Kapitel 14
Sonntagmorgen
»Valentin Gjertsen«, sagte Harry Hole und zeigte auf das hellerleuchtete Gesicht, das auf der drei Quadratmeter großen Leinwand im Besprechungsraum prangte.
Katrine studierte die schmalen Züge. Braune Haare, tiefliegende Augen. Vielleicht lag Letzteres aber auch nur daran, dass der Mann auf dem Foto die Stirn nach vorne schob, wodurch das Licht in einer ganz bestimmten Weise darauf fiel. Katrine wunderte sich, dass der Polizeifotograf diese Kopfhaltung zugelassen hatte. Besonders auffällig war aber der Gesichtsausdruck. Unmittelbar nach der Verhaftung aufgenommene Polizeifotos ließen in den Gesichtern in der Regel Angst, Verwirrung oder Resignation erkennen. Nicht so bei Valentin Gjertsen. Er lächelte, als würde er sich freuen. Als wüsste er etwas, das sie nicht wussten. Noch nicht.
Harry ließ das Gesicht ein paar Sekunden auf die Anwesenden wirken, bevor er fortfuhr. »Zum ersten Mal angeklagt mit sechzehn, weil er an einem neunjährigen Mädchen herumfingerte, nachdem er es in ein Ruderboot gelockt hatte. Mit siebzehn wurde er von seiner Nachbarin wegen versuchter Vergewaltigung im Waschkeller angezeigt. Als Valentin Gjertsen sechsundzwanzig war und eine Strafe wegen diverser Übergriffe auf Minderjährige absaß, hatte er im Ila-Gefängnis einen Zahnarzttermin. Mittels eines Zahnarztbohrers hat er die Zahnärztin gezwungen, sich die Strumpfhose aus- und über den Kopf zu ziehen. Dann hat er sie im Zahnarztstuhl vergewaltigt und anschließend die Strumpfhose angesteckt.«
Harry drückte auf eine Taste am PC, und das Foto auf der Leinwand machte einem anderen Platz. Ein Stöhnen kam von den Anwesenden. Katrine sah, dass auch einige der erfahrenen Ermittler den Blick senkten.
»Ich zeige Ihnen dieses Bild nicht aus Vergnügen, sondern um Ihnen vor Augen zu führen, mit welchem Menschen wir es hier zu tun haben. Im Übrigen hat er die Zahnärztin am Leben gelassen. Genau wie Penelope Rasch. Ich glaube nicht an einen Arbeitsunfall. Ich glaube, Valentin Gjertsen spielt ein Spiel mit uns.«
Harry drückte wieder eine Taste, und erneut war ein Foto von Gjertsen zu sehen, dieses Mal der Online-Steckbrief von Interpol.
»Valentin ist vor knapp vier Jahren auf spektakuläre Weise aus Ila ausgebrochen. Er hat einen Mithäftling, Judas Johnsen, aufs Brutalste totgeprügelt, ihm dann eine Kopie seines eigenen Tattoos in die Brust gestochen und die Leiche schließlich in der Bibliothek versteckt, wo Gjertsen selbst arbeitete. Als Judas beim nächsten Appell nicht auftauchte, ging man davon aus, dass er ausgebrochen war. In der Nacht seiner Flucht hat Gjertsen dem Leichnam dann seine eigene Kleidung angezogen und ihn in seiner Zelle auf den Boden gelegt. Als die Gefängniswärter die nicht mehr zu identifizierende Leiche fanden, gingen sie natürlich davon aus, es mit Valentin zu tun zu haben. Eigentlich war niemand sonderlich überrascht. Wie alle anderen Pädophilen war auch Valentin Gjertsen bei den übrigen Insassen verhasst. Man überprüfte weder seine Fingerabdrücke, noch wurde ein DNA-Test an der Leiche vorgenommen. Deshalb dachten wir lange, dass Valentin Gjertsen ein Kapitel der Vergangenheit war. Bis er in Verbindung mit einem neuen Mordfall auftauchte. Wir wissen nicht, wie viele Morde und Vergewaltigungen auf sein Konto gehen, aber sicher mehr als die, die wir mit ihm in Verbindung bringen oder für die er verurteilt wurde. Was wir wissen, ist, dass eines seiner letzten Opfer vor seinem zwischenzeitlichen Verschwinden seine frühere Vermieterin Irja Jacobsen war.« Erneuter Tastendruck. »Das Bild stammt aus der WG, in der sie wohnte und sich vor Gjertsen versteckt hielt. Wenn ich mich richtig erinnere, waren Sie, Berntsen, als Erster am Tatort, wo Sie sie erdrosselt unter einem Stapel Kindersurfbretter mit Haimotiv gefunden haben.«
Grunzendes Lachen von ganz hinten. »Stimmt. Die Bretter waren Diebesgut, das die blöden Junkies noch nicht vertickt hatten.«
»Irja Jacobsen wurde aller Wahrscheinlichkeit nach getötet, weil sie die Polizei über Valentin informiert hatte. Das erklärt möglicherweise, warum es anschließend so schwierig war, auch nur einen zu finden, der etwas über seinen Aufenthaltsort sagen konnte. Wer ihn kennt, wagt es nicht, den Mund aufzumachen.« Harry räusperte sich. »Ein anderer Grund, warum Valentin bislang nicht zu finden war, ist der Tatsache geschuldet, dass er nach der Flucht umfangreiche plastische Operationen hat vornehmen lassen. Die Person auf den Fotos sieht derjenigen, die wir auf einem körnigen Überwachungsfoto aus dem Ullevål-Stadion erkennen, nicht einmal mehr ähnlich. Dieses Überwachungsfoto ließ er uns mit Absicht sehen. Die Tatsache, dass wir ihn nicht gefunden haben, lässt vermuten, dass er noch weitere Operationen hat vornehmen lassen. Vermutlich sind diese Operationen irgendwo im Ausland gemacht worden, da wir alle plastischen Chirurgen hier in Skandinavien gründlich geprüft haben. Die Annahme, dass sein Gesicht stark verändert ist, wird auch dadurch untermauert, dass Penelope Rasch ihn auf den Bildern, die wir ihr gezeigt haben, nicht erkannt hat. Leider ist sie auch nicht in der Lage, ihn zu beschreiben, und die Tinder-Fotos, die sie von diesem sogenannten Vidar auf ihrem Handy hat, zeigen mit Sicherheit nicht Valentin Gjertsen.«
»Tord hat auch das Facebook-Profil dieses Vidar überprüft«, sagte Katrine, »Es ist wenig überraschend falsch und wurde erst kürzlich eingerichtet. Über einen Computer, den wir nicht orten können. Letzteres bedeutet laut Tord, dass Gjertsen sich mit Computern recht gut auskennen muss.«
»Oder Hilfe hat«, sagte Harry. »Auf jeden Fall haben wir eine Person, die Valentin Gjertsen gesehen und sogar mit ihm geredet hat, bevor dieser vor drei Jahren vom Radar verschwunden ist. Leider arbeitet Ståle nicht mehr als Berater des Dezernats, trotzdem hat er sich bereit erklärt, heute hierherzukommen.«
Ståle Aune stand auf und knöpfte sich seine Tweedjacke zu.
»Ich hatte das zweifelhafte Vergnügen, für einen recht kurzen Zeitraum einen Patienten namens Paul Stavnes betreuen zu dürfen. Als schizophrener Psychopath war er sich seiner Krankheit bewusst, auf jeden Fall bis zu einem gewissen Grad. Überdies ist es ihm gelungen, mich zu manipulieren, so dass ich nicht wusste, wer er wirklich ist oder was er getan hat. Bis zu dem Tag, an dem er sich durch einen Zufall verraten und dann versucht hat, mich umzubringen. Danach ist er von der Bildfläche verschwunden.«
»Ståles Beschreibung war die Grundlage für dieses Phantombild.« Harry drückte eine Taste. »Das Bild ist natürlich nicht mehr aktuell, aber auf jeden Fall besser als das Überwachungsfoto aus dem Stadion.«
Katrine neigte den Kopf. Die Zeichnung zeigte eine Veränderung der Haare, Nase und Augenform. Ja, sogar die Kopfform wirkte irgendwie spitzer als auf den Fotos. Nur das Lächeln war noch da. Das, was sie für Lächeln hielten. Das Lächeln eines Krokodils.
»Wie wurde er ein Vampirist?«, ertönte eine Frage aus dem hintersten Winkel des Raumes.
»Tja, ich persönlich bin noch gar nicht davon überzeugt, dass es Vampiristen überhaupt gibt«, sagte Aune. »Es kann eine ganze Reihe von Gründen geben, warum Valentin Gjertsen Blut trinkt, eine endgültige Antwort wage ich da noch nicht zu geben.«
Eine lange Stille folgte.
Harry räusperte sich. »Bei keinem von Valentins alten Fällen gab es Anzeichen für Beißen oder Bluttrinken. In der Regel halten sich Täter wie er an ein gewisses Muster. Sie werden wieder und wieder von den gleichen Phantasien heimgesucht.«
»Wie sicher sind wir uns denn, dass das wirklich Valentin Gjertsen ist?«, fragte Skarre. »Und nicht nur einer, der uns das glauben lassen will?«
»Neunundachtzig Prozent«, sagte Bjørn Holm.
Skarre lachte. »Exakt neunundachtzig?«
»Ja, wir haben Körperhaare an den Handschellen gefunden, mit denen er Penelope Rasch gefesselt hat. Vermutlich stammen diese Haare von seinem Handrücken. Bei einer DNA-Analyse ist man bei einer Übereinstimmung schnell bei neunundachtzig Prozent Sicherheit. Die restlichen elf Prozent brauchen Zeit. Die endgültige Antwort haben wir in zwei Tagen. Die Handschellen, die er benutzt hat, kann man übrigens im Internet kaufen. Eine Replik von Handschellen aus dem Mittelalter. Deshalb Eisen und nicht Stahl. Bestimmt beliebt bei Leuten, die ihre Liebesnester wie mittelalterliche Kerker eingerichtet haben.«
Ein einzelnes, grunzendes Lachen ertönte.
»Und wie verhält es sich mit diesen Eisenzähnen?«, fragte eine Beamtin. »Wo kann er die herhaben?«
»Das ist schwieriger«, sagte Bjørn Holm. »Wir haben noch keinen Produzenten gefunden, der solche Zähne herstellt, jedenfalls nicht aus Eisen. Vielleicht hat er bei einem Schmied eine Sonderanfertigung in Auftrag gegeben. Oder er hat sie selber gemacht. Die Methode ist auf jeden Fall neu. Wir haben noch nie davon gehört, dass jemand solche Zähne benutzt hätte.«
»Neue Vorgehensweise«, sagte Aune, öffnete seine Jacke und präsentierte seinen Bauch. »Dabei sind grundlegende Wechsel der Vorgehensweise eigentlich ausgeschlossen. Menschen sind Gewohnheitstiere, sie bestehen darauf, immer wieder dieselben Fehler zu machen, selbst wenn sie über neue Informationen verfügen. Das ist auf jeden Fall meine These, die in Psychologenkreisen aber so umstritten ist, dass sie auch Aunes Postulat genannt wird. Wenn wir trotzdem beobachten, dass ein Individuum das Verhalten ändert, muss das an einer Veränderung des Umfelds liegen, an das es sich anpasst. Die grundlegende Motivation des Individuums bleibt dabei dieselbe. Es ist keineswegs selten, dass ein Sexualverbrecher neue Phantasien und Gelüste entwickelt, denn auch bei solchen Leuten entwickelt sich der Geschmack langsam weiter, aber grundsätzlich ändert sich dafür nichts am Individuum. Als ich ein Teenager war, hat mein Vater zu mir gesagt, dass ich, wenn ich älter bin, Beethoven schon zu schätzen wissen würde. Damals hasste ich Beethoven und war überzeugt davon, dass er sich irrte. Valentin Gjertsen hatte schon als junger Mensch einen recht breit gefächerten Geschmack in sexueller Hinsicht. Er hat sowohl junge als auch alte Frauen vergewaltigt, ja vielleicht sogar Jungs. Erwachsene Männer waren nicht dabei, aber dafür kann es auch rein praktische Gründe geben, sie können sich einfach besser wehren. Pädophilie, Nekrophilie, Sadismus, all das steht auf Valentin Gjertsens Speisekarte. Abgesehen von Svein Finne, den wir auch als den ›Verlobten‹ kennen, ist Valentin Gjertsen die Person, mit der die Osloer Polizei die meisten sexuell motivierten Morde in Verbindung bringt. Dass er jetzt auf den Geschmack von Blut gekommen ist, heißt bloß, dass er wirklich offen für neue Erfahrungen ist. In der Psychologie spricht man von der Offenheit für Erfahrungen. Ich sage, ›auf den Geschmack gekommen‹, weil die eine oder andere Beobachtung, wie die Tatsache, dass er dem Blut in einem Fall Zitrone beigemischt hat, mehr darauf hindeutet, dass Valentin Gjertsen mit Blut experimentiert und nicht wirklich davon besessen ist.«
»Nicht besessen?«, rief Skarre. »Ein Opfer pro Tag! Während wir hier sitzen, ist er vermutlich bereits wieder auf der Jagd. Oder nicht, Professor?« Die Ironie war deutlich herauszuhören.
Aune breitete seine kurzen Arme aus. »Um es noch einmal zu sagen: Ich weiß es nicht. Wir wissen es nicht. Niemand kann das wissen.«
»Valentin Gjertsen«, sagte Mikael Bellman. »Sind wir uns da ganz sicher, Bratt? Wenn dem wirklich so ist, brauche ich zwei Minuten, um nachzudenken. Ja, ich verstehe, dass es eilt.«
Bellman unterbrach die Verbindung und legte das Handy auf den ClassiCon-Tisch. Isabelle hatte ihm gerade erzählt, dass der Tisch aus mundgeblasenem Glas sei, fünfzigtausend Kronen teuer. Und dass sie die neue Wohnung lieber mit ein paar wenigen Qualitätsmöbeln einrichten wollte als mit einem Haufen Schrott. Von seinem Platz aus sah Mikael einen künstlichen Badestrand und ein paar Fähren, die durch den Oslofjord pflügten. Scharfe Windböen peitschten das violette Wasser auf, so dass es etwas weiter draußen fast weiß wirkte.
»Und?«, fragte Isabelle aus dem Bett hinter ihm.
»Die leitende Ermittlerin fragt sich, ob sie heute Abend zum Sonntagsmagazin gehen soll. Es geht natürlich um die Vampiristenmorde. Wir wissen jetzt, wer der Täter ist, aber nicht, wo er sich aufhält.«
»Ist doch ganz einfach«, sagte Isabelle Skøyen. »Wäre der Typ schon geschnappt worden, müsstest du natürlich selbst dort auftreten. Bei einem Teilerfolg ist es richtig, eine Vertretung zu schicken. Erinnere sie daran, dass sie ›wir‹ und nicht ›ich‹ sagt und dass sie ruhig andeuten soll, dass der Täter sich möglicherweise auch über die Grenze abgesetzt haben könnte.«
»Die Grenze? Warum das denn?«
Isabelle Skøyen seufzte. »Stell dich nicht dümmer, als du bist, Liebling, das nervt.«
Bellman stand auf und trat an die Verandatür. Er sah nach unten auf die Menschen, die wie jeden Sonntag in Richtung Tjuvholmen strömten, um das Astrup-Fearnley-Museum für Neue Kunst zu besuchen oder um die hypermoderne Architektur zu bewundern und viel zu teuren Cappuccino zu trinken. Oder um von einer der wahnwitzig teuren Wohnungen zu träumen, die noch nicht verkauft waren. Er hatte gehört, dass im Museum ein Mercedes ausgestellt wurde, der anstelle des Mercedessterns einen soliden braunen Scheißhaufen auf der Motorhaube hatte. Okay, für manche war fester Stuhlgang eben ein Statussymbol. Andere brauchten die teuersten Wohnungen, das neueste Auto oder die größte Yacht, um sich gut zu fühlen. Und dann gab es solche – wie Isabelle und ihn selbst –, die alles haben wollten: Macht ohne zermürbende Verpflichtungen, Ansehen und Respekt mit ausreichender Anonymität, um sich frei bewegen zu können, eine Familie, die ihnen einen sicheren Rahmen bot und die Gene weitergab, freien Zugang zu Sex außerhalb der eigenen vier Wände, Auto und festen Stuhlgang.
»Also«, sagte Mikael Bellman. »Du denkst, dass die Öffentlichkeit ihn im Ausland vermuten wird, sollte Valentin Gjertsen jetzt eine Pause einlegen? Und nicht meint, dass wir nicht fähig sind, ihn zu fassen? Sollte uns das doch gelingen, sind wir gut, und geschieht ein weiterer Mord, ist ohnehin alles vergessen, was vorher gesagt wurde.« Er drehte sich zu ihr um.
Warum sie das große Doppelbett ins Wohnzimmer gestellt hatte, obwohl das Schlafzimmer ebenso groß war, verstand er nicht. Insbesondere, da die Nachbarn reinsehen konnten. Aber vielleicht war ja gerade das der Grund. Isabelle Skøyen war eine große Frau, ihre langen, kräftigen Beine und ihre üppigen Formen malten sich unter dem schweren goldenen Seidenlaken ab. Allein das machte ihn wieder scharf.
»Du sagst nur ein Wort, bringst damit aber die Idee vom Ausland in die Köpfe der Menschen«, sagte sie. »In der Psychologie nennt man das Verankerung. Simpel, aber effektiv. Weil die Menschen simpel sind.« Sie musterte ihn langsam von Kopf bis Fuß und lächelte breit. »Besonders Männer.«
Dann zog sie das Seidenlaken mit einem kräftigen Ruck auf den Boden.
Er sah sie an und dachte wieder daran, dass ihn der Anblick dieses Körpers unglaublich anmachte, viel mehr als die eigentliche Berührung, während es bei seiner Frau genau umgekehrt war. Dabei war Ullas Körper objektiv betrachtet schöner als Isabelles. Aber Isabelles gewaltige, fast wütende Begierde erregte ihn mehr als Ullas Zärtlichkeit und ihre stillen, in Tränen erstickten Orgasmen.
»Hol dir einen runter!«, kommandierte sie, zog die Knie an, so dass sie wie die Flügel eines Raubvogels nach oben zeigten, und legte zwei Finger auf ihr Geschlecht.
Er tat, was sie wollte. Schloss die Augen. Und hörte es auf dem Glastisch vibrieren. Verdammt, er hatte Katrine Bratt vergessen. Er griff zum Telefon und nahm das Gespräch an.
»Ja?«
Die Frauenstimme am anderen Ende sagte etwas, aber Mikael verstand sie nicht, weil im gleichen Moment das Horn einer Fähre aufheulte.
»Die Antwort lautet ja«, rief er ungeduldig. »Geh zum Sonntagsmagazin, ich bin im Augenblick beschäftigt, aber ich rufe dich später noch mal an, um dir ein paar Anweisungen zu geben, okay?«
»Ich bin’s.«
Mikael Bellman erstarrte. »Schatz, du? Ich dachte, das wäre Katrine Bratt.«
»Wo bist du?«
»Wo? Im Büro natürlich.«
In der viel zu langen Pause, die folgte, wurde ihm bewusst, dass auch sie das Signalhorn der Fähre gehört haben musste und genau deshalb gefragt hatte. Er atmete schwer durch den Mund und starrte auf seine schlaffer werdende Erektion.
»Das Essen wird nicht vor halb sechs fertig sein«, sagte sie.
»Okay«, antwortete er. »Was …?«
»Rindersteak«, erwiderte sie und legte auf.
Harry und Anders Wyller stiegen vor dem Jøssingveien 33 aus dem Auto. Harry zündete sich eine Zigarette an und betrachtete den roten Ziegelbau hinter der hohen Mauer. Sie waren bei Sonnenschein und prächtigen Herbstfarben am Präsidium losgefahren, aber auf dem Weg hier hinauf waren Wolken aufgezogen, die sich zu einer zementfarbenen Decke geformt und der Landschaft sämtliche Farben entzogen hatten.
»Das ist Ila?«, fragte Wyller.
Harry nickte und sog fest an seiner Zigarette.
»Warum hat dieser Typ eigentlich den Beinamen der Verlobte?«
»Weil er seine Vergewaltigungsopfer geschwängert und ihnen dann unter Drohungen das Versprechen abgenommen hat, die Kinder auszutragen.«
»Und wenn nicht?«
»Dann wollte er zurückkommen und den Kaiserschnitt persönlich durchführen.«
Harry inhalierte ein letztes Mal, drückte die Glut auf der Packung aus und steckte die Zigarette zurück. »Bringen wir es hinter uns.«
»Gemäß den Vorschriften dürfen wir ihn nicht anketten, wir beobachten ihn aber die ganze Zeit über die Überwachungskameras«, sagte der Gefängniswärter, der sie am Eingang abgeholt und durch den langen Korridor mit den beidseitigen grauen Stahltüren geführt hatte. »Wir haben es uns zur Regel gemacht, ihm nicht näher als maximal einen Meter zu kommen.«
»Oh«, sagte Wyller. »Wird er gewalttätig?«
»Nein«, sagte der Wärter und steckte den Schlüssel in das Schloss der letzten Tür. »Svein Finne hat in den zwanzig Jahren, die er jetzt hier einsitzt, nicht einen Vermerk bekommen.«
»Aber?«
Der Gefängniswärter zuckte mit den Schultern und drehte den Schlüssel herum. »Ich denke, Sie verstehen das gleich.«
Er öffnete die Tür, ging einen Schritt zur Seite, und Wyller und Harry betraten die Zelle.
Der Mann auf dem Bett saß im Schatten.
»Finne«, sagte Harry.
»Hole.« Die Stimme klang, als mahlte sie Steine.
Harry zeigte auf den einzigen Stuhl, der im Raum stand. »Darf ich mich setzen?«
»Wenn du glaubst, Zeit dafür zu haben? Mir ist zu Ohren gekommen, dass du gut zu tun hast.«
Harry setzte sich, während Wyller vor der Tür stehen blieb.
»Hm. Ist er es?«
»Wer?«
»Du weißt schon, wen ich meine.«
»Ich antworte dir darauf, wenn du mir eine ehrliche Antwort auf meine Frage gibst. Hast du es vermisst?«
»Was vermisst, Finne?«
»Einen Spielkameraden auf Augenhöhe zu haben. Wie damals bei mir?«
Der Mann im Schatten beugte sich vor, so dass sein Kopf von dem Licht beleuchtet wurde, das durch das vergitterte Fenster hoch oben an der Wand fiel. Harry hörte, wie Wyllers Atem sich beschleunigte. Das Gitter warf Schattenstreifen auf das pockennarbige Gesicht mit der ledrigen rotbraunen Haut, in das sich tiefe, messerscharfe Falten schnitten, die bis auf die Knochen zu reichen schienen. Der Mann trug ein rotes Tuch um den Hals, wie ein Indianer, und ein Bart rahmte seine dicken, feuchten Lippen ein. Das Weiß der Augen, das eine braune Iris mit kleiner Pupille umgab, wirkte irgendwie vergilbt, sein Körper war aber noch immer schlank und muskulös wie bei einem Zwanzigjährigen. Harry rechnete nach. Svein »Verlobter« Finne musste inzwischen fünfundsiebzig sein.
»Seinen Ersten vergisst man nie, nicht wahr, Hole? Mein Name wird auf deiner Liste immer ganz oben stehen. Ich habe dir die Unschuld genommen, oder?« Sein Lachen klang, als würde er mit Kies gurgeln.
»Nun«, sagte Harry und faltete die Hände. »Wenn Ehrlichkeit meinerseits damit belohnt wird, dass du es auch bist, sage ich dir gerne, dass ich es nicht vermisst habe. Und dass ich dich nie vergessen werde, Svein Finne. Oder eine derjenigen, die du misshandelt und ermordet hast. Ihr alle sucht mich regelmäßig in der Nacht heim.«
»Bei mir ist es ebenso. Meine Verlobten sind mir treu.« Finnes fleischige Lippen öffneten sich, als er grinste und sich gleichzeitig die rechte Hand vor das rechte Auge legte. Harry hörte, dass Wyller einen Schritt zurücktrat und gegen die Tür stieß. Finnes Auge starrte Wyller durch ein golfballgroßes Loch im Handrücken an.
»Hab keine Angst, mein Junge«, sagte Finne. »Wenn du vor jemandem Angst haben solltest, dann vor deinem Chef hier. Er war damals so jung, wie du es jetzt bist, und ich lag bereits auf dem Boden und konnte mich nicht mehr wehren. Trotzdem hat er seine Pistole auf meinen Handrücken gesetzt und abgedrückt. Dein Chef hat ein schwarzes Herz, Junge, vergiss das nie. Und jetzt hat er wieder Durst. Genau wie der andere dort draußen. Und dieser Durst ist wie ein Brand, deshalb heißt es ja auch Durst löschen. Solange er nicht gelöscht wird, wird er alles vernichten, was mit ihm in Kontakt kommt. Nicht wahr, Hole?«
Harry räusperte sich. »Jetzt bist du dran, Finne. Wo versteckt Valentin sich?«
»Ihr wart früher schon mal hier und habt das gefragt, und ich kann nur wiederholen, dass ich mit Valentin kaum gesprochen habe, als er hier einsaß. Außerdem ist es fast vier Jahre her, dass er hier ausgebrochen ist.«
»Seine Methoden ähneln deinen. Es gibt Leute, die behaupten, du hättest ihn angelernt.«
»Unsinn. Valentin ist fertig ausgebildet auf die Welt gekommen. Glaub mir.«
»Wo würdest du dich verstecken, wenn du an seiner Stelle wärst?«
»So nah, dass ich innerhalb deines Blickfeldes wäre, Hole. Ich wäre dieses Mal auf alles vorbereitet.«
»Er wohnt in der Stadt? Bewegt sich in der Stadt? Neue Identität? Ist er allein, oder arbeitet er mit jemandem zusammen?«
»Er macht es jetzt anders, oder? Dieses Beißen und Blutsaufen. Vielleicht ist das ja gar nicht Valentin.«
»Es ist Valentin. Also, wie kann ich ihn fassen?«
»Du fasst ihn nicht.«
»Nicht?«
»Der stirbt lieber, als noch einmal hier zu landen. Ihm waren Phantasien nie genug, er musste es tun.«
»Hört sich an, als würdest du ihn doch kennen.«
»Ich kenne das Holz, aus dem er geschnitzt ist.«
»Dasselbe wie bei dir? Hormone aus der Hölle?«
Der alte Mann zuckte mit seinen breiten Schultern. »Jeder weiß, dass die freie, moralische Wahl eine Illusion ist. Die Chemie im Hirn steuert unser Verhalten. Das ist bei dir nicht anders als bei mir, Hole. Einige Menschen erhalten Diagnosen wie ADHS oder Angststörung und werden mit Medikamenten und Trost behandelt. Andere erhalten die Diagnose ›Kriminell‹ und werden weggesperrt. Im Grunde ist das aber alles dasselbe. Eine unglückliche Zusammensetzung der Stoffe im Hirn. Ich bin ja dafür, dass wir weggesperrt werden. Verdammt, wir vergewaltigen schließlich eure Töchter.« Finne lachte trocken. »Also, holt uns von den Straßen, droht uns mit Strafe, damit wir nicht tun, wozu uns die Hirnchemie sonst zwingt. Was das Ganze so schrecklich dramatisch macht, ist eure Feigheit. Warum braucht ihr einen moralischen Vorwand, um uns einzusperren? Warum auf Grundlage einer göttlichen Gerechtigkeit, einer allgemeingültigen, ewigen Moral diese Lügengeschichten von der freien Wahl und der heiligen Strafe? Die Moral ist weder ewig noch universell, sie ist verdammt abhängig vom Zeitgeist, Hole. Vor tausend Jahren waren Männer, die es mit Männern trieben, noch ganz okay, dann wanderten sie dafür ins Gefängnis, während die Politiker jetzt gemeinsam mit ihnen auf die Straße gehen. Das alles hängt doch nur davon ab, was die Gesellschaft braucht oder nicht braucht. Die Moral ist flexibel, sie richtet sich immer nur nach dem Nutzen. Mein Problem ist, dass ich in einer Zeit und in einem Land geboren wurde, in dem es unerwünscht ist, dass ein Mann seinen Samen ungehemmt verbreitet. Nach einer Pandemie, wenn alle Arten wieder auf die Beine kommen müssen, wäre Svein ›Verlobter‹ Finne eine Stütze der Gesellschaft, die Rettung der Menschheit. Oder was meinst du, Hole?«
»Du hast den Frauen gedroht, sollten sie deine Kinder nicht austragen«, sagte Harry. »Valentin ermordet sie. Warum willst du mir da nicht helfen, ihn zu schnappen?«
»Helfe ich dir denn nicht?«
»Das ist mir alles zu allgemein und halbgar. Wenn du uns hilfst, lege ich ein gutes Wort für dich ein. Vielleicht musst du dann ja ein paar Jahre weniger sitzen.«
Harry hörte, wie Wyller mit den Sohlen über den Boden fuhr.
»Wirklich?« Finne strich sich den Bart glatt. »Obwohl du weißt, dass ich wieder zu vergewaltigen anfange, sobald ich draußen bin? Du musst diesen Valentin wirklich schnappen wollen, sonst würdest du nicht die Ehre so vieler Frauen aufs Spiel setzen. Aber wahrscheinlich kannst du nicht anders.« Er tippte sich mit dem Finger an die Schläfe. »Chemie …«
Harry antwortete nicht.
»Egal«, sagte Finne. »Ich habe meine Strafe nächsten März abgesessen, am ersten Samstag des Monats, dein Angebot ist also nicht wirklich attraktiv, es kommt zu spät. Außerdem hatte ich vor ein paar Wochen schon meinen ersten Freigang. Und weißt du was? Ich habe mich hierher zurückgesehnt. Also nein danke. Sag mir lieber, wie es mit dir läuft, Hole. Wie ich gehört habe, bist du verheiratet? Und hast einen Hurensohn? Wohnt ihr auch sicher?«
»Hm. Ist das alles, was du sagen willst, Finne?«
»Ja, aber ich werde mit Interesse verfolgen, wie das mit euch läuft.«
»Mit mir und Valentin?«
»Mit dir und deiner Familie. Ich hoffe, du gehörst zum Empfangskomitee, wenn ich rauskomme.« Finnes Lachen wurde zu einem feuchten Husten.
Harry stand auf und machte Wyller ein Zeichen, dass er an die Tür klopfen solle. »Danke für deine kostbare Zeit, Finne.«
Finne hob die rechte Hand vor sein Gesicht und winkte. »Auf Wiedersehen, Hole. Es freut mich, dass wir ein bisschen über unsere Z-Zukunftspläne reden konnten.«
Harry sah das hämische Lachen durch das Loch in der Hand.