Kapitel 37
Mittwochnachmittag
Harry schob die turmhohen Stapel der schriftlichen Prüfungen zur Seite, um die beiden jungen Männer besser sehen zu können, die vor seinem Schreibtisch Platz genommen hatten.
»Ich habe eure Antworten im Fall des Fünften Zeichens gelesen«, sagte er. »Kompliment dafür, dass ihr in eurer Freizeit eine Aufgabe löst, die ich dem Abschlussjahrgang gestellt habe …«
»Aber?«, fragte Oleg.
»Kein Aber.«
»Unsere Lösungen sind besser als die der anderen, nicht wahr?« Jesus hatte die Hände hinter seinen langen schwarzen Zopf gelegt.
»Nein«, sagte Harry.
»Nicht? Und wer war besser?«
»Die Gruppe um Ann Grimset, glaube ich.«
»Was?«, fragte Oleg. »Die hatten doch noch nicht mal einen klaren Hauptverdächtigen.«
»Stimmt, sie sind wirklich zu dem Ergebnis gekommen, keinen Hauptverdächtigen zu haben. Und basierend auf den Informationen, die sie bekommen haben, war diese Schussfolgerung richtig. Ihr habt die richtige Person ins Visier genommen, aber nur, weil ihr euch nicht zurückhalten konntet und über Google recherchiert habt, wer vor zwölf Jahren tatsächlich der Schuldige gewesen ist. Deshalb hakt es bei euch beim Fazit. Ihr habt einige falsche Schlüsse gezogen, um zur richtigen Antwort zu kommen.«
»Dann hast du eine Aufgabe gestellt, für die es keine richtige Lösung gibt?«, fragte Oleg.
»Nicht auf Basis der gegebenen Informationen«, sagte Harry. »Ein Vorgeschmack auf die Zukunft, wenn ihr wirklich Ermittler werden wollt.«
»Und was macht man dann?«
»Neue Informationen suchen«, sagte Harry, »oder man kombiniert das, was man bereits hat, auf neue Weise. Häufig ist die Lösung eines Falls schon in dem Material verborgen, das man hat.«
»Und wie war das dann bei dem Vampiristenfall?«, fragte Jesus.
»Ein paar neue Informationen. Und etwas, das wir schon hatten.«
»Hast du gesehen, was heute in der VG stand?«, fragte Oleg. »Dass Lenny Hell Valentin Gjertsen verleitet hat, die Frauen zu töten, wegen denen Hell eifersüchtig war. Genau wie in Othello.«
»Hm. Ich meine mich zu erinnern, dass du gesagt hast, dass das Mordmotiv in Othello nicht in erster Linie Eifersucht, sondern Ehrgeiz war.«
»Dann halt das Othello-Syndrom. Den Artikel hat übrigens nicht Mona Daa geschrieben. Merkwürdig, ich habe schon lange nichts mehr von ihr gelesen.«
»Wer ist Mona Daa?«, fragte Jesus.
»Die einzige Kriminaljournalistin, die wirklich einen Überblick hat«, sagte Oleg. »Eine seltsame Frau aus dem Norden. Trainiert mitten in der Nacht und benutzt Old Spice. Aber Harry, jetzt erzähl schon!«
Harry musterte die beiden hochkonzentrierten Gesichter vor sich und versuchte, sich zu erinnern, ob er selbst als Polizeischüler auch einmal so motiviert gewesen war. Vermutlich nicht. Er hatte die meiste Zeit einen Kater gehabt und es nicht abwarten können, sich wieder volllaufen zu lassen. Diese beiden waren besser. Er räusperte sich. »Okay. Aber dann ist das hier eine Vorlesung, und ich erinnere euch daran, dass ihr als Polizeischüler der Schweigepflicht unterliegt. Verstanden?«
Die beiden nickten und beugten sich noch weiter vor.
Harry lehnte sich im Stuhl zurück. Spürte das Verlangen nach Nikotin und wusste, dass die Zigarette auf der Treppe gut schmecken würde.
»Wir sind Hells PC durchgegangen und haben darin wirklich alles gefunden«, sagte er. »Ablaufpläne, Tagebucheinträge, Informationen über die Opfer, über Valentin Gjertsen alias Alexander Dreyer und Hallstein Smith. Und über mich …«
»Über Sie?«, fragte Jesus.
»Lass ihn weiterreden«, sagte Oleg.
»Hell hat sich selbst eine Anleitung geschrieben, wie er die Schlüssel dieser Frauen kopieren kann. Er hatte herausgefunden, dass acht von zehn Frauen bei einem Tinder-Date ihre Tasche am Tisch liegen lassen, wenn sie auf die Toilette gehen, und dass die Schlüssel in der Regel in der kleinen Seitentasche mit dem Reißverschluss aufbewahrt werden. Dass es durchschnittlich fünfzehn Sekunden dauert, einen beidseitigen Wachsabdruck von drei Schlüsseln zu machen, und dass es schneller geht, die Schlüssel zu fotografieren. Er war sich aber auch darüber im Klaren, dass bestimmte Schlüsseltypen anhand von Fotos nicht in ein genaues 3-D-Profil zu übertragen waren, so dass mit dem 3-D-Drucker keine Kopien möglich waren.«
»Wollen Sie damit sagen, dass er schon beim ersten Date wusste, dass er eifersüchtig sein würde?«, fragte Jesus.
»In manchen Fällen vermutlich schon«, sagte Harry. »Er hat geschrieben, dass es keinen Grund gab, sich nicht den Zugang zu ihren Wohnungen zu sichern, wenn das so einfach war.«
»Creepy«, flüsterte Jesus.
»Was hat ihn dazu gebracht, Valentin auszuwählen, und wie hat er ihn gefunden?«, fragte Oleg.
»Alles, was er brauchte, stand in den Patientenakten, die er bei Smith gestohlen hat. In diesen Unterlagen war vermerkt, dass Alexander Dreyer ein Mann mit derart lebhaften vampiristischen Mordphantasien war, dass Smith erwogen hatte, ihn zu melden. Dagegen sprach allerdings, dass Dreyer einen hohen Grad an Selbstbeherrschung zeigte und ein ziemlich geordnetes Leben führte. Ich nehme an, dass die Kombination aus Mordlust und Selbstbeherrschung ihn für Hell zum perfekten Kandidaten gemacht hat.«
»Aber was hatte Hell Valentin Gjertsen anzubieten?«, fragte Jesus. »Geld?«
»Blut«, sagte Harry. »Junges, warmes Blut von weiblichen Opfern, die in keinerlei Zusammenhang mit Dreyer standen.«
»Morde ohne offensichtliche Motive und ohne dass Mörder und Opfer zuvor jemals in Kontakt standen, sind am schwersten aufzuklären«, sagte Oleg, während Jesus zustimmend nickte. Harry wurde bewusst, dass das Zitat aus einer seiner Vorlesungen stammte.
»Hm. Für Valentin war es das Wichtigste, seinen Decknamen Alexander Dreyer komplett aus der Sache herauszuhalten. Neben seinem neuen Gesicht hatte es ihm dieser Name ermöglicht, wieder unter die Leute zu gehen, ohne entlarvt zu werden. Dass kommuniziert wurde, dass Valentin Gjertsen hinter den Morden stand, machte ihm keine großen Sorgen. Am Ende konnte er ja nicht mal der Verlockung widerstehen, uns vorzuführen, wer hinter den Taten steht.«
»Uns?«, fragte Oleg. »Oder dir?«
Harry zuckte mit den Schultern. »Egal. Es hat uns dem Mann, nach dem wir schon all diese Jahre fahnden, ja kein bisschen näher gebracht. Er konnte Hells Regie uneingeschränkt folgen und weitermorden. Und das ohne Risiko, denn mit Hells Schlüsselkopien kam Valentin ja in die Wohnungen der Opfer.«
»Eine perfekte Symbiose«, sagte Oleg.
»Wie Hyäne und Geier«, flüsterte Jesus. »Der Geier zeigt der Hyäne den Weg, indem er über dem verletzten Tier kreist, und die Hyäne bringt es dann um. Fressen für beide.«
»Valentin tötet also Elise Hermansen, Ewa Dolmen und Penelope Rasch«, sagte Oleg. »Aber was ist mit Marte Ruud? Kannte Lenny Hell auch sie?«
»Nein, das war Valentins eigenes Werk. Und diese Tat war gegen mich gerichtet. Er hatte in der Zeitung gelesen, dass ich ihn als armseligen Perversen bezeichnet habe, und hat sich deshalb jemanden gesucht, der mir nahestand.«
»Nur, weil Sie ihn als Perversen bezeichnet haben?« Jesus verzog das Gesicht.
»Narzissten werden gerne geliebt«, sagte Harry. »Oder gehasst. Dann bestätigt und festigt die Furcht der anderen ihr Selbstbild. Was sie als kränkend empfinden, ist übersehen oder verachtet zu werden.«
»Dasselbe ist dann doch noch mal bei diesem Podcast mit Smith passiert«, sagte Oleg. »Valentin hat rotgesehen und ist direkt zum Hof gefahren, um ihn zu töten. Glaubst du, dass Valentin da eine akute Psychose hatte? Ich meine, er hat sich so lange beherrscht, und seine ersten Morde waren kalte, durchgeplante Aktionen. Aber Smith und Marte Ruud scheinen eher spontane Reaktionen zu sein.«
»Vielleicht«, sagte Harry. »Es ist aber auch möglich, dass er inzwischen das Selbstvertrauen hatte, das Serienmörder oft entwickeln, wenn ihre ersten Morde problemlos verlaufen sind. Manche glauben dann, sie könnten über Wasser laufen.«
»Aber warum hat Lenny Hell sich umgebracht?«, fragte Jesus.
»Tja«, sagte Harry. »Irgendwelche Vorschläge?«
»Ist das nicht offensichtlich?«, fragte Oleg. »Lenny hat Morde an Frauen geplant, die ihn gedemütigt und es deshalb verdient hatten, aber plötzlich hatte er auch das Blut von Marte Ruud und Mehmet Kalak an den Händen. Zwei Unschuldige, die nichts mit alldem zu tun hatten. Sein Gewissen hat sich gemeldet, und er konnte nicht mehr mit dem leben, was er angerichtet hatte.«
»Nee«, sagte Jesus. »Lenny hat von Anfang an vorgehabt, sich umzubringen, wenn das alles vorüber war. Es ging um diese drei Frauen, die er töten wollte. Elise, Ewa und Penelope.«
»Ich bezweifle das«, sagte Harry. »Hell hatte noch weitere Frauennamen in seinen Aufzeichnungen, samt den dazugehörigen Schlüsseln.«
»Okay, und was, wenn er sich nicht selbst das Leben genommen hat?«, fragte Oleg. »Was, wenn Valentin ihn getötet hat? Sie könnten sich über die Morde an Mehmet und Marte gestritten haben. Für Lenny waren das ja unschuldige Opfer. Vielleicht wollte Lenny sich stellen, und Valentin hat das herausbekommen.«
»Oder Valentin war Lenny ganz einfach leid«, sagte Jesus. »Es kommt durchaus vor, dass eine Hyäne sich mal einen Geier schnappt, wenn diese ihm zu nahe kommen.«
»Auf dem Kugelschussapparat sind nur Lennys Fingerabdrücke«, sagte Harry. »Natürlich ist es möglich, dass Valentin Lenny umgebracht und diese Tat dann wie einen Selbstmord hat aussehen lassen. Aber warum sollte er sich diese Mühe machen? Die Polizei hatte ja schon genug andere Morde, um ihn lebenslänglich wegzusperren. Und wenn Valentin es darauf angelegt hätte, all seine Spuren zu verwischen, hätte er Marte Ruuds Leiche nicht im Keller gelassen. Ganz zu schweigen von dem PC und den Dokumenten oben im zweiten Stock, die ja beweisen, dass er mit Hell zusammengearbeitet hat.«
»Okay«, sagte Jesus. »Was den ersten Vorschlag angeht, bin ich der gleichen Meinung wie Oleg. Lenny Hell hat eingesehen, was er ausgelöst hat, und wollte damit nicht länger leben.«
»Das, was man als Erstes sagt, sollte man immer ernst nehmen«, sagte Harry. »In der Regel basiert das auf mehr Informationen, als einem bewusst ist. Und das Einfache ist häufig sowieso richtig.«
»Es gibt da aber eine Sache, die ich nicht verstehe«, sagte Oleg. »Lenny und Valentin wollten nicht zusammen gesehen werden, in Ordnung. Aber warum so komplizierte Übergaben? Hätten sie sich nicht einfach bei einem der beiden zu Hause treffen können?«
Harry schüttelte den Kopf. »Für Lenny war es wichtig, seine Identität vor Valentin verborgen zu halten. Das Risiko, dass Valentin irgendwann gefasst werden würde, war ja nicht gerade gering.«
Jesus nickte. »Und er hatte Angst davor, dass Valentin die Polizei dann zu ihm führen würde, um seine Strafe zu mindern.«
»Und Valentin wollte Lenny definitiv nicht verraten, wo er wohnte«, sagte Harry. »Das ist der Grund dafür, warum Valentin so lange nicht entdeckt wurde. Mit so etwas war er wirklich pedantisch.«
»Dann ist der Fall aufgeklärt, und es gibt keine offenen Fragen mehr?«, fragte Oleg. »Hell hat sich das Leben genommen, und Valentin hat Marte Ruud gekidnappt. Aber habt ihr auch Beweise dafür, dass er es war, der Marte Ruud umgebracht hat?«
»Das Dezernat ist sich da ziemlich sicher«, sagte Harry.
»Weil?«
»Weil sie im Schrøder Valentins DNA gefunden haben, weil im Kofferraum seines Wagens Martes Blut war und sie die Kugel gefunden haben, mit der ihr in den Bauch geschossen wurde. Sie steckte in der Wand in Hells Keller. Der Winkel, mit dem die Kugel da eingedrungen ist, zeigt, dass Marte Ruud erschossen wurde, bevor man sie aufgehängt hat. Die Kugel stammt aus derselben Ruger Redhawk, die Valentin bei sich hatte, als er Smith erschießen wollte.«
»Nur dass du nicht dieser Meinung bist«, sagte Oleg.
Harry zog eine Augenbraue hoch. »Nicht?«
»Wenn du sagst, dass das Dezernat sich ziemlich sicher ist, heißt das, dass du etwas anderes denkst.«
»Hm.«
»Also, was denkst du?«, fragte Oleg.
Harry fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Ich finde, dass es nicht so wichtig ist, wer ihr den Gnadenstoß versetzt hat. Denn in diesem Fall kann man das wirklich so bezeichnen. Gnade. Die Matratze im Käfig war voller DNA. Blut, Schweiß, Samen, Erbrochenes. Manches davon von ihr, anderes von Lenny Hell.«
»Jesus«, sagte Jesus. »Sie meinen, dass Hell sie missbraucht hat?«
»Ja, wenn es nicht sogar mehrere waren.«
»Noch mehr als Valentin und Hell?«
»Über der Kellertreppe ist eine Wasserleitung. Man stößt sich zwangsläufig den Kopf daran, wenn man nicht weiß, dass sie da ist. Ich habe deshalb Bjørn Holm, den leitenden Kriminaltechniker, gebeten, mir eine Liste aller zu schicken, die dort ihre DNA hinterlassen haben. Die ganz alten Sachen sind nicht mehr nachweisbar, er hat aber trotzdem das Profil von sieben Personen gefunden. Wir haben wie immer DNA-Proben von allen genommen, die am Tatort gearbeitet haben und haben Übereinstimmungen mit dem Dorfpolizisten, seinem Assistenten, Bjørn, Smith und mir und noch einem weiteren Mitarbeiter von der Spurensicherung, den wir nicht rechtzeitig warnen konnten. Das siebte Profil aber konnten wir nicht identifizieren.«
»Es stammte weder von Valentin Gjertsen noch von Lenny Hell?«
»Nein, wir wissen nur, dass es ein Mann ist, der mit Lenny Hell nicht verwandt ist.«
»Vielleicht einfach nur jemand, der dort unten etwas zu tun hatte«, sagte Oleg. »Ein Elektriker, Klempner oder was weiß ich.«
»Möglich«, sagte Harry. Sein Blick fiel auf die Zeitung Dagbladet, die aufgeschlagen vor ihm lag. Er hatte eben erst das Interview mit Bellman gelesen, der kurz vor der Vereidigung zum Justizminister stand. Er las noch einmal den fettgedruckten Text: Es freut mich besonders, dass dank der hartnäckigen, unerbittlichen Suche der Polizei auch Marte Ruud gefunden werden konnte. Die Angehörigen haben das ebenso verdient wie die Polizei. Diese Tatsache macht es mir leichter, jetzt aus meinem Amt als Polizeipräsident zu scheiden.
»Ich muss jetzt los, Jungs.«
Die drei verließen das Chateau Neuf, wie die Polizeihochschule in Polizistenkreisen genannt wurde, gemeinsam, und erst als sie sich davor trennen wollten, kam Harry die Einladung in den Sinn. »Hallstein ist mit seiner Vampirdoktorarbeit fertig. Am Freitag hat er seine Disputation. Wir sind eingeladen.«
»Was ist denn eine Disputation?«
»Ein mündliches Examen vor feierlich gekleideten Verwandten und Freunden«, sagte Jesus. »Besser, sich dabei nicht zu blamieren.«
»Mama und ich werden gehen«, sagte Harry. »Ich weiß nicht, ob du Zeit oder Lust hast. Ståle ist übrigens einer von denen, die Fragen stellen.«
»Oha«, sagte Oleg. »Wann ist diese Prüfung denn genau? Ich habe am Morgen noch einen Termin in der Ullevål-Klinik.«
Harry zog die Stirn in Falten. »Warum?«
»Nur eine Blutprobe, die Steffens entnehmen will. Er erforscht eine seltene Blutkrankheit namens Systemische Mastozytose. Sollte Mama die gehabt haben, hat ihr Blut sich selbst repariert.«
»Mastozytose?«
»Als Ursache gilt ein Genfehler, die sogenannte c-kit-Mutation, die ist aber nicht erblich. Steffens hofft allerdings, dass der Stoff im Blut, der die Krankheit möglicherweise heilen kann, erblich ist. Deshalb will er mein Blut mit dem von Mama vergleichen.«
»Hm, das ist also die genetische Verbindung, von der deine Mutter gesprochen hat.«
»Steffens sagt, dass er noch immer von einer einfachen Vergiftung ausgeht und dass diese Untersuchung jetzt nicht mehr ist als ein Schuss ins Blaue. Dass die meisten großen Entdeckungen aber nicht gemacht worden wären, wenn nicht irgendwer einen Schuss ins Blaue abgefeuert hätte.«
»Da kann er recht haben. Die Disputation ist um zwei Uhr. Anschließend gibt es noch einen Empfang, auf den ihr gehen könnt. Ich werde den aber wohl auslassen.«
»Bestimmt«, sagte Oleg lächelnd und drehte sich zu Jesus. »Harry mag keine Menschen, weißt du.«
»Ich mag Menschen«, sagte Harry. »Ich mag es nur nicht, mit ihnen zusammen zu sein. Besonders dann nicht, wenn so viele auf einem Haufen sind.« Er sah wieder auf die Uhr. »Apropos.«
»Sorry, ich bin spät, hatte noch eine Privatvorlesung«, sagte Harry und schob sich hinter den Tresen.
Øystein stöhnte, während er zwei frisch gezapfte Bier auf den Tresen knallte, so dass der Schaum überlief. »Harry, wir brauchen hier mehr Leute.«
Harry blinzelte in die Menschenmenge, die sich in der Kneipe drängelte. »Ich finde, es sind jetzt schon zu viele.«
»Ich meine auf dieser Seite des Tresens, du Brot.«
»Das Brot hustet dir gleich was. Kennst du irgendwen mit einem guten Musikgeschmack?«
»Holzschuh.«
»Der ja kein Autist ist.«
»Nein.« Øystein zapfte das nächste Bier und signalisierte Harry, dass er sich um die Kasse kümmern solle.
»Okay, lass uns darüber nachdenken. Hallstein war hier?« Harry zeigte auf die St.-Pauli-Mütze, die auf einem großen Bierglas neben dem Galatasaray-Wimpel prangte.
»Ja, er hat sich noch mal dafür bedankt, dass er die ausleihen durfte. Er hatte ein paar ausländische Journalisten dabei, die den Ort sehen wollten, an dem das alles losgegangen ist. Angeblich hat er übermorgen irgend so eine Doktorsache.«
»Disputation.« Harry gab einem Kunden die Kreditkarte zurück und bedankte sich.
»Ja. Da ist übrigens so ein Typ zu denen gegangen, den Smith dann als Kollegen aus dem Morddezernat vorgestellt hat.«
»Oh«, sagte Harry und nahm die nächste Bestellung von einem Typ mit Hipsterbart und Cage-the-Elephant-T-Shirt entgegen. »Wie sah er aus?«
»Zähne«, sagte Øystein und zeigte auf seine eigene Reihe brauner Stummel.
»Doch nicht Truls Berntsen, oder?«
»Keine Ahnung, wie der geheißen hat, aber ich habe ihn hier schon ein paarmal gesehen. Er sitzt immer da hinten in der Nische und kommt allein.«
»Bestimmt Truls Berntsen.«
»Die Frauen scharen sich immer um ihn.«
»Nicht Truls Berntsen.«
»Und trotzdem geht er allein nach Hause. Komischer Kauz.«
»Weil er keine Frau mit nach Hause nimmt?«
»Würdest du jemandem vertrauen, der so einen Gratis-Fick ablehnt?«
Der Hipsterbart zog eine Augenbraue hoch. Harry zuckte mit den Schultern, reichte ihm das Bier, ging zum Spiegelregal und setzte sich die St.-Pauli-Mütze auf. Er wollte sich gerade wieder umdrehen, als er mitten in der Bewegung erstarrte. Er sah sich selbst im Spiegel. Den Totenkopf tief in der Stirn.
»Harry?«
»Hm.«
»Kannst du hier helfen? Zwei Mojitos mit Sprite Light.«
Harry nickte langsam. Dann nahm er die Mütze ab und ging um den Tresen herum zum Ausgang.
»Harry!«
»Ruf Holzschuh an!«
»Ja?«
»Tut mir leid, dass ich so spät noch anrufe, ich habe nicht wirklich damit gerechnet, noch jemanden zu erreichen.«
»Wir haben auch geschlossen, aber so ist das halt, wenn man irgendwo mit systematischer Unterbesetzung arbeitet. Sie rufen über eine interne Nummer an, die nur der Polizei zur Verfügung steht.«
»Ja, ich bin Harry Hole, Hauptkommissar am …«
»Ich habe schon von dir gehört, Harry. Ich bin’s, Paula, und Hauptkommissar bist du schon lange nicht mehr.«
»Ach, du bist’s, Paula. Nun, ich sitze noch immer an diesem Vampiristenfall. Kannst du noch einmal die Treffer überprüfen, die wir an dieser Wasserleitung hatten?«
»Ich habe da zwar nicht mitgearbeitet, aber ich kann nachschauen. Du bist dir aber hoffentlich im Klaren darüber, dass ich außer Valentin Gjertsen keine Namen habe. Die anderen DNA-Profile des Vampiristenfalls sind nur mit Nummern ausgewiesen.«
»Das ist schon in Ordnung. Ich hab eine Liste mit den Namen und Nummern aller Tatorte vor mir, also leg los.«
Harry hakte ab, während Paula ihm die DNA-Profile durchgab, die sie gefunden hatten. Dorfpolizist, dessen Assistent, Hole, Smith, Holm und einer seiner Kriminaltechniker. Und dann noch die siebte Person.
»Bei der letzten gibt es noch immer keinen Treffer?«, fragte Harry.
»Nein.«
»Was ist mit dem Rest des Hauses von Hell, ist da DNA-Material von Valentin gefunden worden?«
»Lass mal sehen … nein, sieht nicht so aus.«
»Weder auf der Matratze noch auf der Leiche? Keine Verbindung, nichts …«
»Nope.«
»Okay, Paula, danke.«
»Apropos Verbindung, konntest du eigentlich herausfinden, was das mit diesem Haar auf sich hatte?«
»Was für ein Haar?«
»Diese Sache im Herbst. Kommissar Wyller war mit einem Haar bei mir, das er analysieren lassen wollte. Er meinte wohl, wir würden der Sache Priorität einräumen, weil er deinen Namen genannt hat.«
»Und das habt ihr doch wohl …«
»Natürlich, Harry, du weißt doch, dass alle Frauen hier oben eine Schwäche für dich haben.«
»Sagt man so etwas nicht zu sehr alten Männern?«
Paula lachte. »So ist das halt, wenn man heiratet, Harry. Selbsterwählte Kastration.«
»Hm. Ich hatte das Haar auf dem Boden im Ullevål-Krankenhaus gefunden, im Zimmer, wo meine Frau gelegen hat. Da war ich wohl ein wenig paranoid.«
»Na dann. Ich gehe mal davon aus, dass es nicht wichtig war, da Wyller mich später gebeten hat, die Sache zu vergessen. Hattest du Angst, deine Frau könnte einen Lover haben?«
»Im Grunde, nein. Aber jetzt, wo du das sagst.«
»Ihr Männer seid so naiv.«
»Das sichert uns das Überleben.«
»Als ob ihr das tun würdet. Wir sind dabei, den Planeten zu übernehmen, ist dir das noch nicht aufgefallen?«
»Doch, und die Tatsache, dass ihr mitten in der Nacht arbeitet, ist auch irgendwie bedenklich. Ziemlich bedenklich. Gute Nacht, Paula!«
»Nacht!«
»Ach, Paula, was vergessen.«
»Ja?«
»Wie hat Wyller das gemeint? Was solltest du vergessen?«
»Die Verbindung.«
»Zwischen was?«
»Dem Haar und den DNA-Profilen des Vampiristenfalls.«
»Und um wen geht es?«
»Das weiß ich doch nicht. Wir haben, wie gesagt, nur Nummern. Wir wissen nicht einmal, ob die Nummern zu Verdächtigen oder zu Polizisten gehören, die an den Tatorten gearbeitet haben.«
Harry sagte eine ganze Weile nichts. »Hast du die Nummer?«, fragte er schließlich.
»Guten Abend«, sagte der ältere Rettungssanitäter, als er in den Pausenraum der Notaufnahme kam.
»Guten Abend, Hansen«, erwiderte die einzige andere Person im Raum und goss Kaffee in einen Becher.
»Ihr Polizeifreund hat gerade angerufen.«
Oberarzt John Doyle Steffens drehte sich um und zog eine Augenbraue hoch.
»Habe ich Freunde bei der Polizei?«
»Er hat auf jeden Fall von Ihnen gesprochen. Ein Harry Hole.«
»Was wollte er?«
»Er hat uns ein Bild von einer Blutlache geschickt und uns gebeten, eine Einschätzung zu geben, wie viel Blut das ist. Er meinte, Sie hätten das schon einmal anhand eines Tatortfotos gemacht, und dass wir, die wir ja regelmäßig an Unfallorte kämen, darin trainiert seien. Da musste ich ihn aber enttäuschen.«
»Interessant«, sagte Steffens und nahm ein Haar von seiner Schulter. Er sah in dem zunehmenden Haarausfall keine Alterungserscheinung, sondern die Bestätigung, dass er in Saft und Kraft stand und abwarf, was er nicht brauchte. »Warum hat er mich nicht direkt gefragt?«
»Er hat sicher nicht damit gerechnet, dass ein Oberarzt mitten in der Nacht arbeitet. Und es schien eilig zu sein.«
»So, so. Hat er gesagt, was er damit will?«
»Was mit seiner Arbeit, hat er gesagt.«
»Haben Sie das Bild?«
»Hier.« Der Sanitäter nahm sein Handy und zeigte dem Oberarzt die MMS.
Steffens warf einen raschen Blick auf das Display. Es zeigte eine Blutlache auf einem Fußboden. Neben der Lache lag ein Lineal.
»Anderthalb Liter«, sagte Steffens. »Ziemlich genau sogar. Sie können ihn anrufen und ihm das sagen.« Er nippte an seinem Kaffee. »Ein Dozent, der mitten in der Nacht arbeitet, was ist nur aus dieser Welt geworden.«
Der Sanitäter amüsierte sich. »Dasselbe könnte man wohl von Ihnen sagen, Steffens.«
»Was?«, fragte der Oberarzt und überließ dem anderen den Platz an der Kaffeekanne.
»Jede zweite Nacht, Steffens. Was machen Sie hier eigentlich?«
»Patienten aufnehmen, die schwer verletzt sind.«
»Das weiß ich, aber warum? Sie haben einen festen Job als Oberarzt in der Hämatologie und machen trotzdem diese Extraschichten hier in der Notaufnahme. Das ist ziemlich ungewöhnlich.«
»Wer will schon etwas Gewöhnliches? Man ist doch am liebsten da, wo man zu etwas zu gebrauchen ist, oder?«
»Dann haben Sie keine Familie, die Sie auch mal zu Hause haben möchte?«
»Nein, aber ich habe Kollegen, deren Familien froh sind, wenn sie nicht zu Hause sind.«
»Haha. Sie tragen aber doch einen Ehering.«
»Und Sie haben Blut am Ärmel, Hansen. Haben Sie jemanden mitgebracht, der blutet?«
»Ja. Sind Sie geschieden?«
»Witwer.« Steffens trank noch einen Schluck Kaffee. »Ist der Patient eine Frau, ein Mann, jung oder alt?«
»Eine Frau in den Dreißigern, warum?«
»Nur so. Wo ist sie jetzt?«
»Ja?«, flüsterte Bjørn Holm.
»Hier ist Harry. Warst du schon im Bett?«
»Es ist zwei Uhr nachts, was glaubst du denn?«
»Es waren rund anderthalb Liter Blut von Valentin auf dem Boden in Smiths Büro.«
»Ja, und?«
»Einfache Mathematik, er war zu schwer.«
Harry hörte, wie das Bett knarzte, dann die Bettwäsche raschelte, bevor Bjørn sich flüsternd wieder meldete: »Von was redest du eigentlich?«
»Du siehst das auf der Waage, wenn Valentin wieder geht. Er wiegt nur anderthalb Kilo weniger als bei seinem Kommen.«
»Anderthalb Liter Blut wiegen anderthalb Kilo, Harry.«
»Das weiß ich. Und uns fehlen Beweise. Wenn wir die haben, erkläre ich dir alles. Und das darfst du niemandem sagen, verstanden? Nicht mal der Person, die neben dir im Bett liegt.«
»Sie schläft.«
»Das höre ich.«
Bjørn lachte trocken. »Sie schnarcht für zwei.«
»Können wir uns morgen früh um acht im Heizungsraum treffen?«
»Ja, wird schon gehen. Kommen Smith und Wyller auch?«
»Smith treffen wir bei seiner Disputation am Freitag.«
»Und Wyller?«
»Nur du und ich, Bjørn, und ich will, dass du Hells PC und Valentins Revolver mitbringst.«