Kapitel 4
Donnerstag, später Nachmittag
Katrine Bratt ließ den Blick durch den Besprechungsraum schweifen, der intern nur als KO-Raum bezeichnet wurde.
Acht Ermittler, vier Analytiker, eine Kriminaltechnikerin. Sie alle standen ihr zur Verfügung und beobachteten sie – die neue Ermittlungsleiterin – mit Adleraugen. Katrine wusste, dass die größten Skeptiker im Raum ihre Kolleginnen waren. Sie hatte sich schon oft gefragt, ob sie sich von anderen Frauen wirklich so grundsätzlich unterschied. Lag es daran, dass sie ein Testosteronniveau von nur fünf bis zehn Prozent im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen hatten, während Katrines Niveau bezogen auf die Kollegen bei fünfundzwanzig Prozent lag? Sie war deshalb kein behaartes Muskelpaket mit penisähnlicher Klitoris, aber sie brauchte den Sex mehr, als ihre wenigen Freundinnen es jemals für sich eingeräumt hatten. Und das schon solange sie denken konnte. Bjørn hatte es als »wutgeil« bezeichnet, wenn sie mitten in der Arbeitszeit nach Bryn gefahren war, damit er sie mal eben schnell in dem leeren Lagerraum hinter dem Labor durchfickte, bis die Kolben und Reagenzgläser in den Kartons zu klirren begannen.
Katrine räusperte sich und schaltete das Aufnahmegerät in ihrem Handy ein.
»Heute ist Donnerstag, der 22. September, 16 Uhr, und wir befinden uns im Sitzungsraum 1 des Dezernats für Gewaltverbrechen zur ersten Besprechung der vorläufigen Ermittlergruppe im Fall der ermordeten Elise Hermansen.«
Katrine sah Truls Berntsen als Letzten in den Raum schleichen und ganz hinten Platz nehmen.
Sie fuhr mit der Zusammenfassung der Fakten fort, obgleich die meisten im Raum diese bereits kannten: Elise Hermansen war am Morgen des 22. September ermordet aufgefunden worden. Die vermutliche Todesursache war der Blutverlust infolge der Stichverletzungen am Hals. Bis jetzt hatten sich keine Zeugen gemeldet. Vorläufig gab es keine Verdächtigen und keine bestätigten physischen Spuren. Was sie an organischem, möglicherweise von Menschen stammendem Material in der Wohnung gefunden hatten, war zur DNA-Analyse geschickt worden. Mit den Ergebnissen war hoffentlich im Laufe einer Woche zu rechnen. Weitere mögliche physische Spuren wurden von der Kriminaltechnik sowie der Rechtsmedizin untersucht. Mit anderen Worten: Sie hatten nichts.
Sie sah einige der Anwesenden die Arme vor der Brust verschränken und tief durchatmen, fast schon gähnen. Und sie wusste, was ihre Mitarbeiter dachten: Das alles waren nur Allgemeinplätze, inhaltslose Wiederholungen, nicht genug, um zu rechtfertigen, dass sie alle dafür ihre Arbeit unterbrochen hatten. Dann erklärte Katrine, wie sie ganz einfach darauf gekommen war, dass sich der Täter bereits in der Wohnung befunden haben musste, als Elise nach Hause gekommen war. Sie hörte selbst, dass ihre Worte ätzend selbstbeweihräuchernd klangen, als würde sie als neue Leiterin um Anerkennung betteln. Sie spürte die aufkeimende Verzweiflung und dachte an das, was Harry gesagt hatte, als sie ihn angerufen und um Rat gebeten hatte.
»Fang den Täter«, hatte er gesagt.
»Harry, danach habe ich dich nicht gefragt, ich wollte von dir wissen, wie man eine Ermittlergruppe leitet, die einem nicht vertraut.«
»Und ich habe dir die Antwort gegeben.«
»Einen Mörder zu fassen löst nicht mein …«
»Das löst alles.«
»Alles? Und welche deiner Probleme sind dadurch gelöst worden, Harry? So rein persönlich?«
»Keines, aber du hast auch nach der Führungsrolle gefragt.«
Katrine sah sich noch einmal im Raum um, fügte einen weiteren unnötigen Satz an, holte tief Luft und registrierte eine Hand, deren Finger auf die Armlehne trommelten.
»Wenn Elise Hermansen diese Person am früheren Abend in die Wohnung gelassen und ihr erlaubt hat, dort zu bleiben, während sie selbst ausgegangen ist, suchen wir nach jemandem, den sie kennt. Deshalb sind wir die Kontaktlisten ihres Telefons und PCs durchgegangen. Tord?«
Tord Gren stand auf. Er wurde Reiher genannt, weil er mit seinem unglaublich langen Hals, seiner schmalen, schnabelartigen Nase und seiner übermenschlichen Spannweite einem Reiher glich. Die archaische, runde Brille und die langen Locken, die das schmale Gesicht rahmten, ließen einen spontan an die Siebziger denken.
»Wir haben ihr iPhone geknackt und sind die Anrufliste der letzten drei Tagen durchgegangen«, sagte Tord, ohne den Blick von seinem Tablet zu nehmen. Er mied generell den Augenkontakt mit anderen Menschen. »Die Adressliste scheint rein beruflich zu sein. Kollegen und Mandanten.«
»Keine Freunde?«, fragte Magnus Skarre, einer der taktischen Ermittler. »Eltern?«
»Ich denke, es verhält sich wirklich so, wie ich es gesagt habe«, erwiderte Tord, nicht unfreundlich, aber nachdrücklich. »Ähnlich sieht es mit dem Mailverkehr aus. Alles nur beruflich.«
»Das Anwaltsbüro bestätigt, dass Elise häufig Überstunden gemacht hat«, fügte Katrine hinzu.
»Singlefrauen machen so was«, sagte Skarre.
Katrine sah irritiert zu dem eher kleinen, leicht gedrungenen Ermittler, obwohl sie wusste, dass dieser Kommentar nicht auf sie gemünzt war. Dafür war Skarre weder verschlagen noch clever genug.
»Sie hatte kein Passwort für ihren PC, aber da war auch nicht viel zu finden«, fuhr Tord fort. »Die Logfiles zeigen, dass sie vor allem Nachrichten liest und googelt. Sie hat ein paar Pornoseiten besucht, aber ganz normale Sachen, und es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass sie über diese Seiten jemanden kontaktiert hat. Das Problematischste, was sie in den letzten Jahren gemacht hat, war, auf Popcorn Time Wie ein einziger Tag zu streamen.«
Da Katrine den IT-Experten nicht gut genug kannte, wusste sie nicht, ob er mit »problematisch« die Nutzung des Piratenservers als solchen oder die Wahl des Filmes meinte. Sie selbst fand eher Letzteres problematisch. Sie vermisste Popcorn Time.
»Ich habe ein paar naheliegende Passwörter für ihren Facebook-Account ausprobiert«, fuhr Tord fort. »Ohne Erfolg, deshalb habe ich das Ganze jetzt an das Kriminalamt weitergeleitet.«
»Wieso das denn?«, fragte Anders Wyller, der in der ersten Reihe Platz genommen hatte.
»Wir brauchen eine gerichtliche Verfügung«, sagte Katrine. »Der Antrag für die Offenlegung eines Facebook-Accounts geht über das Kriminalamt ans Gericht, und wenn das zustimmt, wird die Angelegenheit an die amerikanische Gerichtsbarkeit und eventuell sogar an Facebook weitergegeben. Bestenfalls dauert das Wochen, vielleicht sogar Monate.«
»Das war alles«, sagte Tord Gren.
»Nur eine Frage von einem Neuling«, sagte Wyller. »Wie bist du in ihr Telefon gekommen? Mit einem Fingerabdruck der Leiche?«
Tord sah Wyller kurz an und schüttelte den Kopf.
»Wie dann? Ältere iPhone-Codes bestehen aus vier Ziffern. Das ergibt zehntausend verschiedene Möglichkeiten …«
»Mikroskop«, unterbrach Tord ihn und tippte etwas in sein Tablet.
Katrine kannte Tords Methode, schwieg aber. Tord Gren hatte keinerlei Ausbildung, weder als Polizist noch sonst was. Ein paar Jahre IT-Technik in Dänemark, aber kein Examen. Trotzdem hatte die IT-Abteilung des Präsidiums ihn, ohne zu zögern, als Analytiker für alles, was mit technischen Spuren zu tun hatte, eingestellt.
»Selbst härtestes Glas hat an den Stellen Mikrogruben, an denen die Fingerkuppen am häufigsten tippen«, sagte Tord. »Ich finde heraus, wo diese Gruben am tiefsten sind, und schon hab ich den Code. Vier Ziffern bedeuten vierundzwanzig Kombinationsmöglichkeiten.«
»Aber das iPhone erlaubt nur drei Fehlversuche«, sagte Anders. »Man muss also …«
»Ich habe zwei Versuche gebraucht«, sagte Tord und lächelte. Katrine war sich nicht ganz sicher, ob er deshalb lächelte oder wegen etwas, das er auf dem Tablet gesehen hatte.
»Oha«, sagte Skarre. »Glück gehabt.«
»Im Gegenteil, eher Pech, dass ich nicht schon beim ersten Versuch richtiglag. Wenn der Code, wie in diesem Fall, die Ziffern Eins und Neun enthält, handelt es sich in der Regel um Jahreszahlen, und dann bleiben nur zwei Möglichkeiten.«
»Das reicht«, sagte Katrine. »Wir haben mit der Schwester von Elise gesprochen, und die hat uns gesagt, dass Elise schon seit Jahren keinen festen Partner mehr hatte und vermutlich auch keinen wollte.«
»Tinder«, sagte Wyller.
»Sorry?«
»Hat sie eine Tinder-App auf dem Handy?«
»Ja«, sagte Tord.
»Die Jungs, die Elise im Treppenhaus gesehen haben, meinten, sie sei ziemlich aufgebrezelt gewesen. Sie kam also weder vom Sport noch von der Arbeit und ganz sicher nicht von einer Freundin. Und wenn sie keine feste Beziehung will …«
»Gut«, sagte Katrine. »Tord?«
»Wir haben die App überprüft, und da gab es, gelinde gesagt, viele Matches. Tinder ist dummerweise an Facebook gekoppelt, so dass wir zu den Chats, wenn es die denn gibt, vorerst keinen Zugang haben.«
»Tinder-User treffen sich meistens in Kneipen«, kam es aus unerwarteter Richtung.
Katrine blickte überrascht auf. Truls Berntsen.
»Wenn sie ihr Telefon bei sich hatte, müssen wir doch nur die Basisstationen checken und dann die Kneipen in der Gegend abklappern, in denen sie gewesen sein kann.«
»Danke, Truls«, sagte Katrine. »Die Basisstationen haben wir bereits. Stine?«
Eine der Analytikerinnen richtete sich auf und räusperte sich. »Laut Auskunft von Telenor ist Elise Hermansen zwischen halb sieben und sieben am Youngstorget aufgebrochen. Da arbeitet sie. Sie ist dann in Richtung Bentsebrua gegangen. Danach …«
»Die Schwester hat gesagt, dass Elise in das Fitnessstudio Myrens Verksted geht«, warf Katrine ein. »Und die haben bestätigt, dass Elise um 19 Uhr 32 gekommen und um 21 Uhr 14 wieder gegangen ist. Entschuldige, Stine.«
Stine lächelte etwas steif. »Danach hat Elise sich im Bereich ihrer Wohnung aufgehalten, wo sie – oder wenigstens ihr Telefon – war, bis sie gefunden wurde. Das Signal wurde allerdings auch von einigen angrenzenden Basisstationen aufgefangen, woraus man schließen könnte, dass sie draußen war, aber sicher nicht mehr als ein paar hundert Meter von ihrer Wohnung in Grünerløkka entfernt.«
»Na super, dann lasst uns durch die Kneipen ziehen«, sagte Katrine.
Sie erntete ein abgehackt schnaubendes Lachen von Truls und ein breites Grinsen von Anders Wyller. Die anderen schwiegen.
Hätte schlimmer laufen können, dachte sie.
Das Telefon, das vor ihr lag, begann sich vibrierend über den Tisch zu schieben.
Auf dem Display sah sie Bjørns Nummer.
Falls es um weitere Ergebnisse bei den technischen Spuren ging, wäre es gut, wenn sie die anderen darüber in Kenntnis setzte. Andererseits hätte er dann vermutlich eher seine Kollegin von der Kriminaltechnik informiert, die im Raum saß, und nicht Katrine. Der Anruf konnte also auch privat sein.
Sie wollte ihn gerade wegdrücken, als ihr bewusst wurde, dass Bjørn über die Besprechung Bescheid wusste, so etwas vergaß er nie.
Sie nahm das Gespräch an und drückte das Telefon ans Ohr. »Die Ermittlergruppe hat gerade Besprechung, Bjørn.«
Sie bereute, das Telefonat angenommen zu haben, als sie die Blicke der anderen auf sich spürte.
»Ich bin in der Rechtsmedizin«, sagte Bjørn. »Wir haben gerade das Resultat des Schnelltests von diesem durchsichtigen Sekret erhalten, das sie auf dem Bauch hatte. Es enthält keine menschliche DNA.«
»Mist«, rutschte es Katrine heraus. Diesen Aspekt hatte sie die ganze Zeit im Hinterkopf gehabt. Wäre es Sperma gewesen, hätten sie den Fall innerhalb der magischen 48-Stunden-Grenze aufklären können. Die Erfahrung zeigte, dass es danach deutlich schwieriger wurde.
»Aber das Ergebnis deutet darauf hin, dass er trotzdem Geschlechtsverkehr mit ihr hatte«, sagte Bjørn.
»Inwiefern?«
»Bei der Substanz handelt es sich um Gleitmittel. Vermutlich von einem Kondom.«
Katrine fluchte innerlich. Und aus den Blicken der anderen konnte sie schließen, dass aus dem, was sie gesagt hatte, noch nicht hervorging, dass das Gespräch nicht privater Natur war. »Du meinst also, der Täter hat ein Kondom benutzt?«, fragte sie laut und deutlich.
»Er oder wen auch immer sie gestern Abend getroffen hat.«
»Okay, danke.« Sie wollte das Gespräch beenden, hörte Bjørn aber ihren Namen rufen, bevor sie auflegen konnte.
»Ja?«, sagte sie.
»Das ist eigentlich gar nicht der Grund meines Anrufs.«
Sie schluckte. »Bjørn, wir sind mitten in der …«
»Die Tatwaffe«, sagte er. »Ich glaube, ich habe herausgefunden, um was es sich dabei handelt. Kannst du dafür sorgen, dass die Gruppe noch zwanzig Minuten zusammenbleibt?«
Er lag in seiner Wohnung auf dem Bett und studierte im Handy die Online-Zeitungen. Mittlerweile hatte er alle durch. Es war enttäuschend, sie hatten keine Details genannt und nichts berichtet, was auf den künstlerischen Wert hindeutete. Entweder weil die leitende Ermittlerin, Katrine Bratt, ihnen nichts sagen wollte oder weil sie nicht in der Lage waren, die Schönheit in dem Ganzen zu erfassen. Er, der Polizist mit dem Mörderblick, hätte es gesehen. Und obgleich er es, ähnlich wie Bratt, nicht an die große Glocke gehängt hätte, hätte er es wenigstens zu schätzen gewusst.
Er musterte Bratts Foto, das dem Artikel beigefügt war.
Sie war hübsch.
Mussten bei Pressekonferenzen keine Uniformen getragen werden? Wenn doch, hatte sie sich darüber hinweggesetzt. Darauf geschissen. Sie gefiel ihm. Er stellte sie sich in Uniform vor.
Sehr hübsch.
Leider stand sie nicht auf seiner Agenda.
Er legte das Handy weg und fuhr mit der Hand über sein Tattoo. Manchmal fühlte es sich fast lebendig an, als wollte es heraus. Dann war die Haut auf seiner Brust zum Bersten gespannt.
Ihm wäre das egal.
Er spannte die Bauchmuskeln an und stand vom Bett auf, ohne die Arme zu benutzen. Betrachtete sich im Spiegel des Schranks. Er hatte im Gefängnis trainiert. Nicht im Trainingsraum, es war undenkbar für ihn gewesen, auf Matten und Bänken zu trainieren, die andere mit Schweiß getränkt hatten. Er hatte in der Zelle trainiert. Nicht die Muskeln, sondern die wahren Kräfte: Ausdauer. Körperspannung. Balance. Die Fähigkeit, Schmerz zu ertragen.
Seine Mutter hatte einen kräftigen Körperbau gehabt. Einen fetten Arsch. Und zum Schluss hatte sie sich gehenlassen. War schwach gewesen. Er wollte den Körperbau und die Konstitution seines Vaters. Die Kraft.
Er schob die Schranktür zur Seite.
Dort hing seine Uniform. Er fuhr mit der Hand über den Stoff. Bald würde sie zum Einsatz kommen.
Er dachte an Katrine Bratt. In Uniform.
Heute Abend wollte er in eine Bar gehen. In eines der hippen Lokale mit vielen Menschen, nicht in eine wie die Jealousy Bar. Es war ein Verstoß gegen die Regeln. Eigentlich ging er nur raus, um einzukaufen, das Dampfbad zu besuchen oder um sich um seine Agenda zu kümmern. Er würde darauf achten, seine Anonymität zu wahren. Er musste mal raus, er brauchte das, um nicht verrückt zu werden. Er lachte leise. Verrückt. Die Psychologen rieten ihm, zum Psychiater zu gehen. Und er wusste natürlich, was sie damit meinten: dass jemand ihm Medikamente verschreiben sollte.
Er nahm ein Paar frisch geputzte Cowboystiefel aus der Schuhablage und schaute die Frau ganz hinten im Schrank an. Sie wurde von dem Haken, der hinter ihr in der Wand befestigt war, aufrecht gehalten. Ihr Blick glitt starr zwischen den Anzügen hindurch. Sie roch schwach nach dem Lavendelparfüm, das er ihr auf die Brüste gestrichen hatte. Er machte die Tür zu.
Verrückt? Das waren doch alles inkompetente Idioten, einer schlimmer als der andere. Er hatte in einem Lexikon die Definition für Persönlichkeitsstörung nachgeschlagen, angeblich eine psychische Krankheit, die zu »Schwierigkeiten und hohem Leidensdruck bei der betroffenen Person oder ihrer Umgebung führt«. Okay. In seinem Fall betraf das dann ausschließlich die Umgebung. Er hatte exakt die Persönlichkeit, die er haben wollte. Und, wenn es etwas zu trinken gab, was war dann – rein rational betrachtet – normaler und naheliegender, als Durst zu haben? Er schaute auf die Uhr. In einer halben Stunde war es dunkel genug.
»Das hier haben wir an den Rändern der Wunde am Hals gefunden«, sagte Bjørn und zeigte auf die Leinwand. »Die drei Splitter links sind rostiges Eisen, der eine auf der rechten Seite ist schwarze Farbe.«
Katrine hatte sich zu den anderen gesetzt. Bjørn war außer Atem angekommen, seine blassen Wangen glänzten noch immer vor Schweiß.
Er tippte etwas in seinen Laptop, und eine Nahaufnahme des geschundenen Halses erschien auf der Leinwand.
»Wie ihr sehen könnt, haben die Einstiche im Hals eine Struktur, etwa wie ein menschlicher Zahnabdruck, aber diese Zähne hier müssen messerscharf gewesen sein.«
»Ein Satanist?«, fragte Skarre.
»Katrine dachte an die Möglichkeit, dass jemand seine Zähne geschliffen haben könnte. Wir haben das anhand der Druckspuren überprüft, und es ist zu erkennen, dass die Zähne nicht exakt übereinanderliegen, sondern so versetzt sind, dass sie perfekt ineinandergreifen. Ergo ist das kein normaler menschlicher Kiefer. Außerdem haben wir, wie gesagt, auch Rost gefunden, und das hat mich auf den Gedanken gebracht, dass eine Art Eisengebiss zum Einsatz gekommen sein könnte.«
Bjørn tippte wieder etwas in seinen Laptop.
Katrine hörte, wie alle die Luft anhielten.
Auf der Leinwand war ein Gegenstand zu sehen, den Katrine auf den ersten Blick für das alte, rostige Fangeisen gehalten hätte, das sie einmal bei ihrem Großvater in Bergen gesehen hatte. Er hatte das Ding Bärenfalle genannt. Es sah aus wie ein Gebiss. Spitze Zähne bildeten ein Zickzackmuster, und Unter- und Oberteil waren mit einer Art Feder verbunden.
»Dieses Ding ist aus einer privaten Sammlung in Caracas und stammt angeblich aus der Sklavenzeit. Damals wurden Menschenkämpfe veranstaltet. Jeweils zwei Sklaven wurden mit solchen Gebissen ausgestattet, dann hat man ihnen die Hände auf dem Rücken gefesselt und sie aufeinander losgelassen. Der Überlebende kam eine Runde weiter. Nehme ich an …«
»Danke«, sagte Katrine.
»Ich habe versucht herauszufinden, wo man solche Eisengebisse herkriegt. Einfach bestellen kann man die Dinger nicht. Wenn wir also jemanden finden, der solche Teile in Oslo oder Norwegen verkauft hat, und wissen, an wen er sie verkauft, haben wir sicher einen sehr überschaubaren Täterkreis.«
Katrine stellte für sich fest, dass Bjørn weit mehr als nur die Arbeit des Kriminaltechnikers gemacht hatte.
»Und noch etwas«, fuhr Bjørn fort. »Es fehlt Blut.«
»Fehlt?«
»Die Blutmenge eines erwachsenen Menschen beträgt durchschnittlich sieben Prozent des Körpergewichts. Es gibt individuelle Unterschiede, aber selbst wenn Elise Hermansen am unteren Ende der Skala gelegen hat, fehlt gut ein halber Liter. Alles eingerechnet, also das Blut an der Leiche, auf dem Teppich im Flur, auf dem Parkett und das bisschen, das auf dem Bett war. Wenn der Täter die fehlende Menge nicht in einem Eimer wegtransportiert hat …«
»… hat er sie getrunken«, vollendete Katrine.
Drei Sekunden lang war es vollkommen still.
Wyller räusperte sich. »Und was ist mit der schwarzen Farbe?«
»Auf der Farbe gab es ebenfalls Rost, sie stammt also auch von dem Gebiss«, sagte Bjørn und zog den Anschluss des Beamers aus dem Laptop. »Aber die Farbe ist nicht so alt. Ich werde sie heute Nacht analysieren.«
Katrine sah den Anwesenden an, dass sie das mit der Farbe nicht mitbekommen hatten, sondern in Gedanken noch bei dem Blut waren.
»Danke, Bjørn«, sagte Katrine, stand auf und sah auf die Uhr. »Also, dann lasst uns jetzt durch die Kneipen ziehen. Es ist bald Schlafenszeit, deshalb schlage ich vor, dass alle, die Kinder haben, nach Hause gehen, und wir Kinderlosen teilen uns auf.«
Keine Antwort, kein Lachen, nicht mal ein Lächeln.
»Gut, dann machen wir das so«, sagte Katrine.
Sie war entsetzlich müde, was sie schnell verdrängte, weil sie ahnte, dass das nur der Anfang war. Ein Eisengebiss und keine DNA. Ein halber Liter verschwundenes Blut.
Stuhlbeine schrammten über den Boden.
Sie packte ihre Unterlagen zusammen, hob den Blick und sah Bjørn aus dem Raum gehen. Eine merkwürdige Mischung aus Erleichterung, schlechtem Gewissen und Selbstverachtung machte sich in ihr breit. Und sie dachte, dass sich das irgendwie … falsch anfühlte.