zuhause war.

Manche Menschen mochten die frische Luft hier oben, die weichen, sanft hügeligen Waldwege, die Stille und den Geruch der Nadelbäume. Harry mochte den Blick über die Stadt. Die Ge­räusche und ihren Geruch. Das Gefühl, sie greifen zu können. Und die Gewissheit, dass man in ihr untergehen und ertrinken konnte. Oleg hatte Harry erst vor kurzem gefragt, wie er sich wünschte zu sterben. Harry hatte darauf geantwortet, dass er gerne friedlich einschlafen würde. Oleg war ein schneller und möglichst schmerzfreier Tod lieber. Harry hatte gelogen. Er wollte sich in einer Kneipe dort unten in der Stadt zu Tode saufen. Und er wusste, dass auch Oleg gelogen hatte. Auch er zog die Hölle und das Paradies vergangener Tage vor, eine Überdosis Heroin. Alkohol und Heroin. Geliebte, die sie verlassen hatten, aber nicht vergessen konnten, egal, wie viel Zeit verging.

Harry machte in der Einfahrt einen Schlussspurt, hörte, wie der Kies unter seinen Sohlen wegsprang, und entdeckte Frau Syvertsen hinter der Gardine des Nachbarhauses.

Dann duschte er. Er liebte es zu duschen. Jemand sollte mal ein Buch übers Duschen schreiben.

Als er ins Schlafzimmer kam, stand Rakel in ihrem Gartenoutfit am Fenster. Gummistiefel, Arbeitshandschuhe, kaputte Jeans und verblichener Sonnenhut. Sie drehte sich zur Seite und strich sich eine dunkle Strähne aus dem Gesicht, die unter der Hutkrempe hervorlugte. Harry fragte sich, ob sie wusste, wie hinreißend sie in diesen Sachen aussah. Vermutlich.

»Iih«, sagte sie leise und lächelte. »Ein nackter Mann.«

Harry stellte sich hinter sie, legte ihr die Hände auf die Schultern und massierte sie leicht. »Was tust du?«

»Ich sehe mir die Fenster an. Was meinst du, müssen wir noch etwas tun, bevor Emilia kommt?«

»Emilia?«

Rakel lachte.

»Was?«

»Du hast so abrupt mit dem Massieren aufgehört, Liebster. Entspann dich, das ist niemand, der zu Besuch kommt. Bloß ein Sturm.«

»Ach, die Emilia. Diese Festung hier wird mindestens noch ein oder zwei Naturkatastrophen überstehen.«

»Das glauben wir hier oben immer, oder?«

»Was glauben wir?«

»Dass unser Leben eine Festung ist. Uneinnehmbar.« Sie seufzte. »Ich muss einkaufen.«

»Kochen wir? Wir haben das peruanische Restaurant in der Badstugata noch nicht ausprobiert. Das soll nicht teuer sein.«

Harry versuchte immer wieder, sie für seine Junggesellen­angewohnheit zu begeistern, essen zu gehen. Rakel hatte seine Argumente, warum Restaurants zu den besseren Ideen der Zivilisation gehörten, mittlerweile eingesehen. Schon in der Steinzeit hätten die Menschen begriffen, dass Großküchen und das gemeinsame Essen klüger waren, als jeder für sich drei Stunden pro Tag damit zu vergeuden, ein Essen zu planen, einzukaufen, zu kochen und anschließend sauberzumachen. Auf ihren Einwand, dass das ziemlich dekadent sei, hatte er geantwortet, es sei viel dekadenter, wenn sich eine vierköpfige Familie eine Küche für Millionen von Kronen leistete. Und dass es eine gesunde, nicht dekadente Nutzung der Ressourcen sei, gutausgebildeten Köchen das zu zahlen, was sie brauchten, um in einer Groß­küche zu arbeiten, während diese ebenfalls dafür zahlten, dass Rakel juristischen Beistand leisten und Harry zukünftige Polizisten ausbilden konnte.

»Heute bin ich mit Bezahlen dran«, sagte er und hielt sie am rechten Arm fest. »Bleib.«

»Ich muss einkaufen«, sagte sie und schnitt eine Grimasse, als er sie an seinen noch immer dampfenden Körper zog. »Oleg und Helga kommen.«

Er hielt sie noch fester. »Wirklich. Hast du nicht gerade gesagt, dass kein Besuch kommt?«

»Ein paar Stunden mit Oleg und Helga wirst du …«

»Ich mach doch nur Witze. Ich freue mich, das wird schön. Aber sollten wir nicht lieber …?«

»Nein, wir gehen nicht mit ihnen essen. Helga war noch nie hier, und ich will sie mir in aller Ruhe ansehen.«

»Arme Helga«, flüsterte Harry und wollte Rakel ins Ohrläppchen beißen, als ihm etwas an ihrem Hals auffiel.

»Was ist das?« Vorsichtig legte er einen Finger auf die rote Stelle.

»Was?«, fragte sie und tastete selbst. »Ach das. Da hat der Arzt Blut abgenommen.«

»Am Hals?«

»Frag mich nicht, warum.« Sie lachte. »Du bist süß, wenn du dir Sorgen machst.«

»Ich mache mir keine Sorgen«, sagte Harry. »Ich bin eifersüchtig. Das ist mein Hals, und wir wissen ja, dass du eine Schwäche für Ärzte hast.«

Sie lachte, und er drückte sie noch fester an sich.

»Nein«, sagte sie.

»Nicht?«, fragte er, hörte ihren Atem mit einem Mal schwerer gehen und spürte, wie sie ihren Körper an ihn schmiegte.

»Zur Hölle mit dir«, stöhnte sie. Rakel brauchte, wie sie selbst immer betonte, wenig Zeit, um warmzulaufen. Das Fluchen war immer das sicherste Zeichen, dass er sie überzeugt hatte.

»Vielleicht sollten wir es doch lassen«, flüsterte er und ließ sie los. »Wie der Garten wieder aussieht.«

»Zu spät«, knurrte sie.

Er knöpfte ihr die Jeans auf und zog sie ihr samt Slip über die Knie nach unten, bis sie auf dem Schaft der Stiefel lag. Sie beugte sich vor, legte die eine Hand an die Fensterbank und wollte mit der anderen den Hut abnehmen.

»Nein«, flüsterte er, den Kopf dicht neben ihrem. »Lass ihn auf.«

Ihr leises, glucksendes Lachen kitzelte in seinem Ohr. Gott, wie er dieses Lachen liebte! Dann mischte sich ein anderes Geräusch in das Lachen. Sein Handy vibrierte neben ihrer Hand auf der Fensterbank.

»Wirf es aufs Bett«, flüsterte er und sah ganz bewusst nicht aufs Display.

»Das ist Katrine Bratt«, sagte sie.

Rakel zog die Hose hoch und beobachtete ihn.

Sein Gesicht war hoch konzentriert.

»Wie lange ist das her?«, fragte er. »Verstehe.«

Sie sah, wie er sich mit der Stimme der anderen Frau am Ohr immer weiter von ihr entfernte. Sie wollte die Hände nach ihm ausstrecken, aber es war zu spät, er war bereits weg. Nur der nackte, magere Körper mit den sehnigen Muskeln unter der blassen Haut stand noch vor ihr. Seine Augen waren offen. Das verwaschene Blau der Iris zeugte von Jahren des Alkoholmissbrauchs. Er sah sie nicht mehr, sein Blick war nach innen gerichtet. Am Abend zuvor hatte er ihr erklärt, warum er diesen Fall hatte annehmen müssen. Sie hatte nicht protestiert. Denn wenn Oleg aus der Polizeihochschule flog, würde er rückfällig werden. Und wenn sie die Wahl hatte, Harry oder Oleg zu verlieren, würde sie lieber Harry verlieren. Damit hatte sie jahrelange Erfahrung, und sie wusste, dass sie ohne ihn leben konnte. Ob sie ohne ihren Sohn leben konnte, wusste sie nicht. Aber während er ihr erklärt hatte, dass er das für Oleg tat, hatte sie plötzlich das Echo von etwas gehört, das er erst kürzlich gesagt hatte: Es könnte nämlich irgendwann der Tag kommen, an dem ich tatsächlich ­lügen muss, und dann wäre es toll, wenn du mich für ehrlich halten würdest.

»Ich komme sofort«, sagte Harry. »Adresse?«

Harry beendete das Gespräch und begann sich anzuziehen. Schnell und effektiv. Wie eine Maschine, die tat, wofür sie gebaut worden war. Rakel beobachtete ihn, versuchte alles aufzunehmen, in dem Bewusstsein, dass sie ihn eine Weile nicht sehen würde.

Er eilte ohne einen Blick oder ein Wort des Abschieds an Rakel vorbei. Sie war ausgebootet, aus seinem Kopf gelöscht. Das vermochten seine beiden wahren Geliebten: Alkohol und Mord. Vor Letzterer hatte sie am meisten Angst.

Harry stand vor dem orange-weißen Absperrband, als vor ihm ein Fenster im Hochparterre des Hauses aufging. Katrine Bratt streckte den Kopf heraus.

»Lassen Sie ihn rein«, rief sie dem jungen Beamten zu, der ihm den Weg versperrte.

»Er kann sich nicht ausweisen«, protestierte der Polizist.

»Das ist Harry Hole«, rief Katrine.

»Wirklich?« Der Mann musterte Harry von Kopf bis Fuß, bevor er das Absperrband anhob. »Ich dachte, Sie wären bloß eine Legende«, sagte er.

Harry ging die drei Stufen zu der offenen Wohnungstür hoch. Drinnen folgte er den Miniflaggen, mit denen die Spurensicherung Fundstücke markierte. Zwei Kriminaltechniker knieten am Boden und kratzten etwas aus Bodenfugen.

»Wo …?«

»Da drin«, sagte einer der Techniker.

Harry blieb vor der Tür stehen, auf die der Techniker gezeigt hatte. Holte tief Luft und versuchte an nichts zu denken. Dann trat er ein.

Er nahm so viele Eindrücke auf, wie er konnte: Licht, Gerüche, Einrichtung, alles. Und alles, was nicht da war.

»Guten Morgen, Harry«, sagte Bjørn Holm.

»Kannst du kurz mal zur Seite treten?«, fragte Harry leise.

Bjørn ging vom Sofa weg, über das er sich gebeugt hatte. Die Leiche kam zum Vorschein. Harry trat einen Schritt zurück, ließ die Szenerie, die Komposition, das Gesamtbild auf sich wirken. Erst dann machte er wieder einen Schritt vor und begann sich Details zu notieren. Die Frau saß auf dem Sofa, die Beine gespreizt, ihr Kleid war nach oben gerutscht und der schwarze Slip zu sehen. Der Kopf lag nach hinten gekippt auf der Sofalehne und die langen, blond gefärbten Haare hingen herunter. In ihrem Hals klaffte ein großes Loch.

»Sie wurde da vorn ermordet«, sagte Bjørn und zeigte an die Wand neben dem Fenster. Harry ließ seinen Blick über die Tapete und den unbehandelten Holzboden schweifen.

»Weniger Blut«, sagte Harry. »Dieses Mal hat er nicht die Halsschlagader verletzt.«

»Vielleicht verfehlt«, sagte Katrine, die aus der Küche kam.

»Der muss verdammt starke Kiefer haben«, sagte Bjørn. »Die durchschnittliche Bisskraft beim Menschen entspricht etwa siebzig Kilo. Der Täter scheint den Kehlkopf und einen Teil der Luftröhre auf einmal abgebissen zu haben. Dafür braucht man selbst mit spitzen Eisenzähnen sehr viel Kraft.«

»Oder sehr viel Wut«, sagte Harry. »War in der Wunde Rost oder Farbe?«

»Nein, aber vielleicht ist alles, was lose war, schon abgegangen, als er Elise Hermansen gebissen hat.«

»Vielleicht hat er dieses Mal aber auch keine Eisenzähne benutzt, sondern etwas anderes. Die Leiche wurde auch nicht im Bett in Szene gesetzt.«

»Ich verstehe, auf was du hinauswillst, Harry, aber das ist derselbe Täter«, sagte Katrine. »Komm mal mit.«

Harry folgte ihr in die Küche. Einer der Kriminaltechniker nahm Proben von der Innenseite eines Glaskolbens, der in der Spüle stand.

»Er hat sich einen Smoothie gemacht«, sagte Katrine.

Harry schluckte und starrte auf den Kolben. Die Innenseite war rot.

»Aus Blut. Wahrscheinlich mit einer Zitrone aus dem Kühlschrank.« Sie zeigte auf die gelben Schalenreste auf der Anrichte.

Harry spürte die Übelkeit kommen. Das war wie mit dem ­ersten Glas, das einem immer wieder hochkam und das man auskotzen musste. Zwei Gläser später konnte man nicht mehr aufhören zu trinken. Er nickte und ging wieder nach draußen. Inspizierte kurz Badezimmer und Schlafzimmer, ehe er zurück ins Wohnzimmer ging. Er schloss die Augen und lauschte. Die Frau, ihr stummer Körper, die Art, wie sie inzeniert war. Wie Elise Hermansen. Und plötzlich war es da, das Echo. Das war er. Er musste es sein.

Als er die Augen wieder öffnete, sah er direkt in das Gesicht ­eines blonden jungen Mannes, den er irgendwo schon einmal gesehen hatte.

»Anders Wyller«, sagte der junge Mann. »Ermittler.«

»Ach ja«, sagte Harry. »Du hast vor zwei Jahren die Polizeihochschule absolviert, stimmt’s? Zwei Jahre?«

»Zwei Jahre.«

»Meinen Glückwunsch für die guten Noten.«

»Danke. Du erinnerst dich noch an die Noten?«

»Ich erinnere mich an gar nichts, das ist bloß die logische Schlussfolgerung. Deine Noten müssen gut gewesen sein, sonst wärst du nicht nach zwei Jahren schon beim Morddezernat.«

Anders Wyller lächelte. »Sag Bescheid, wenn ich störe, dann verziehe ich mich. Die Sache ist die, ich bin erst seit zweieinhalb Tagen hier, und wenn das jetzt ein Doppelmord ist, wird so bald niemand Zeit haben, mich einzuarbeiten. Deshalb wollte ich fragen, ob ich dir vielleicht ein bisschen über die Schulter schauen darf. Natürlich nur, wenn das okay für dich ist.«

Harry musterte den jungen Mann. Er erinnerte sich an ihn, er war immer wieder zu Harry in die Sprechstunde gekommen und hatte viele Fragen gestellt. So viele und manchmal völlig irrelevante, dass Harry ihn schon in Verdacht gehabt hatte, ein Holehead zu sein. Holehead war die Bezeichnung für Studierende an der Polizeihochschule, die von dem Mythos Harry Hole besessen waren. Einige extreme Fälle hatten sich wohl nur wegen ihm an der Hochschule beworben. Harry scheute sie wie der Teufel das Weihwasser. Aber Holehead oder nicht, Anders Wyller würde es mit seinem Abschluss, dem Ehrgeiz, seinem Lächeln und dem ungezwungenen Auftreten weit bringen können, dachte Harry. Doch bevor Wyller so weit war, sollte er sich ruhig nützlich machen und beispielsweise ein paar Morde aufklären.

»Okay«, sagte Harry. »Die erste Lektion ist, dass du von deinen neuen Kollegen enttäuscht sein wirst.«

»Enttäuscht?«

»Du bist stolz und motiviert, weil du glaubst, es bei der Polizei nun ganz nach oben geschafft zu haben. An dieser Stelle deshalb die erste Lektion: Mordermittler sind auch nur Menschen und nicht besser als andere. Wir sind nicht sonderlich intelligent, ­einige von uns sogar ausgemacht dumm. Wir machen Fehler, viele Fehler, und lernen nicht sonderlich viel daraus. Und wenn wir müde werden, entscheiden wir uns manchmal fürs Schlafen, statt weiter zu jagen, obwohl wir wissen, dass die Lösung des Falls unmittelbar bevorsteht. Wenn du also glaubst, dass wir dir die Augen öffnen, dich inspirieren und dir eine ganz neue Welt ermittlungstechnischer Raffinesse zeigen können, wirst du enttäuscht sein.«

»All das weiß ich doch längst, Harry.«

»Ach ja?«

»Ich arbeite seit zwei Tagen mit Truls Berntsen zusammen. Ich will nur wissen, wie du arbeitest.«

»Du hast meinen Kurs zum Thema Mordermittlung belegt.«

»Und ich weiß, dass das nicht deine Arbeitsweise ist. An was hast du gedacht?«

»Gedacht?«

»Als du mit geschlossenen Augen dagestanden hast. Das hast du in der Vorlesung nie gemacht.«

Harry sah, dass Bjørn sich aufgerichtet hatte und Katrine mit verschränkten Armen in der Tür stand und ihm aufmunternd zunickte.

»Okay«, sagte Harry. »Jeder hat seine Methode. Ich versuche, sämtliche Gedanken zu registrieren und zu sortieren, die mir durch den Kopf gehen, wenn ich an einen neuen Tatort komme. All die scheinbar unbedeutenden Schlüsse, die das Hirn ganz ­automatisch zieht, wenn wir etwas zum ersten Mal sehen. Gedanken, die wir ganz schnell wieder vergessen, weil es uns nicht gelingt, sie zu formulieren, bevor unsere Aufmerksamkeit sich wieder auf etwas anderes richtet. Wie Träume, die verschwinden, sobald man die Augen aufschlägt und all das andere um sich ­herum wahrnimmt. Neun von zehn dieser Gedanken sind wertlos. Beim zehnten kannst du hoffen, dass er wichtig ist.«

»Und?«, fragte Wyller. »War so ein Gedanke dabei?«

Harry zögerte. Sah Katrines abschätzenden Blick. »Das weiß ich nicht. Aber ich glaube, dass der Täter ein besonderes Faible für Reinlichkeit hat.«

»Reinlichkeit?«

»Er hat sein voriges Opfer von dem Ort, an dem er es umgebracht hat, zum Bett getragen. Serienmörder gehen eigentlich immer gleich vor, warum hat er dieses Opfer hier also im Wohnzimmer gelassen? Der einzige Unterschied zwischen dem Schlafzimmer in dieser Wohnung und dem bei Elise Hermansen ist, dass hier das Bettzeug schmutzig ist. Ich war gestern noch einmal in Hermansens Wohnung, als die Kriminaltechnik das Bettzeug geholt hat. Es hat nach Lavendel gerochen.«

»Er hat sich an der Toten im Wohnzimmer vergangen, weil er nicht mit dreckigem Bettzeug klarkommt?«

»Dazu kommen wir noch«, sagte Harry. »Hast du den Mixer in der Küche gesehen? Okay. Dann wirst du auch bemerkt haben, dass er den Glaskolben nach Benutzung in die Spüle gestellt hat? Das war nicht nötig, wenn er ihn nicht spülen wollte. War das also eine Zwangshandlung? Leidet er an einem Reinlichkeitstick, Bakterienphobie? Phobien sind ziemlich typisch für Serienmörder. Aber er hat sein Vorhaben nicht zu Ende gebracht, er hat den Kolben nicht abgespült, ihn nicht mal mit Wasser gefüllt, damit der Blutsmoothie nicht antrocknet. Und warum hat er das nicht getan?«

Anders Wyller schüttelte den Kopf.

»Okay, auch darauf kommen wir noch zurück«, sagte Harry und nickte in Richtung der Toten. »Wie du siehst, hat die Frau …«

»Der Nachbar hat sie als Ewa Dolmen identifiziert«, sagte Ka­trine. »Ewa mit w.«

»Danke. Ewa trägt, wie du siehst, noch immer ihren Slip. Im Gegensatz zu Elise, die hat er ausgezogen. Im Mülleimer im Bad lagen obenauf leere Tamponverpackungen, weshalb ich darauf tippe, dass Ewa gerade ihre Tage hat. Katrine, kannst du mal nachsehen?«

»Die Rechtsmedizinerin ist unterwegs.«

»Nur um zu schauen, ob meine Vermutung stimmt und der Tampon noch drin ist.«

Katrine zog die Stirn in Falten und tat, was Harry wollte, während die drei Männer sich abwendeten.

»Ja, du hast recht.«

Harry nahm ein Päckchen Camel aus der Jackentasche. »Was bedeutet, dass der Täter – außer er hat den Tampon wieder reingesteckt – sie nicht vaginal vergewaltigt hat. Weil er …« Harry zeigte mit seiner Zigarette auf Anders Wyller.

»Reinlich ist«, sagte Wyller.

»Das ist zumindest eine Möglichkeit«, fuhr Harry fort. »Die andere ist, dass er kein Blut mag.«

»Kein Blut mag?«, sagte Katrine. »Verdammt, der trinkt Blut.«

»Mit Zitrone«, sagte Harry und steckte sich die nicht angezündete Zigarette zwischen die Lippen.

»Was?«

»Das frage ich mich auch«, sagte Harry. »Was? Was bedeutet das? Ist ihm Blut zu süß?«

»Versuchst du, witzig zu sein?«, fragte Katrine.

»Nein, ich finde es nur sonderbar, dass jemand, von dem wir glauben, dass er Blut trinkt, um sexuelle Befriedigung zu finden, seinen Lieblingsdrink nicht pur zu sich nimmt. Leute nehmen ­Zitrone zu Gin oder Fisch, angeblich weil das den jeweiligen ­Eigengeschmack hervorhebt. Aber das stimmt nicht, Zitrone betäubt die Geschmacksknospen und überlagert alles. Wir nehmen Zitrone, um den Geschmack von etwas, das wir nicht mögen, abzuschwächen. Tran wird viel besser verkauft, seit Zitrone zugesetzt wird. Vielleicht mag unser Vampirist also gar kein Blut, vielleicht ist das Trinken von Blut nur eine Zwangshandlung.«

»Vielleicht ist er abergläubisch und trinkt das Blut, um die Kraft seiner Opfer zu übernehmen«, sagte Wyller.

»Auf jeden Fall ist er jemand, der von einem sexuellen Wahn angetrieben wird. Trotzdem hat er den Unterleib dieser Frau nicht angerührt. Und das vielleicht, weil sie blutet.«

»Ein Vampirist, der kein Menstruationsblut erträgt«, sagte ­Katrine. »Das soll mal einer verstehen …«

»Was uns zurückbringt zu dem Glaskolben«, sagte Harry. ­»Haben wir andere physische Spuren vom Täter oder nur diesen Kolben?«

»An der Eingangstür«, sagte Bjørn.

»An der Tür?«, fragte Harry. »Ich habe einen Blick auf das Schloss geworfen, als ich gekommen bin, das sieht nicht nach einem Einbruch aus.«

»Nein, es ist kein Einbruch. Es geht um die Tür. Du musst dir die Außenseite angucken.«

Die drei anderen standen draußen auf dem Flur und sahen zu, wie Bjørn das Seil löste, mit dem die Tür an einem Haken in der Wand festgebunden worden war. Sie schloss sich langsam, und die Außenseite kam zum Vorschein.

Harry erstarrte. Sein Herz schlug schneller. Sein Mund wurde trocken.

»Ich habe die Tür festgebunden, damit keiner von euch das anfasst«, sagte Bjørn.

Auf die Tür war ein V gemalt worden, über einen Meter hoch. Dass es ausfranste, lag an dem Blut, das langsam nach unten gelaufen war.

»Deshalb wurden wir gerufen«, sagte Katrine. »Die Nachbarn haben Ewas Katze auf dem Flur maunzen hören. Es kam nicht selten vor, dass die Katze ausgesperrt war, darum haben sie sie häufig mit in die Wohnung genommen, wenn Ewa die Tür nicht aufmachte. Inzwischen sei es für die Katze schon nicht mehr ganz klar, wohin sie eigentlich gehörte, meinten sie. Aber egal, als sie die Katze zu sich hereinlassen wollten, leckte die gerade an Ewas Tür. Und da Katzen für gewöhnlich keine Farbe mögen, war ihnen gleich klar, dass das V mit Blut gemalt worden sein musste.«

Die vier starrten wortlos auf die Tür.

Bjørn brach als Erster das Schweigen. »V für Victory?«

»V für Vampirist?«, sagte Katrine.

»Oder er hat einfach nur ein weiteres Opfer abgehakt«, schlug Wyller vor.

Die drei sahen Harry an.

»Ich weiß es nicht«, sagte er.

Katrine sah ihn eindringlich an. »Komm schon, ist sehe doch, dass dir etwas durch den Kopf geht.«

»Hm. V für Vampirist ist vielleicht kein schlechter Vorschlag. Das würde dazu passen, dass er sich so sehr anstrengt, um uns genau das zu zeigen.«

»Genau was?«

»Dass er etwas ganz Besonderes ist. Eisenzähne, der Smoothie-Mixer, dieser Buchstabe. Er empfindet sich selbst als einzigartig und zeigt uns Puzzlesteinchen, damit wir das auch erkennen. Er will, dass wir näher kommen.«

Katrine nickte.

Wyller zögerte, als verstünde er, dass seine Redezeit vorbei war, trotzdem wagte er einen Versuch.

»Meinst du, dass der Mörder tief in seinem Inneren verraten will, wer er ist?«

Harry antwortete nicht.

»Nicht, wer er ist, aber was«, sagte Katrine. »Er zeigt Flagge.«

»Darf ich fragen, was das bedeutet?«

»Bitte«, sagte Katrine. »Frag unseren Experten für Serienmorde.«

Harry starrte auf den Buchstaben. Es war jetzt nicht mehr das Echo eines Schreis. Es war ein Schrei. Der Schrei des Dämons.

»Das bedeutet …«, sagte Harry, entzündete das Feuerzeug, hielt die Flamme vor die Zigarette und nahm einen tiefen Zug. »Dass er spielen will.«

»Du glaubst, dass das V für etwas anderes steht«, sagte Katrine, als sie und Harry eine Stunde später aus der Wohnung aufbrachen.

»Tue ich das?«, fragte Harry und sah sich auf der Straße um. Tøyen. Das Stadtviertel der Einwanderer. Schmale Straßen, pakistanische Lebensmittelläden, Kopfsteinpflaster, Norwegischlehrer auf Fahrrädern, türkische Cafés, Mütter mit Hidschab, Studierende, Luft und Liebe und ein winziger Plattenladen, der ­Vinyl und Hardrock die Treue hielt. Harry liebte Tøyen. So sehr, dass er sich manchmal fragte, was er eigentlich da oben auf diesem Nobelhügel machte.

»Du wolltest es nur nicht laut sagen«, fuhr Katrine fort.

»Weißt du, was mein Großvater immer gesagt hat, wenn er mich beim Fluchen erwischt hat? Wenn du den Teufel rufst, dann kommt er. Nun …«

»Nun was?«

»Willst du, dass der Teufel kommt?«

»Wir haben es mit einem Doppelmord zu tun, Harry, vielleicht mit einer Serie. Kann es da noch schlimmer werden?«

»Ja«, sagte Harry. »Es kann.«

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