Kapitel 16

Sonntagnacht

Aurora stand vom Bett auf und schlich sich auf den Flur. Sie lief am Schlafzimmer von Mama und Papa und an der Treppe vorbei, die nach unten ins Wohnzimmer führte. Wieder konnte sie es nicht lassen, der dunklen, raunenden Stille dort unten zu lauschen, ehe sie ins Bad schlüpfte und das Licht einschaltete. Sie schloss die Tür, zog sich den Slip herunter und setzte sich auf die Toilette. Wartete, doch es geschah nichts. Sie hatte so dringend Wasser lassen müssen, dass sie nicht schlafen konnte, aber ­warum kam dann jetzt nichts? Hatte sie sich nur eingeredet, aufs Klo zu müssen, um einen Grund dafür zu haben, wach zu sein? Und hier im sicheren Licht zu sein? Sie hatte die Tür abgeschlossen. Als sie noch klein war, hatten ihre Eltern immer gesagt, dass sie das nicht tun sollte, außer sie hatten Gäste. Damit sie ihr helfen konnten, sollte irgendetwas sein.

Aurora schloss die Augen. Lauschte. Waren Gäste im Haus? Sie war von einem Geräusch aufgewacht, das wusste sie jetzt wieder. Dem Knirschen von Schuhen. Stiefeln. Langen, spitzen Stiefeln, deren Leder knirschte, als er sich näherte, bis er stehen blieb. Vor der Badezimmertür wartete. Auf sie. Aurora hatte das Gefühl, dass sie keine Luft bekam, ihr Blick ging automatisch nach unten zur Tür. Aber die Schwelle versperrte den Blick auf einen möglichen Schatten. Außerdem war es da draußen ja auch stockfinster. Bei ihrer ersten Begegnung hatte sie im Garten auf der Schaukel gesessen. Er hatte sie um ein Glas Wasser gebeten und wäre beinahe mit ins Haus gegangen, war dann aber verschwunden, als er das Auto von Mama und Papa kommen hörte. Das zweite Mal war auf dem Mädchenklo der Sporthalle bei ­einem Handballturnier gewesen.

Aurora lauschte. Sie wusste, dass er da war. Im Dunkeln auf der anderen Seite der Tür. Er hatte ja gesagt, dass er zurück­kommen würde. Wenn sie etwas sagte. Weshalb sie nichts mehr sagte. Das war sicherer so. Sie wusste jetzt auch, warum sie nicht pinkeln konnte. Dann wüsste er ja, wo sie ist.

Sie schloss die Augen und konzentrierte sich ganz auf die Geräusche. Aber da war nichts. Sie atmete auf. Er war weg.

Aurora zog den Slip wieder hoch, schloss die Tür auf und schlüpfte nach draußen. Sie lief an der Treppe vorbei bis zum Schlafzimmer ihrer Eltern. Öffnete vorsichtig die Tür und warf einen Blick hinein. Ein Streifen Mondlicht fiel durch den Spalt zwischen den Vorhängen auf Papas Gesicht. Sie konnte nicht ­sehen, ob er atmete. Sein Gesicht war so weiß wie das ihrer Großmutter im Sarg. Aurora schlich sich näher ans Bett heran. Mamas Atem klang wie der blaue Blasebalg, mit dem Aurora immer die Luftmatratze in der Hütte aufblies. Sie ging bis an den Bettrand und hielt ihr Ohr so dicht, wie sie sich traute, vor den Mund ihres Vaters. Ihr Herz machte einen Freudensprung, als sie seinen warmen Atem auf der Haut spürte.

Als sie wieder im Bett lag, kam es ihr so vor, als wäre das alles nicht passiert. Als wäre es nur ein Alptraum gewesen, der vorbei war, wenn sie die Augen schloss und weiterschlief.

Rakel öffnete die Augen.

Sie hatte einen Alptraum gehabt. Aber nicht davon war sie aufgewacht. Jemand war unten zur Tür hereingekommen. Sie warf einen Blick neben sich. Harry war nicht da. Dann war er es wohl. Sie hörte seine Schritte auf der Treppe und lauschte automatisch auf das Vertraute, aber die Schritte klangen irgendwie anders. Es war auch nicht Oleg, sollte der mal wieder nach Hause gekommen sein.

Sie starrte auf die geschlossene Schlafzimmertür.

Die Schritte näherten sich.

Die Tür ging auf.

Eine große, dunkle Silhouette stand in der Türöffnung.

Mit einem Mal erinnerte Rakel sich, was sie geträumt hatte. Es war Vollmond gewesen, und er hatte sich selbst an das Bett gekettet, unter sich die zerfetzten Laken. Sich vor Schmerzen windend, hatte er an seinen Fesseln gezerrt, in den Nachthimmel geheult und schließlich sich selbst die Haut vom Leib gerissen. Darunter war sein anderes Ich zum Vorschein gekommen. Ein Werwolf mit Klauen und Reißzähnen, einem eisblauen, wahnsinnigen Blick, aus dem die Lust zu morden sprach.

»Harry?«, flüsterte sie.

»Habe ich dich geweckt?« Seine tiefe, ruhige Stimme klang wie immer.

»Ich habe von dir geträumt.«

Ohne das Licht anzumachen, trat er in das Zimmer, öffnete den Gürtel und zog sich das T-Shirt über den Kopf. »Von mir? Vergeudete Traumzeit, ich gehöre dir ja schon.«

»Wo bist du gewesen?«

»In einer Kneipe.«

Der ungewohnte Rhythmus seiner Schritte. »Hast du getrunken?«

Er schob sich neben sie ins Bett. »Ja, ich habe getrunken, und du bist früh ins Bett gegangen.«

Sie hielt die Luft an. »Was hast du getrunken, Harry? Und wie viel?«

»Zwei Tassen. Türkischen Kaffee.«

»Harry!« Sie schlug ihn mit dem Kissen.

»Tut mir leid!«, sagte er lachend. »Wusstest du, dass türkischer Kaffee nicht kochen darf? Und dass Istanbul drei große Fußballclubs hat, die sich seit hundert Jahren spinnefeind sind? Warum, haben sie vergessen. Außer dass es natürlich menschlich ist, jemanden zu hassen, der einen hasst.«

Sie drückte sich an ihn und legte den Arm um seine Brust. »All das ist ganz neu für mich, Harry.«

»Ich weiß ja, dass du es schätzt, wenn man dir immer wieder ein neues Stückchen Welt erklärt.«

»Ich weiß nicht, wie ich ohne dich klarkommen würde.«

»Du hast nicht gesagt, warum du so früh ins Bett gegangen bist.«

»Du hast nicht gefragt, du hast das bloß festgestellt.«

»Dann frage ich jetzt.«

»Ich war müde. Außerdem habe ich morgen vor der Arbeit noch einen Termin in Ullevål.«

»Davon hast du mir nichts gesagt.«

»Nein, den Termin habe ich auch erst heute bekommen. Doktor Steffens selbst hat angerufen.«

»Sicher, dass das ein Termin ist und nicht bloß ein Vorwand?«

Rakel lachte leise, drehte ihm den Rücken zu und schob sich dicht an ihn. »Sicher, dass du nicht den Eifersüchtigen spielst, nur um mir eine Freude zu machen?«

Er biss ihr vorsichtig in den Nacken. Rakel schloss die Augen und hoffte, dass die Kopfschmerzen der Lust Platz machen würden, der süßen, alle Schmerzen betäubenden Lust. Aber dem war nicht so. Und vielleicht spürte Harry das, auf jeden Fall blieb er ganz still liegen und hielt sie nur in seinen Armen. Sein Atem ging tief und gleichmäßig, trotzdem wusste sie, dass er nicht schlief. Er war ganz woanders. Er war bei seiner Geliebten.

Mona Daa war auf dem Laufband. Aufgrund ihres Hüftschadens startete sie das Lauftraining immer erst, wenn sie sich sicher war, allein zu sein. Dabei liebte sie es, nach dem harten Training noch ein paar Kilometer zu joggen und zu spüren, wie die Milchsäure sich in der Muskulatur abbaute, während sie über den im Dunkeln liegenden Frognerpark schaute. The Rubinoos, eine 70er-Jahre-Power-Pop-Band, die ein Lied zu ihrem früheren Lieblingsfilm Die Rache der Eierköpfe beigesteuert hatte, säuselte ihr bittersüß durch die Kopfhörer ins Ohr, bis ein Anruf hereinkam.

Sie spürte, dass sie unbewusst darauf gewartet hatte.

Dabei wünschte sie sich nicht, dass er wieder zuschlug. Sie wünschte sich gar nichts. Sie vermittelte nur, was passierte, redete sie sich immer wieder ein.

Auf dem Display stand »Unbekannt«. Dann kam der Anruf nicht aus der Redaktion. Sie zögerte, bei solch großen Mord­fällen kamen die verrücktesten Leute auf sie zu, schließlich siegte aber doch die Neugier, und sie nahm das Gespräch an.

»Guten Abend, Mona.« Eine Männerstimme. »Ich glaube, wir sind allein.«

Mona sah sich automatisch um. Die junge Frau an der Rezeption konzentrierte sich voll und ganz auf ihr Handy. »Wie meinen Sie das?«

»Du hast das ganze Studio für dich, und ich habe den ganzen Frognerpark. Eigentlich fühlt sich das doch so an, als hätten wir ganz Oslo für uns, nicht wahr? Du mit deinen ungewöhnlich gut informierten Artikeln und ich als Hauptperson deiner Artikel.«

Mona sah auf die Uhr an ihrem Handgelenk. Ihr Puls hatte sich beschleunigt, aber nur ein bisschen. All ihre Freunde wussten, dass sie abends hier trainierte und dabei auf den Park blicken konnte. Es war nicht das erste Mal, dass jemand sie zu verarschen versuchte, und es würde sicher auch nicht das letzte Mal sein.

»Ich weiß weder, wer Sie sind, noch, was Sie wollen. Sie haben zehn Sekunden, dann lege ich auf.«

»Ich bin nicht ganz mit der Berichterstattung zufrieden, ein paar Details meiner Werke scheinen euch vollkommen egal zu sein. Ich biete dir ein Treffen an, um dir zu erzählen, was ich euch zeigen will. Und was in nächster Zukunft passieren wird.«

Ihr Puls beschleunigte sich stärker.

»Ich muss sagen, dass das verlockend klingt. Abgesehen davon, dass Sie sicher keine Lust haben, festgenommen zu werden, und ich nicht gebissen werden möchte.«

»Unten im Containerhafen Sjursøya steht ein alter, verlassener Käfig aus dem Zoo in Kristiansand. An der Tür ist kein Schloss, du könntest also ein Vorhängeschloss mitnehmen und dich einschließen, ich rede dann von außen mit dir. So kann ich dich kontrollieren, und du bist in Sicherheit. Du kannst eine Waffe mitbringen, wenn du das willst.«

»Am besten wohl eine Harpune?«

»Harpune?«

»Ja, wenn wir schon Taucher und weißer Hai spielen.«

»Du machst dich über mich lustig.«

»Würden Sie sich an meiner Stelle ernst nehmen?«

»Wenn ich du wäre, würde ich – bevor ich mich endgültig entscheide – um Details zu den Morden bitten, die nur der Täter kennen kann.«

»Dann reden Sie schon.«

»Ich habe den Smoothie-Mixer von Ewa Dolmen genutzt, um mir einen Cocktail zu mischen. Eine Bloody Ewa, wenn du so willst. Überprüf das mit deiner Polizeiquelle, ich habe anschließend nämlich nicht gespült.«

Mona dachte nach. Das Ganze war komplett verrückt. Andererseits konnte das der Coup des Jahrhunderts werden und für alle Zeit ihre journalistische Arbeit prägen.

»Okay, ich kontaktiere meine Quelle, kann ich Sie in fünf Minuten anrufen?«

Leises Lachen. »Mit billigen Tricks baut man kein Vertrauen auf, Mona. Ich rufe dich in fünf Minuten an.«

»In Ordnung.«

Es dauerte, bis Truls Berntsen das Gespräch annahm. Er hörte sich verschlafen an.

»Ich dachte, Sie würden alle arbeiten?«, fragte Mona.

»Irgendwer muss auch freihaben.«

»Ich habe nur eine Frage.«

»Es gibt Mengenrabatt, sollten es doch mehr werden.«

Als Mona auflegte, wusste sie, dass sie eine Goldgrube gefunden hatte. Oder besser, dass die Goldgrube sie gefunden hatte.

Und als der nächste Anruf von der unbekannten Nummer kam, hatte sie zwei Fragen. Wann und wo?

»Havnegata 3. Morgen Abend um acht. Und Mona?«

»Ja?«

»Sag keiner Menschenseele etwas davon, bevor das nicht vorbei ist. Vergiss nicht, dass ich dich die ganze Zeit im Blick habe.«

»Gibt es irgendeinen Grund, warum wir das nicht per Telefon machen können?«

»Ja, ich will dich dabei sehen. Und du willst mich sehen. Schlaf gut. Wenn du mit deinem Laufrad fertig bist.«

Harry lag auf dem Rücken und starrte an die Decke. Er konnte das natürlich auf die beiden Tassen überaus starken Kaffees schieben, die er bei Mehmet bekommen hatte, andererseits wusste er, dass es nicht daran lag. Er war einfach wieder an dem Punkt, an dem es unmöglich war, das Hirn abzuschalten, bis alles vorbei war. Es arbeitete ohne Unterlass, in alle Richtungen, bis der Täter ­gefasst war, ja manchmal noch darüber hinaus. Drei Jahre. Drei Jahre ohne ein noch so kleines Lebenszeichen. Oder eine Todesnachricht. Und mit einem Mal war Valentin Gjertsen wieder da und hatte sich gezeigt. Nicht nur von ferne mit seinem Teufelsschwanz winkend, nein, er war mit voller Absicht ins Rampenlicht getreten, wie ein von sich selbst begeisterter Schauspieler, Schriftsteller und Regisseur in einem. Hole zweifelte nicht eine Sekunde daran, dass es eine Regie gab. Das war nicht das Werk eines verwirrten Psychopathen. Sie hatten es nicht mit jemandem zu tun, der ihnen beiläufig, durch einen Zufall ins Netz gehen würde. Sie mussten auf seinen nächsten Zug warten und zu Gott beten, dass er einen Fehler machte. Und währenddessen nach der kleinsten Nachlässigkeit suchen, die ihm vielleicht bereits unterlaufen war. Denn jeder machte Fehler. Fast jeder.

Harry lauschte auf Rakels gleichmäßigen Atem, dann schlüpfte er unter der Decke hervor und schlich sich ins Wohnzimmer.

Es klingelte nur zweimal, dann wurde der Hörer abgenommen.

»Ich dachte, du schläfst«, sagte Harry.

»Und du rufst trotzdem an?«, fragte Ståle Aune mit schlaftrunkener Stimme.

»Du musst mir helfen, Valentin Gjertsen zu finden.«

»Mir helfen? Oder uns helfen?«

»Mir. Uns. Der Stadt. Der Menschheit, scheißegal. Er muss gestoppt werden.«

»Ich habe dir gesagt, dass meine Schicht um ist, Harry.«

»Er ist wach und irgendwo dort draußen, Ståle. Während wir hier liegen und schlafen.«

»Und das mit schlechtem Gewissen. Aber wir schlafen, Harry. Weil wir müde sind. Ich bin müde, Harry. Zu müde.«

»Ich brauche jemanden, der ihn versteht und seinen nächsten Zug vorhersehen kann, Ståle. Der vorausahnt, wo er einen Fehler machen wird. Der seinen schwachen Punkt findet.«

»Ich kann nicht …«

»Hallstein Smith?«, fragte Harry. »Was hältst du von ihm?«

Es entstand eine Pause.

»Du hast gar nicht angerufen, um mich zu überzeugen«, sagte Ståle, und Harry hörte, dass er ein bisschen gekränkt war.

»Das ist mein Plan B«, sagte Harry. »Hallstein Smith war der Erste, der gesagt hat, dass wir es hier mit einem Vampiristen zu tun haben, der wieder zuschlagen wird. Er hat recht behalten. Valentin hat sich an die Methode gehalten, mit der er Erfolg hatte. Tinder-Dates. Und er hat auch vorhergesagt, dass Valentin das Risiko eingehen wird, Spuren zu hinterlassen. Dass es ihm egal ist, ob er entdeckt wird. Außerdem hat er schon früh den Hinweis gegeben, dass die Polizei nach Sexualstraftätern Ausschau halten soll. Smith hat bis jetzt ziemlich oft ins Schwarze getroffen. Dass er gegen den Strom schwimmt, ist gut, damit würde er zu meiner kleinen Guerillatruppe passen. Entscheidend aber wäre, dass du ihn für einen guten Psychologen hältst.«

»Das ist er. Doch, Hallstein Smith kann eine gute Wahl sein.«

»Über eine Sache mache ich mir aber Gedanken. Dieser Spitzname, den man ihm gegeben hat …«

»Affe?«

»Du hast gesagt, dass seine Kollegen ihn nicht wirklich ernst nehmen?«

»Mein Gott, Harry. Das ist mehr als ein halbes Leben her.«

»Erzähl.«

Ståle schien nachzudenken. Dann lachte er leise. »Ich glaube, dass sogar ich an diesem Spitznamen schuld bin. Während des Studiums hier in Oslo haben wir bemerkt, dass in unserem kleinen Safe in der Psychologiebar Geld fehlte. Unser Hauptverdächtiger war Hallstein, weil er es sich plötzlich doch leisten konnte, mit auf die Studienfahrt nach Wien zu kommen, bei der er sich wegen klammer Finanzen bereits abgemeldet hatte. Das Pro­blem war nur, dass wir nicht beweisen konnten, dass Hallstein sich die Zahlenkombination beschafft hatte, denn nur so konnte er an das Geld gekommen sein. Deshalb habe ich eine Affenfalle gebaut.«

»Eine was?«

»Papa!« Harry hörte am anderen Ende der Leitung eine schrille Mädchenstimme. »Ist alles in Ordnung?«

Harry hörte, wie sich Ståles Hand auf das Telefon legte. »Ich wollte dich nicht wecken, Aurora. Ich spreche mit Harry.«

Dann hörte Harry die Stimme von Ståles Frau Ingrid: »Du siehst ja ganz panisch aus, mein Mädchen. Was ist denn los? Hast du einen Alptraum gehabt? Komm, ich bring dich ins Bett und deck dich zu. Oder sollen wir uns einen Tee kochen?« Schließlich waren Schritte zu hören.

»Wo waren wir?«, fragte Ståle Aune.

»Affenfalle«, erwiderte Harry.

»Genau. Hast du mal Robert Pirsigs Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten gelesen?«

»Ich weiß nur, dass es darin ziemlich wenig um Motorräder geht.«

»Stimmt. In erster Linie ist das ein Buch über Philosophie, aber es geht eben auch um Psychologie und den Kampf zwischen Intellekt und Gefühlen. Wie bei einer Affenfalle. Du machst ein Loch in eine Kokosnuss, das gerade groß genug ist, damit der Affe seine Hand hineinstecken kann. Dann füllst du die Kokosnuss mit Essen, bindest sie an einen Pfahl und versteckst dich. Der Affe riecht das Futter, kommt, steckt die Hand in das Loch und kriegt das Futter zu fassen. In diesem Moment kommst du dann aus deinem Versteck raus. Der Affe will schnell weg, bemerkt dann aber, dass er die Hand nicht aus dem Loch ziehen kann, ohne das Futter loszulassen. Das Interessante ist, dass Affen eigentlich klug genug sind, um zu wissen, dass sie das Futter auch nicht kriegen, wenn sie gefangen werden, dass sie es aber trotzdem festhalten. Der Instinkt, der Hunger, die Begierde sind größer als die Vernunft. Und so wird der Affe gefangen, jedes Mal. Gemeinsam mit dem Chef unserer Bar arrangierte ich ein großes Psychologie-Quiz, zu dem wir das ganze Semester einluden. Die Bude war voll, und alle waren hochmotiviert und gespannt. Nachdem ich dann gemeinsam mit dem Barchef die Antworten durchgegangen war, gab ich bekannt, dass es an der Spitze ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Smith und einem Olavsen geben würde und dass wir mittels eines Tests ermitteln wollten, wer der zweitklügste Kopf des Studiums war. Die Idee war, die beiden angehenden Psychologen als lebendige Lügen­detektoren zu testen. Ich stellte eine junge Frau als Angestellte der Bar vor und bat sie, auf einem Stuhl Platz zu nehmen. Die Aufgabe der Kandidaten bestand nun darin, möglichst viel über die Zahlenkombination des Safes herauszubekommen. Smith und Olavsen saßen direkt vor ihr, während sie nach der ersten Ziffer des Codes gefragt wurde. Ich nannte willkürlich alle Ziffern, von Null bis Neun. Dann ging es an die zweite Stelle des Codes und so weiter. Die junge Frau hatte die Aufgabe, immer wieder mit ›Nein, das ist nicht die korrekte Ziffer‹ zu antworten, während Smith und Olavsen ihre Körpersprache studierten, die Größe ihrer Pupillen, ihren Puls, die Frequenz ihrer Stimme, Schweißbildung, unfreiwillige Augenbewegungen, ja all das, was ein ambitionierter Psychologe auf jeden Fall richtig deuten will. Der Gewinner sollte derjenige sein, der die meisten Ziffern richtig gedeutet hatte. Beide saßen da und machten sich Notizen, waren hochkonzentriert, während ich die vierzig Fragen stellte. Immerhin ging es ja um den Titel des zweitbesten Psychologen der Universität.«

»Weil alle sich einig waren, dass der beste …«

»… nicht teilnehmen konnte, weil er das Quiz arrangiert hatte, ja. Als ich fertig war, gaben die beiden mir die Zettel mit ihren Vorschlägen. Dabei zeigte es sich, dass Smith alle vier Ziffern richtig hatte. Großer Jubel im Saal! Höchst beeindruckend. Verdächtig beeindruckend, könnte man sagen. Hallstein hat natürlich eine höhere Intelligenz als ein Affe, ja, ich will nicht ausschließen, dass er sogar erkannt hatte, worum es eigentlich ging. Trotzdem konnte er diesen Sieg nicht auslassen. Er schaffte es nicht! Vielleicht weil Hallstein Smith zu diesem Zeitpunkt ein verdammt unauffälliger, abgebrannter, pickeliger junger Mann war, der bei den Damen keinen Schlag hatte – und vermutlich auch sonst nicht. Mit anderen Worten jemand, der ­einen solchen Sieg verzweifelter brauchte als die meisten anderen. Er war sich mit Sicherheit bewusst, dass er sich verdächtig machte, das Geld aus dem Safe genommen zu haben, andererseits konnte dieser Verdacht aber nicht bewiesen werden, schließlich gab es ja die Möglichkeit, dass er tatsächlich der phantastische Menschenkenner und Analyst der vielfältigen Signale des Körpers war. Nur …«

»Hm.«

»Was?«

»Nichts.«

»Doch, red schon.«

»Das Mädchen auf dem Stuhl. Die kannte die Zahlenkombination doch gar nicht.«

Ståle amüsierte sich. »Sie arbeitete nicht mal in der Bar.«

»Woher wusstest du, dass Smith in diese Affenfalle tappen würde?«

»Weil ich eben dieser phantastische Menschenkenner bin und so weiter. Die Frage ist, was du jetzt denkst, schließlich weißt du jetzt, dass dein Kandidat eine Vergangenheit als Dieb hat.«

»Von wie viel reden wir?«

»Wenn ich das richtig im Kopf habe, waren es zweitausend Kronen.«

»Das ist nicht viel. Außerdem hast du gesagt, dass Geld im Safe fehlte. Er hatte also nicht alles genommen, richtig?«

»Damals dachten wir, er habe das so gemacht, weil er hoffte, dass es dann nicht auffiel.«

»Und später dachtest du dann, dass er genau die Summe genommen hatte, die ihm fehlte, um doch an eurer Studienfahrt teilnehmen zu können.«

»Er wurde freundlich gebeten, seinen Studienplatz freizugeben, im Gegenzug haben wir die Polizei nicht informiert. Er hat dann einen Studienplatz in Litauen bekommen.«

»Er ist also ins Exil gegangen. Nur dass er nach deinem Coup den Spitznamen Affe hatte.«

»Später ist er zurückgekommen. Hat hier in Norwegen noch ein paar Kurse absolviert und bekam sein Diplom als Psychologe anerkannt. Er hat es geschafft.«

»Du weißt, dass du dich so anhörst, als hättest du ein schlechtes Gewissen?«

»Und du hörst dich so an, als wolltest du einen Dieb einstellen.«

»Gegen Diebe mit akzeptablen Motiven habe ich eigentlich noch nie was gehabt.«

»Ha!«, platzte Ståle heraus. »Du magst ihn jetzt noch mehr. Du verstehst das mit der Affenfalle, du kannst selber ja auch nie loslassen, Harry, verlierst das Große, weil du es nicht schaffst, das Kleine aufzugeben. Du musst diesen Valentin Gjertsen einfach fassen, auch wenn du ganz genau weißt, dass dich das alles kosten kann, was dir lieb und teuer ist.«

»Keine schlechte Parallele, aber du irrst dich.«

»Tue ich das?«

»Ja.«

»Sollte das so sein, freut mich das. Aber ich muss jetzt erst mal schauen, wie es meinen beiden Frauen geht.«

»Natürlich. Sollte Smith zu unserem Team stoßen, könntest du ihm dann eine kleine Einführung geben, was von einem Psychologen erwartet wird?«

»Natürlich, das ist ja wohl das Mindeste, was ich tun kann.«

»Für das Dezernat? Oder weil du für den ›Affen‹ verantwortlich bist?«

»Gute Nacht, Harry.«

Harry ging nach oben und legte sich wieder ins Bett. Ohne sie zu berühren, schob er sich so dicht an sie heran, dass er die Wärme ihres schlafenden Körpers spüren konnte. Er schloss die Augen.

Zen und die Kunst ein Motorrad zu warten.

Nach einer Weile glitt er weg. Aus dem Bett, durch die Fenster, durch die Nacht, hinunter zu der glitzernden Stadt, deren Lichter nie erloschen. Hinein in die Straßen, die verborgenen Winkel, die Ecken mit den Mülltonnen, in die das Licht der Stadt nie vordrang. Und dort stand er. Sein Hemd war offen, und von seiner nackten Brust schrie ihm ein Gesicht entgegen, das die Haut über sich aufzureißen versuchte, um sich endlich zu befreien.

Es war ein Gesicht, das er kannte.

Gejagt und jagend, ängstlich und gierig, gehasst und voller Hass.

Harry riss die Augen auf.

Er hatte sein eigenes Gesicht gesehen.

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