Kapitel 2
Donnerstagvormittag
Das gleißende Vormittagslicht fiel durch die Fenster ins Wohnzimmer und den Flur.
Die leitende Kriminalkommissarin Katrine Bratt stand schweigend vor dem Spiegel und betrachtete das Foto, das in dem Rahmen klemmte. Es zeigte eine Frau und ein kleines Mädchen. Beide saßen Arm in Arm auf einem glattgespülten Felsen am Meer. Mit nassen Haaren und in Handtücher gewickelt. Als wollten sie sich nach einem etwas zu kalten Bad im norwegischen Meer gegenseitig wärmen. Doch jetzt trennte sie etwas. Blut war über den Spiegel und das Foto gelaufen und wie eine Trennlinie genau zwischen den lächelnden Gesichtern angetrocknet. Katrine Bratt hatte keine Kinder. Möglicherweise hatte sie sich irgendwann einmal welche gewünscht, doch in diesem Moment ganz sicher nicht. Sie war gerade wieder Single geworden und auf gutem Wege, die Karriereleiter noch weiter nach oben zu klettern. Oder etwa nicht?
Sie hörte ein leises Räuspern und hob den Blick. Er begegnete einem vernarbten Gesicht mit vorspringender Stirn und seltsam hohem Haaransatz. Truls Berntsen.
»Was gibt’s, Herr Kommissar?«, fragte sie in gedehntem Ton und sah, wie seine Miene erstarrte. Sie spielte darauf an, dass er trotz fünfzehn Jahren Polizeidienst aus einem oder mehreren Gründen nie Kriminalkommissar im Dezernat für Gewaltverbrechen geworden wäre, hätte ihn sein Jugendfreund und jetziger Polizeipräsident Mikael Bellman dort nicht platziert.
Berntsen zuckte mit den Schultern. »Nichts, Sie leiten ja die Ermittlungen.« Er sah sie mit kaltem, zugleich unterwürfigem und boshaftem Hundeblick an.
»Befragen Sie die Nachbarn«, sagte Bratt. »Fangen Sie mit der Etage drunter an. Uns interessiert besonders, was die Leute gestern und heute Nacht gesehen und gehört haben. Und da Elise Hermansen allein wohnte, ist auch von Interesse, mit welchen Männern sie Umgang hatte.«
»Sie gehen also davon aus, dass das ein Mann war und dass sie sich von früher kannten?« Erst jetzt bemerkte Katrine Bratt den jungen Mann, fast noch ein Junge, der neben Berntsen stand. Offenes Gesicht, blond, hübsch.
»Anders Wyller, hab heute erst angefangen.« Helle Stimme, lächelnde Augen. Katrine dachte, dass er sich seiner Wirkung durchaus bewusst war. Das Zeugnis von seinem Chef in der Polizeistation Tromsø war die reinste Liebeserklärung gewesen. Aber okay, er hatte auch einen Lebenslauf, der zu ihm passte. Bestnoten an der Polizeihochschule, die er vor zwei Jahren abgeschlossen hatte, samt guter Resultate als Kommissaranwärter in Tromsø.
»Gehen Sie schon mal vor, Berntsen«, sagte Katrine.
Seine schlurfenden Schritte waren ein stiller Protest dagegen, von einer jüngeren Frau herumkommandiert zu werden.
»Willkommen«, sagte sie und streckte dem jungen Mann die Hand entgegen. »Tut mir leid, dass wir Sie an Ihrem ersten Tag nicht richtig willkommen heißen können.«
»Die Toten haben Priorität vor den Lebenden«, sagte Wyller, und Katrine erkannte das Harry-Hole-Zitat. Erst als sie sah, wie Wyller ihre Hand betrachtete, wurde ihr bewusst, dass sie noch die Latexhandschuhe trug.
»Die haben nichts Ekliges angefasst«, sagte sie.
Er lächelte. Weiße Zähne. Zehn Pluspunkte.
»Ich hab eine Latexallergie«, sagte er.
Zwanzig Minuspunkte.
»Okay, Wyller«, sagte Katrine Bratt noch immer mit ausgestreckter Hand. »Diese Handschuhe sind puderfrei und haben nur sehr wenig Allergene und Endotoxine, und wenn Sie wirklich im Dezernat für Gewaltverbrechen arbeiten wollen, müssen Sie die ziemlich oft anziehen. Aber wir können Sie natürlich ans Dezernat für Wirtschaftskriminalität abtreten, wenn Sie wollen …«
»Nee, danke«, sagte er lachend und ergriff ihre Hand. Sie spürte die Wärme seiner Haut durch das Latex.
»Ich bin Katrine Bratt, leitende Ermittlerin in diesem Fall. Und du darfst mich gerne duzen.«
»Danke. Du warst doch auch in dieser Harry-Hole-Gruppe, oder?«
»Harry-Hole-Gruppe?«
»Im Heizungsraum.«
Katrine nickte. Sie hatte die kleine, dreiköpfige Ermittlergruppe, die parallel und unabhängig von den offiziellen Ermittlungen im Einsatz gewesen war, nie Harry-Hole-Gruppe genannt … obwohl es das eigentlich ziemlich genau traf.
Inzwischen war Harry an der Polizeihochschule, Bjørn in Bryn bei der Kriminaltechnik, und sie selbst war ins Dezernat gewechselt, wo sie vor kurzer Zeit zur Chefermittlerin aufgestiegen war.
Wyllers Augen glänzten, noch immer lächelnd. »Schade, dass Harry Hole nicht …«
»Schade, dass wir jetzt nicht die Zeit haben, uns zu unterhalten, Wyller, wir müssen einen Mord aufklären. Begleite Berntsen, und halte Augen und Ohren offen.«
Anders Wyller verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen. »Du meinst also, dass ich von Kommissar Berntsen etwas lernen kann?«
Bratt zog die Augenbrauen hoch. Jung, selbstsicher, furchtlos. So weit, so gut, sie hoffte nur inständig, dass er nicht einer dieser Harry-Hole-Wannabes war.
Truls Berntsen drückte mit dem Daumen auf den Klingelknopf, hörte es drinnen läuten und dachte, dass er aufhören sollte, Nägel zu kauen. Er ließ den Knopf los.
Als er Mikael gebeten hatte, ins Dezernat für Gewaltverbrechen versetzt zu werden, hatte dieser ihn nach den Gründen für diese Bitte gefragt. Und Truls hatte freiheraus zugegeben, dass er auf der Karriereleiter gerne ein Stück weiter nach oben wollte, ohne sich dafür den Arsch aufzureißen. Jeder andere Polizeipräsident hätte Truls rausgeworfen, aber dieser konnte das nicht. Dafür hatten die beiden zu viel gegeneinander in der Hand. In jungen Jahren waren sie durch eine Art Freundschaft verbunden gewesen, später handelte es sich um eine Symbiose wie bei Putzerfisch und Hai. Inzwischen verbanden die gemeinsamen Sünden und Schweigegelübde sie untrennbar miteinander. Und bewirkten, dass Truls Berntsen sich nicht einmal verstellen musste, als er seine Bitte formulierte.
Dass diese Aktion wirklich klug gewesen war, bezweifelte Truls mittlerweile. Im Dezernat für Gewaltverbrechen gab es die Ermittler und die Analytiker. Als Dezernatsleiter Gunnar Hagen gesagt hatte, dass Truls selbst wählen könne, was er sein wollte, war Truls bewusst geworden, dass er ihm definitiv keine Verantwortung übertragen würde. Was ihm eigentlich nur recht war. Trotzdem hatte es ihm einen schmerzhaften Stich versetzt, als die Chefermittlerin Katrine Bratt ihn im Dezernat herumgeführt, ihn konstant Herr Kommissar genannt und sich dann extraviel Zeit genommen hatte, um ihm die Bedienung der Kaffeemaschine zu erklären.
Die Tür ging auf. Drei junge Frauen starrten ihn mit entsetzten Gesichtern an, ganz offensichtlich hatten sie bereits mitbekommen, was passiert war.
»Polizei«, sagte Truls und hielt seine Marke hoch. »Ich habe ein paar Fragen. Hat jemand von Ihnen etwas gehört, also zwischen …«
»… ein paar Fragen, für deren Beantwortung wir auf Ihre Mithilfe hoffen«, sagte eine Stimme hinter ihm. Der Neue. Wyller. Truls sah das Entsetzen aus den Gesichtern der Frauen weichen, ihre Mienen entspannten sich sichtlich.
»Natürlich«, sagte diejenige, die die Tür geöffnet hatte. »Wissen Sie schon, wer … also wer das da … war?«
»Dazu können wir natürlich nichts sagen«, erwiderte Truls.
»Aber was wir sagen können«, übernahm Wyller, »ist, dass Sie sich keine Sorgen zu machen brauchen. Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie studieren und sich die Wohnung als WG teilen?«
»Ja«, sagten sie im Chor, als wollte jede die Erste sein.
»Dürfen wir kurz reinkommen?« Wyllers Lächeln war so strahlend wie das von Bellman, stellte Truls fest.
Die jungen Frauen gingen ins Wohnzimmer voraus. Zwei von ihnen räumten schnell ein paar Bierflaschen und Gläser vom Tisch und verließen damit den Raum.
»Wir hatten gestern eine Party«, sagte die dritte entschuldigend. »Das ist so schrecklich.«
Truls war sich nicht sicher, ob sie den Mord an der Nachbarin meinte oder dass er passiert war, während sie gefeiert hatten.
»Haben Sie gestern Abend zwischen zehn Uhr und Mitternacht irgendetwas gehört?«, fragte Truls.
Die junge Frau schüttelte den Kopf.
»Hatte Else …?«
»Elise«, korrigierte Wyller sie, der mittlerweile Block und Stift gezückt hatte. Truls dachte, dass er das vielleicht auch tun sollte.
Er räusperte sich. »Hatte Ihre Nachbarin einen Freund, der öfter mal hier war?«
»Weiß ich nicht«, antwortete die junge Frau.
»Danke, das war schon alles«, sagte Truls und drehte sich um, um zur Tür zu gehen, als die beiden anderen zurückkamen.
»Vielleicht sollten wir auch noch hören, was die anderen zu sagen haben«, meinte Wyller. »Ihre Freundin hat angegeben, dass sie gestern Abend nichts gehört hat und nicht weiß, ob es Personen gibt, mit denen Elise Hermansen in der letzten Zeit regelmäßig Kontakt hatte. Haben Sie da noch etwas hinzuzufügen?«
Die zwei sahen sich an, ehe sie sich wieder Wyller zuwandten und synchron ihre blonden Köpfe schüttelten. Truls entging nicht, dass sie ihre ganze Aufmerksamkeit auf den jungen Ermittler richteten, aber das machte ihm nichts aus, er hatte weitreichend Erfahrung damit, übersehen zu werden. War den kleinen Stich in der Brust gewohnt, seit Ulla ihn damals in der weiterführenden Schule endlich einmal angesprochen hatte, nur um zu fragen, ob er wisse, wo Mikael sei. Und ob er ihm etwas ausrichten könne – schließlich gab es damals noch keine Handys. Einmal hatte Truls gesagt, dass das nicht einfach werden würde, da Mikael mit einer Freundin beim Zelten sei. Dabei war das mit dem Zelten gelogen, aber er wollte wenigstens einmal denselben Schmerz, seinen Schmerz, in ihrem Blick sehen.
»Wann haben Sie Elise zuletzt gesehen?«, fragte Wyller.
Die drei jungen Frauen sahen sich noch einmal an. »Wir haben sie nicht gesehen, aber …«
Die eine kicherte und hielt sich entsetzt die Hand vor den Mund, als ihr klarwurde, wie unpassend ihr Verhalten war. Die junge Frau, die ihnen die Tür geöffnet hatte, räusperte sich. »Enrique hat heute Morgen angerufen und erzählt, dass er und Alfa auf dem Weg nach Hause ins Treppenhaus gepinkelt haben.«
»Die sind echt asozial«, sagte die Größte von den dreien.
»Sie waren halt betrunken«, sagte die Dritte und kicherte wieder.
Die junge Frau, die die Tür geöffnet hatte, warf den beiden anderen einen tadelnden Blick zu. »Auf jeden Fall ist eine Frau ins Haus gekommen, als sie da standen, und sie haben angerufen, um sich für ihr Verhalten zu entschuldigen, falls wir wegen ihnen Ärger kriegen.«
»Wie rücksichtsvoll von den beiden«, sagte Wyller. »Und sie glauben, diese Frau war …«
»Sie sind sicher. Die beiden haben im Internet gelesen, dass eine Dreißigjährige ermordet wurde, das Haus war auf Fotos zu sehen. Sie haben weiter gegoogelt und in einer Netzzeitung ein Bild von ihr gefunden.«
Truls grunzte. Er hasste Journalisten. Das waren alles verfluchte Aasgeier. Er trat ans Fenster und sah nach draußen auf die Straße. Und da standen sie, nur zurückgehalten vom Absperrband der Polizei, mit ihren langen Teleobjektiven wie Schnäbel vor den Gesichtern, um, sobald sich die kleinste Chance bot, ein Foto zu schießen, sich ein Stückchen der Toten zu sichern, wenn sie aus dem Haus getragen wurde. Neben dem wartenden Krankenwagen stand ein Typ mit grün-gelb-rot gestreifter Rastamütze und sprach mit den weißgekleideten Kollegen von der Spurensicherung. Bjørn Holm von der Kriminaltechnik. Holm nickte den Kollegen zu und verschwand wieder im Haus. Er ging gekrümmt, zusammengesunken, als hätte er Magenschmerzen, und Truls fragte sich, ob das etwas damit zu tun hatte, dass der Tölpel mit dem runden Gesicht und den Dorschaugen gerade von Katrine Bratt abserviert worden war. Gut. Dann wussten wenigstens auch noch andere, wie es war, gedemütigt zu werden. Wyllers helle Stimme plätscherte im Hintergrund. »Die heißen also Enrique und …?«
»Nein, nein!« Die jungen Frauen lachten. »Henrik. Und Alf.«
Truls schaute Wyller an und nickte in Richtung Tür.
»Danke, meine Damen, das war schon alles«, sagte Wyller. »Das heißt, ach ja, kann ich noch ihre Telefonnummern bekommen?«
Die Frauen starrten ihn mit so etwas wie freudigem Entsetzen an.
»Die von Henrik und Alf«, fügte er grinsend hinzu.
Katrine stand hinter der Rechtsmedizinerin, die neben dem Bett im Schlafzimmer in die Hocke gegangen war. Elise Hermansen lag auf dem Rücken, die Decke unter sich. So, wie das Blut auf ihrer weißen Bluse verteilt war, musste sie gestanden haben, als ihr die Verletzungen zugefügt worden waren. Vermutlich vor dem Spiegel. Der Teppich davor war derart mit Blut getränkt, dass er am Parkett festklebte. Die Blutspuren zwischen Flur und Schlafzimmer und die geringe Menge Blut im Bett zeigten zudem, dass das Herz von Elise Hermansen wohl schon im Flur zu schlagen aufgehört hatte. Ausgehend von der Körpertemperatur und dem rigor mortis, nahm die Rechtsmedizinerin an, dass der Tod irgendwann zwischen dreiundzwanzig Uhr und ein Uhr nachts eingetreten war. Die Todesursache war vermutlich der Blutverlust, nachdem die Halsschlagader durch einen oder mehrere Stiche seitlich am Hals und über der linken Schulter punktiert worden war.
Die Hose und der Slip waren ihr heruntergezogen worden.
»Ich habe ihre Nägel gesäubert und geschnitten, kann mit bloßem Auge aber keine Hautreste sehen«, sagte die Rechtsmedizinerin.
»Seit wann machen Sie die Arbeit der Kriminaltechnik?«, fragte Katrine.
»Seit Bjørn uns darum gebeten hat«, antwortete sie. »Er kann so nett fragen.«
»Ach ja? Gibt es noch andere Wunden?«
»Sie hat eine Hautabschürfung am linken Unterarm und einen Splitter im Mittelfinger der linken Hand.«
»Ist sie vergewaltigt worden?«
»Es gibt keine sichtbaren Spuren für Gewalt im Genitalbereich, aber das hier …« Sie hielt eine Lupe über den Bauch des Opfers. Katrine sah hindurch und erkannte einen dünnen weißen Streifen. »… könnte Speichel von ihr oder jemand anderem sein, sieht aber eher nach Präejakulat oder Sperma aus.«
»Wollen wir das mal hoffen«, sagte Katrine.
»Hoffen, dass sie vergewaltigt wurde?« Bjørn Holm war ins Zimmer getreten und hatte sich hinter sie gestellt.
»Wenn es eine Vergewaltigung war, deutet alles darauf hin, dass sie post mortem stattgefunden hat«, sagte Katrine, ohne sich umzudrehen. »Dann hat sie das eh nicht mehr mitbekommen. Und ich würde schon gerne etwas Sperma haben.«
»Hab nur Spaß gemacht«, sagte Bjørn leise in seinem charakteristischen Dialekt.
Katrine schloss die Augen. Natürlich wusste er, dass Sperma bei einem Fall wie diesem das ultimative »Sesam, öffne dich!« war. Und natürlich versuchte er, die düstere Stimmung aufzuhellen, die seit ihrem Auszug vor drei Monaten zwischen ihnen herrschte. Auch sie versuchte das immer wieder, aber es wollte ihr einfach nicht gelingen.
Die Rechtsmedizinerin sah zu ihnen hoch. »Ich bin dann hier fertig«, sagte sie und rückte ihren Hidschab zurecht.
»Der Krankenwagen ist da. Meine Leute bringen den Leichnam dann runter«, sagte Bjørn. »Danke für deine Hilfe, Zahra.«
Die Rechtsmedizinerin nickte und beeilte sich, aus dem Zimmer zu kommen. Bestimmt spürte auch sie die angespannte Stimmung.
»Und?«, fragte Katrine und zwang sich, Bjørn anzusehen und seinen finsteren Blick, in dem mehr Trauer als Vorwurf lag, zu ignorieren.
»Da gibt es nicht viel zu sagen«, meinte er und kratzte sich den dichten roten Wangenbart unter der Rastamütze.
Katrine wartete, sie hoffte, dass sie noch immer über den Mord redeten.
»Sie war nicht gerade die Reinlichste, wir haben Haare von einer ganzen Reihe von Personen gefunden – hauptsächlich Männer. Und die werden vermutlich nicht alle gestern Abend hier gewesen sein.«
»Sie war Anwältin«, sagte Katrine. »Einer alleinstehenden Frau mit einem anspruchsvollen Job ist Sauberkeit vielleicht nicht so wichtig wie dir.«
Er lächelte kurz, ohne ihr zu widersprechen. Und Katrine spürte den Anflug eines schlechten Gewissens, das er ihr immer irgendwie machte. Sie hatten sich nie übers Putzen gestritten, Bjørn hatte immer klaglos gespült, die Treppe gewischt, Wäsche gewaschen oder gestaubsaugt. Wie auch alles andere. Nicht ein verfluchter Streit in dem ganzen Jahr, das sie zusammengewohnt hatten, dem wich er grundsätzlich aus. Und wenn sie mal nicht mehr gekonnt hatte, war er da gewesen, aufmerksam, fürsorglich, unermüdlich wie eine beschissene Maschine, so dass sie sich wie eine verwunschene Prinzessin gefühlt hatte. Je mehr er tat, desto schlimmer.
»Woher weißt du eigentlich, dass die Haare von Männern stammen?«, fragte sie seufzend.
»Eine alleinstehende Frau mit einem anspruchsvollen Job …«, sagte Bjørn, ohne sie anzusehen.
Katrine verschränkte die Arme. »Was willst du damit sagen, Bjørn?«
»Was?« Sein blasses Gesicht bekam eine leicht rötliche Färbung, und seine Augen traten noch deutlicher hervor.
»Dass ich rumvögel? Wenn du Details wissen willst …«
»Nein!« Bjørn hob beschwichtigend die Hände. »Sorry, so meinte ich das nicht. War nur ein schlechter Scherz.«
Katrine wusste, dass sie Verständnis haben sollte. Und manchmal hatte sie das auch. Aber nicht so, dass man jemanden tröstend in den Arm nehmen wollte. Sie empfand eher Verachtung, das Bedürfnis, auf ihn einzuschlagen und ihn zu demütigen. Und um genau das nicht erleben zu müssen, um Bjørn Holm, diesen feinen Mann, niemals gedemütigt zu sehen, hatte sie ihn verlassen. Katrine Bratt holte tief Luft.
»Männer also?«
»Die meisten Haare waren kurz«, sagte Bjørn. »Mal sehen, ob die Analysen meine Annahme bestätigen. Auf jeden Fall haben wir genug DNA, um die Rechtsmedizin für eine ganze Weile zu beschäftigen.«
»Okay«, sagte Katrine und drehte sich wieder zu der Toten um. »Irgendeine Idee, womit er sie erstochen haben könnte? Es sieht so aus, als hätte er auf sie eingehackt. Die Stiche liegen dicht beieinander.«
Bjørn schien erleichtert zu sein, dass sich ihr Gespräch wieder auf den Fall richtete.
Mann, bin ich müde, dachte Katrine.
»Es ist nicht leicht zu erkennen, aber die Stiche bilden ein Muster«, sagte er. »Genauer gesagt, zwei Muster.«
»Ja?«
Bjørn trat dicht an die Leiche heran und zeigte unter den kurzen blonden Haaren auf ihren Hals. »Siehst du nicht, dass die Stiche wie zwei etwas abgerundete Vierecke angeordnet sind, die sich ein wenig überschneiden? Hier und hier?«
Katrine neigte den Kopf zur Seite. »Jetzt, wo du es sagst …«
»Wie zwei Bisse.«
»Verdammt«, rutschte es Katrine heraus. »Ein Tier?«
»Wer weiß. Stell dir mal vor, wie die Haut zusammengequetscht wird, wenn sich Ober- und Unterkiefer schließen. Das ergibt so einen Abdruck wie hier.« Bjørn Holm zog ein Stück transparentes Papier aus der Tasche, das Katrine als das Butterbrotpapier erkannte, in das er immer seine Brote einschlug, bevor er zur Arbeit ging. Die Abdrücke hatten die gleiche Form. Er hielt das Papier dicht über die Einstiche im Hals. »Ziemlich viel Ähnlichkeit mit dem Biss von einem Landei wie mir, wenn du mich fragst.«
»Aber Menschenzähne können doch so etwas nicht anrichten.«
»Stimmt, trotzdem sieht der Abdruck aus wie von einem Menschen.«
Katrine befeuchtete sich die Lippen. »Es gibt Menschen, die ihre Zähne spitz feilen lassen.«
»Wenn das Zähne waren, finden wir vielleicht Speichel in der Wunde. Wie auch immer, wenn er im Flur war, als er sie gebissen hat, muss er hinter ihr gestanden haben und größer als sie sein.«
»Die Rechtsmedizinerin hat unter den Nägeln der Toten nichts gefunden, ich nehme an, er hat sie festgehalten«, sagte Katrine. »Ein kräftiger, mittelgroßer bis großer Mann mit Raubtierzähnen.«
Schweigend betrachteten sie den Leichnam. Wie ein junges Paar in einer Kunstausstellung, das überlegt, mit welchen Gedanken der andere zu beeindrucken wäre, dachte Katrine. Nur mit dem Unterschied, dass Bjørn es nie darauf anlegte, andere zu beeindrucken. Das war eher ihr Ding.
Katrine hörte Schritte im Flur. »Ich will hier nicht noch mehr Leute haben!«, rief sie.
»Wollte nur sagen, dass im angegebenen Zeitraum nur in zwei Wohnungen jemand war und dass keiner von denen etwas gehört oder gesehen hat.« Wyllers helle Stimme. »Und ich habe gerade mit zwei jungen Männern gesprochen, die Elise Hermansen gesehen haben, als sie nach Hause gekommen ist. Sie sagen, sie wäre allein gewesen.«
»Und diese jungen Männer sind …«
»… nicht vorbestraft, haben eine Taxiquittung, aus der hervorgeht, dass sie hier gegen halb zwölf den Abflug gemacht haben. Sie sagen, dass Elise Hermansen sie überrascht habe, als sie unten in den Hausflur gepinkelt haben. Soll ich sie einbestellen?«
»Das sind sicher nicht die Täter, aber lad sie trotzdem vor.«
»Okay.«
Wyllers Schritte entfernten sich.
»Sie ist allein gekommen, und es gibt keine Anzeichen für einen Einbruch«, sagte Bjørn. »Glaubst du, sie hat ihn freiwillig reingelassen?«
»Nur, wenn sie ihn gut kannte.«
»Was?«
»Elise war Anwältin, sie wusste, was passieren konnte. Und die Kette an der Tür sieht noch ganz neu aus. Ich glaube, sie war ein vorsichtiges Mädchen.« Katrine hockte sich noch einmal neben die Tote und musterte den Splitter, der aus Elises Mittelfinger ragte. Und die Hautabschürfung auf ihrem Unterarm.
»Anwältin?«, fragte Bjørn. »Wo?«
»Hollumsen & Skiri. Sie haben die Polizei alarmiert, weil Hermansen einen Gerichtstermin nicht wahrgenommen hat und auch nicht ans Telefon gegangen ist. Es ist nicht ungewöhnlich, dass Anwälte, die sich für Vergewaltigungsopfer einsetzen, von Sexualstraftätern bedroht werden.«
»Glaubst du, dass ein …?«
»Nein, ich glaube, wie gesagt, nicht, dass sie jemanden reingelassen hat. Aber …« Katrine zog die Stirn in Falten. »Was würdest du sagen, welche Farbe dieser Splitter da hat?«
Bjørn beugte sich über die Tote. »Weiß ist er jedenfalls nicht.«
»Rosa«, sagte Katrine und stand auf. »Komm!«
Katrine öffnete die Wohnungstür und zeigte auf den abgesplitterten Rahmen auf der Außenseite. »Rosa.«
»Wenn du das sagst«, brummte Bjørn.
»Siehst du das nicht?«, fragte sie ungläubig.
»Die Forschung hat längst nachgewiesen, dass Frauen generell mehr Farbnuancen sehen als Männer.«
»Aber das hier siehst du?«, fragte Katrine und hielt die Sicherheitskette hoch, die auf der Innenseite der Tür hing.
Bjørn beugte sich zu ihr vor. Sein Duft versetzte ihr einen Stich. Vielleicht störte sie auch einfach nur die plötzliche Intimität.
»Da ist Haut«, sagte er.
»Vom Unterarm. Verstehst du?«
Er nickte langsam. »Sie hat sich den Arm an der Kette aufgeschürft, also war die dran. Nicht er hat sich an ihr vorbeigedrängt, um reinzukommen, sondern sie hat versucht, aus der Wohnung zu fliehen.«
»In Norwegen werden normalerweise keine Sicherheitsketten benutzt. Wir schließen ab, und das war’s. Wenn sie ihn vorher reingelassen hätte, einen kräftigen Mann, den sie kannte …«
»… hätte sie die Kette nicht wieder vorgelegt. Dann hätte sie sich sicher gefühlt.«
»Ergo«, übernahm Katrine, »war er bereits in der Wohnung, als sie nach Hause kam.«
»Ohne dass sie es wusste.«
»Sie hat die Kette vorgelegt, weil sie glaubte, dass das Gefährliche draußen lauert.« Katrine lief ein Schauer über den Rücken. Eine grauenvolle Erkenntnis, aber genau der Moment, in dem sie als Mordermittlerin mit einem Mal alles sah und verstand.
»Harry wäre jetzt sehr zufrieden mit dir«, sagte Bjørn. Und lachte.
»Was ist?«, fragte sie.
»Du wirst rot.«
Mann, bin ich fertig, dachte Katrine.