Kapitel 32

Mittwochnacht

Mikael Bellman stand mit verschränkten Armen da und fragte sich, ob im Polizeibezirk Oslo jemals eine Pressekonferenz um zwei Uhr nachts abgehalten worden war. Er lehnte links des ­Podiums an der Wand und ließ seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Ein paar Redakteure, die Nachtdienst in den Zeitungen hatten, ein paar wenige Chefs vom Dienst, eine Handvoll Journalisten von den Nachrichtendesks und ein paar Reporter, die eigentlich über die Verwüstungen durch Emilia berichten sollten oder von ihren Vorgesetzten für die Pressekonferenz aus den Betten geklingelt worden waren und entsprechend verschlafen nach vorne starrten. Mona Daa war in Trainingsklamotten und Regenjacke gekommen und sah hellwach aus.

Oben auf dem Podium saßen Dezernatsleiter Gunnar Hagen und Katrine Bratt, die im Detail über die Aktion in Valentin Gjertsens Wohnung in Sinsen und das nachfolgende Drama auf Hallstein Smiths Hof berichtete. Blitzlichter leuchteten auf, und Bellman wusste, dass die eine oder andere Kamera auch auf ihn gerichtet wurde, auch wenn er nicht oben auf dem Podium saß. Er versuchte deshalb, die Miene aufzusetzen, die Isabelle ihm empfohlen hatte, als er sie auf dem Weg hierher angerufen hatte. Ernst, aber mit der inneren Zufriedenheit eines Siegers. »Doch vergiss nicht, dass Menschen gestorben sind«, hatte Isabelle gesagt. »Also kein Grinsen und keine allzu offensichtliche Freude. Stell dir vor, du wärst Admiral Eisenhower am D-Day, du trägst die Verantwortung für den Sieg, aber auch für die Tragödie.«

Bellman unterdrückte ein Gähnen. Ulla hatte ihn geweckt, als sie besoffen von ihrem Frauenabend zurückgekommen war. Er konnte sich nicht daran erinnern, sie seit ihrer Jugend jemals ­betrunken gesehen zu haben. Apropos betrunken. Harry Hole stand neben ihm, und wüsste Bellman es nicht besser, würde er sagen, dass auch der frühere Hauptkommissar betrunken war. Er sah müder aus als die meisten Journalisten, und seine nassen Klamotten rochen nach Schnaps.

Ein schneidender Rogaland-Dialekt war zu hören. »Ich verstehe, dass Sie den Namen des Polizisten, der auf den Täter geschossen und ihn getötet hat, nicht preisgeben wollen, aber Sie müssen doch in der Lage sein, uns zu sagen, ob Valentin Gjertsen bewaffnet war oder zurückgeschossen hat?«

»Wie gesagt, möchten wir mit den Details warten, bis wir ganz im Bilde sind«, sagte Katrine und zeigte auf Mona Daa, die eine Hand gehoben hatte.

»Vielleicht können und wollen Sie uns mehr über Hallstein Smiths Rolle bei dem Ganzen sagen?«

»Ja«, sagte Katrine. »Da kennen wir alle Details, da der Tathergang aufgezeichnet wurde und wir mit Smith währenddessen ­telefoniert haben.«

»Das sagten Sie bereits, aber mit wem hat er telefoniert?«

»Mit mir«, sie räusperte sich. »Und mit Harry Hole.«

Mona Daa legte den Kopf schief. »Dann waren Sie und Harry Hole im Präsidium, als das passiert ist?«

Mikael Bellman sah Katrines hilfesuchenden Blick zu Gunnar Hagen, aber der Dezernatsleiter schien nicht zu verstehen, was sie wollte. Und Bellman auch nicht.

»Wir können, was die Arbeitsmethoden der Polizei angeht, gerade bei diesem Fall nicht zu sehr ins Detail gehen«, sagte Hagen. »Zum einen, weil das Beweismaterial sehr sensibel ist, und zum anderen auch, weil wir nicht zu viel im Hinblick auf die Taktik bei zukünftigen Fällen offenbaren wollen.«

Mona Daa und die anderen im Saal schienen sich damit zufriedenzugeben, dabei sah Bellman Hagen deutlich an, dass dieser keine Ahnung hatte, was er da deckte.

»Es ist spät, und wir haben diese Nacht alle noch viel zu tun«, sagte Hagen und sah auf die Uhr. »Morgen Mittag um zwölf Uhr wird es die nächste Pressekonferenz geben, hoffentlich haben wir dann mehr für Sie. Bis dahin wünsche ich Ihnen eine gute Nacht, sicher können wir alle jetzt wieder ein bisschen besser schlafen.«

Das Blitzlichtfeuer wurde stärker, als Hagen und Bratt aufstanden. Auch hagelte es weitere Fragen. Einige der Fotografen richteten ihre Linsen auf Bellman, und als die ersten Journalisten, die bereits aufgestanden waren, zwischen Bellman und die Kameras gerieten, trat er einen Schritt vor, damit die Fotografen freies Schussfeld hatten.

»Warte noch ein bisschen, Harry«, sagte Bellman, ohne zur Seite zu blicken oder seine Eisenhower-Mimik zu ändern. Als das Geblitze stoppte, drehte er sich zu Harry Hole um, der mit verschränkten Armen dastand.

»Ich werde dich nicht der Meute zum Fraß vorwerfen«, sagte Bellman. »Du hast deinen Job gemacht und einen lebensgefährlichen ­Serienmörder erschossen.« Er legte Harry eine Hand auf die Schulter. »Wir kümmern uns doch um unsere eigene Brut, nicht wahr?«

Der großgewachsene Polizist sah vielsagend auf seine Schulter, und Bellman nahm die Hand weg. »Genieß den Sieg, Bellman, ich muss morgen früh zum Verhör, also gute Nacht«, sagte er mit heisererer Stimme als gewöhnlich.

Bellman sah Harry nach, der Richtung Tür ging. Breitbeinig und mit federnden Knien wie ein Matrose bei rauher See.

Bellman hatte sich bereits mit Isabelle besprochen, und sie waren übereingekommen, dass der Erfolg nur dann keinen fahlen Beigeschmack hatte, wenn die internen Ermittlungen ergaben, dass Harry Holes Verhalten nicht oder allenfalls minimal zu kritisieren war. Wie sie den Beamten der internen Ermittlung zu dieser Erkenntnis verhelfen konnten, wussten sie allerdings noch nicht. Direkt bestechlich waren die nicht. Jeder einigermaßen normal denkende Mensch war aber natürlich vernünftigen Argumenten zugänglich. Und die Erfahrung der letzten Jahre habe gezeigt, meinte Isabelle, dass Presse und Bevölkerung es stillschweigend akzeptierten, wenn Serienmörder am Ende ihrer Laufbahn von der Polizei erschossen würden. Außerdem entspräche es dem Gerechtigkeitsempfinden der einfachen Leute, wenn die Gesellschaft solche Probleme effektiv und rasch löste und nicht auch noch schwindelerregende Summen für ein langwieriges Gerichtsverfahren aufgebracht werden mussten.

Bellman hielt nach Katrine Bratt Ausschau. Er wusste, dass sie beide zusammen ein gutes Fotomotiv wären. Aber sie war bereits gegangen.

»Gunnar!«, rief er so laut, dass sich ein paar der Fotografen umdrehten. Der Dezernatsleiter, der schon in der Tür stand, kam noch einmal zurück.

»Mach ein ernstes Gesicht«, flüsterte Bellman und reichte ihm die Hand. »Gratuliere«, fügte er dann laut hinzu.

Harry stand unter einer der Straßenlaternen in der Borggata und versuchte, sich in Emilias letzten Böen eine Zigarette anzuzünden. Er fror so sehr, dass seine Zähne klapperten und die Zigarette zwischen seinen Lippen auf und ab wippte.

Die Journalisten strömten immer noch aus dem Präsidium. Vielleicht lag es daran, dass sie so müde waren wie er, auf jeden Fall diskutierten sie nicht wild miteinander, sondern quollen wie eine stumme, zähfließende Masse aus dem Gebäude und verteilten sich den Hang hinunter zum Grønlandsleiret. Möglich war aber auch, dass sie wie er die ungeheure Leere spürten, die immer dann kam, wenn man das Ziel erreichte, am Ende des Weges ankam und erst dort erkannte, dass es keinen weiteren Weg mehr gab. Keinen Acker, den man pflügen konnte. Nur die Frau, die noch immer mit Arzt und Hebamme im Haus war, ohne dass man selbst irgendetwas tun konnte. Für etwas zu gebrauchen war.

»Worauf wartest du?«

Harry drehte sich um. Es war Bjørn.

»Auf Katrine«, sagte Harry. »Sie hat gesagt, dass sie mich nach Hause fährt. Sie holt gerade den Wagen aus der Garage. Wenn du mitfahren willst …«

Bjørn schüttelte den Kopf. »Hast du mit Katrine gesprochen? Über das, worüber wir geredet haben?«

Harry nickte und unternahm einen neuerlichen Versuch, die Zigarette anzuzünden.

»Ist das ein Ja?«, fragte Bjørn.

»Nein«, sagte Harry. »Ich habe nicht gefragt, welche Chancen du hast.«

»Hast du nicht?«

Harry schloss die Augen für einen Moment. Vielleicht hatte er doch. Er konnte sich aber weder daran noch an ihre Antwort erinnern.

»Ich dachte nur, wenn ihr beide so spät noch irgendwo außerhalb des Präsidiums zusammen seid, könntet ihr ja auch über andere Dinge als den Job reden.«

Harry schirmte die Zigarette und das klickende Feuerzeug mit der anderen Hand ab und musterte Bjørn. Seine hellblauen, kindlichen Augen quollen noch etwas mehr hervor als sonst.

»Ich erinnere mich nur noch an die Jobdinge, Bjørn.«

Bjørn Holm sah zu Boden und trat mit den Füßen auf der Stelle. Als wollte er seinen Kreislauf wieder in Gang bringen. Als käme er nicht vom Fleck.

»Ich sag dir Bescheid, Bjørn.«

Bjørn Holm nickte, ohne den Blick zu heben, drehte sich um und ging.

Harry folgte ihm mit den Augen. Er hatte das Gefühl, dass Bjørn etwas gesehen hatte, etwas wusste, was er, Harry, selbst nicht wusste. Da! Endlich Feuer.

Ein Auto hielt vor ihm.

Harry seufzte, warf die Zigarette auf den Boden, öffnete die Tür und stieg ein.

»Worüber habt ihr gesprochen?«, wollte Katrine wissen, warf einen Blick in Richtung Bjørn und fuhr dann über den nächtlich verwaisten Grønlandsleiret davon.

»Hatten wir Sex?«, fragte Harry.

»Was?«

»Ich habe keinen blassen Schimmer, was gestern Abend passiert ist. Wir haben doch nicht miteinander geschlafen?«

Katrine antwortete nicht, sondern konzentrierte sich darauf, an der roten Ampel exakt auf dem weißen Streifen zu halten. Harry wartete.

Es wurde grün.

»Nein«, sagte Katrine, gab Gas und ließ die Kupplung kommen. »Wir hatten keinen Sex.«

»Gut«, sagte Harry und atmete leise pfeifend aus.

»Du warst zu betrunken.«

»Was?«

»Du warst zu voll. Du bist vorher eingeschlafen.«

Harry schloss die Augen. »Verdammt.«

»Habe ich auch gedacht.«

»Nicht deshalb. Rakel liegt im Koma, und ich …«

»Du tust, was du tun kannst, um ihr zur Seite zu stehen. Vergiss es, Harry. Es sind schon schlimmere Dinge passiert.«

Im Radio meldete eine trockene Stimme, dass Valentin Gjertsen, der sogenannte Vampirist, gegen Mitternacht erschossen worden sei. Und dass Oslo seinen ersten Tropensturm erlebt und überstanden habe. Katrine und Harry fuhren schweigend durch Majorstua und Vinderen in Richtung Holmenkollen.

»Was denkst du eigentlich über Bjørn?«, fragte Harry. »Siehst du eine Möglichkeit … ich meine, hat er noch eine Chance?«

»Hat er dich gebeten, das zu fragen?«, unterbrach Katrine ihn.

Harry antwortete nicht.

»Ich dachte, er hätte was mit dieser Lien.«

»Keine Ahnung, die kenne ich nicht. Aber okay. Du kannst mich hier rauslassen.«

»Soll ich dich nicht bis zum Haus hochfahren?«

»Du weckst nur Oleg. So, ja. Gute Nacht.« Harry öffnete die Tür, blieb aber sitzen.

»Ja?«

»Hm. Nichts.« Er stieg aus.

Harry sah die Rücklichter im Dunkeln verschwinden und ging über den Kies zum Haus hoch.

Es lag still und groß vor ihm und wirkte noch dunkler als die Nacht. Ausgeschaltet. Ohne Atem.

Er schloss die Tür auf und lauschte.

Sah Olegs Schuhe, hörte aber nichts.

Im Waschkeller zog er sich aus und legte die Wäsche in den Korb. Ging nach oben ins Schlafzimmer und suchte sich saubere. Er wusste, dass er kein Auge zumachen würde, ging in die Küche, kochte Kaffee und starrte aus dem Fenster.

Er dachte nach. Verdrängte die Gedanken, goss sich Kaffee ein und wusste, dass er ihn nicht trinken würde. Sollte er in die Jealousy Bar? Aber noch mehr Alkohol würde er auch nicht schaffen. Nicht jetzt. Vielleicht später.

Und plötzlich waren die Gedanken wieder da.

Nur zwei.

Simpel und hartnäckig.

Der eine lautete: Wenn Rakel nicht überlebt, folgst du ihr. Dann gehst du denselben Weg.

Der andere: Wenn sie überlebt, verlässt du sie. Sie verdient etwas Besseres und muss die Beziehung dann nicht selber beenden.

Und ein dritter.

Harry legte das Gesicht in die Hände und überlegte, ob er sich wünschte, dass sie überlebte, oder nicht.

Verdammt, verdammte Scheiße!

Und ein vierter.

Was Valentin im Wald gesagt hatte.

Aber letzten Endes werden wir alle überlistet, Harry.

Hatte er damit gemeint, dass Harry ihn überlistet hatte? Oder meinte er jemand anderen? Hatte jemand anders Valentin überlistet?

Deshalb bist auch du überlistet worden.

Das hatte er gesagt, bevor er Harry überlistet und glauben gemacht hatte, er wäre bewaffnet. Aber meinte er das wirklich so, ging es nicht um etwas ganz anderes?

Harry zuckte zusammen, als er eine Hand auf seiner Schulter spürte.

Drehte sich um und hob den Blick.

Oleg stand hinter ihm.

»Ich habe dich nicht kommen gehört«, versuchte Harry zu sagen, aber seine Stimme gehorchte nicht richtig.

»Du hast geschlafen.«

»Geschlafen?« Harry schob sich etwas vom Tisch weg. »Nein, nein, ich habe hier nur gesessen und nach …«

»Du hast geschlafen, Papa«, unterbrach Oleg ihn lächelnd.

Harry blinzelte eine Träne weg. Sah sich um. Streckte die Hand aus und legte die Finger um die Kaffeetasse. Sie war kalt. »Hm. Verdammt!«

»Ich habe nachgedacht«, sagte Oleg, zog den Stuhl neben Harry vom Tisch weg und setzte sich.

Harry versuchte, trotz trockener Kehle, zu schlucken.

»Und du hast recht.«

»Habe ich?« Harry trank einen Schluck kalten Kaffee, um den Geschmack von Galle herunterzuspülen.

»Ja. Deine Verantwortung geht über die Verantwortung für deine Nächsten hinaus. Du musst auch für die da sein, die dir nicht so nahe sind. Ich habe nicht das Recht, von dir zu verlangen, dass du die alle im Stich lässt. Dass solche Mordfälle für dich auch wie Drogen sind, ändert daran gar nichts.«

»Hm, und zu der Erkenntnis bist du ganz allein gekommen?«

»Ja, und nein, Helga hat mir auf die Sprünge geholfen.« Oleg sah auf seine Hände. »Sie ist besser als ich darin, etwas aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Und … ich hab das nicht so gemeint, als ich gesagt habe, dass ich nicht so wie du werden will.«

Harry legte Oleg die Hand auf die Schulter und sah, dass er das Elvis-Costello-Shirt trug, das er von Harry geerbt hatte und in dem er immer schlief. »Mein Junge?«

»Ja?«

»Versprich mir, dass du nicht so wirst wie ich. Das ist das Einzige, worum ich dich bitte.«

Oleg nickte. »Da ist noch etwas«, sagte er.

»Ja?«

»Steffens hat angerufen. Wegen Mama.«

Harry hatte ein Gefühl, als legte eine eiserne Klaue sich um sein Herz, er hörte auf zu atmen.

»Sie ist aufgewacht.«

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