Kapitel 36

Sonntagabend

Harry hatte den Kopf auf die Hände gestützt und lauschte den schweren Schritten und den Stimmen in der Etage über ihm. Sie waren im Wohnzimmer. In der Küche. Im Flur. Sperrten ab, stellten kleine Fähnchen auf, machten Fotos.

Dann zwang er sich, den Kopf zu heben und die Augen noch einmal zu öffnen.

Er hatte dem Dorfpolizisten erklärt, dass sie Marte Ruud nicht abschneiden durften, bis die Spurensicherung vor Ort war. Natürlich konnte man sich einreden, dass sie bereits in Valentins Kofferraum verblutet war, genug Blut hatten sie dort gefunden. Aber die Matratze, die auf der linken Seite des Käfigs lag, erzählte eine andere Geschichte. Sie war schwarz und getränkt von dem, was menschliche Körper absonderten. Und über der Matratze hingen Handschellen.

Auf der Kellertreppe waren jetzt Schritte zu hören. Eine bekannte Stimme fluchte laut, und dann tauchte Bjørn Holm mit einer blutenden Wunde auf der Stirn auf. Er trat neben Harry, warf einen Blick in den Käfig und dann auf Harry. »Jetzt verstehe ich, warum die beiden Polizisten identische Kratzer auf der Stirn haben. Du hast den auch. Warum hat es eigentlich keiner von euch für nötig erachtet, mir das zu sagen?« Er drehte sich um und rief in Richtung Treppe: »Passt auf die Wasserleitung …!«

»Autsch!«, ertönte eine tiefe Stimme.

»Wie kann man eine Kellertreppe nur so anlegen, dass man sich unweigerlich den Kopf …?«

»Du willst sie nicht ansehen«, sagte Harry leise.

»Was?«

»Ich auch nicht, Bjørn. Ich bin jetzt schon seit einer Stunde hier, aber es wird, verdammt noch mal, nicht leichter!«

»Und warum sitzt du dann noch hier?«

Harry stand auf. »Sie war so lange allein. Ich dachte …«

Harry merkte, dass ihm die Stimme wegbrach. Er ging schnell zur Treppe und nickte dem Kollegen von der Spurensicherung zu, der sich die Stirn rieb.

Der Dorfpolizist stand oben im Flur und telefonierte.

»Smith?«, fragte Harry.

Jimmy zeigte nach oben.

Hallstein Smith saß vor dem Computer und las in dem Notizbuch mit Alexander Dreyers Namen, als Harry zur Tür hereinkam.

Er hob den Blick. »Das da unten, Harry, das ist Alexander ­Dreyers Werk.«

»Nennen wir ihn lieber Valentin. Bist du dir sicher?«

»Das steht alles hier in meinen Notizen. Er hat mir seine Phantasien, eine Frau zu foltern und zu ermorden, genau beschrieben. Als wäre das ein Kunstwerk, das er plante.«

»Aber das reichte nicht, um zur Polizei zu gehen?«

»Ich habe darüber nachgedacht, aber wenn wir der Polizei all die grotesken Verbrechen melden würden, die unsere Patienten in ihrer Phantasie begehen, würden wir – und die Polizei – kaum noch etwas anderes tun, als uns um sie zu kümmern.« Smith stützte den Kopf auf die Hände. »Wenn ich an all die Menschenleben denke, die ich hätte retten können …«

»Quäl dich nicht, Hallstein, es ist absolut nicht sicher, dass die Polizei irgendetwas unternommen hätte. Und noch etwas: Da Lenny Hell deine Unterlagen gestohlen hat, ist es durchaus möglich, dass er Valentins Phantasien kopiert hat.«

»Das ist nicht ausgeschlossen. Nicht wahrscheinlich, wenn du mich fragst, aber auch nicht unmöglich.« Smith kratzte sich am Kopf. »Ich verstehe aber noch immer nicht, wie Hell wissen konnte, dass er in meinen Unterlagen den Mörder findet, den er braucht.«

»Du bist mitunter ganz schön redselig, weißt du.«

»Was?«

»Denk doch mal nach, Smith. Ist es nicht möglich, dass du in dem Gespräch mit Lenny Hell über morbide Eifersucht erwähnt hast, dass auch noch andere deiner Patienten Mordphantasien haben?«

»Das habe ich ganz sicher getan, ich versuche meinen Patienten immer klarzumachen, dass sie mit ihren Gedanken nicht allein sind. Ganz einfach, um sie zu beruhigen und das alles ein bisschen normaler wirken zu …« Smith hielt inne und legte die Hand vor den Mund. »Mein Gott, du denkst, dass ich … dass meine große Klappe daran schuld ist?«

Harry schüttelte den Kopf. »Es gibt Hunderte von Möglichkeiten, uns selbst die Schuld zu geben, Hallstein. Während meiner Arbeit als Ermittler sind bestimmt ein Dutzend Menschen ermordet worden, weil ich die Serienmörder nicht so schnell gefasst habe, wie das nötig gewesen wäre. Will man überleben, muss man irgendwann lernen loszulassen.«

»Du hast recht.« Smith lachte mechanisch. »Aber so etwas sollte der Psychologe sagen, nicht der Polizist.«

»Fahr nach Hause zu deiner Familie, iss ein ordentliches Sonntagsessen und vergiss das alles für eine Weile. Tord kommt gleich und nimmt sich den Computer vor. Mal sehen, was er findet.«

»Okay.« Smith stand auf, nahm die Wollmütze ab und reichte sie Harry.

»Behalte sie«, sagte Harry. »Und sollte jemand fragen, erinnerst du dich ja daran, weshalb wir heute hier rausgefahren sind, nicht wahr?«

»Na klar«, sagte Smith und setzte die Mütze wieder auf. Harry dachte, dass es irgendwie paradox und komisch, dann aber auch wieder wie eine böse Prophezeiung wirkte, wenn der St.-Pauli-Totenkopf direkt über dem freundlichen Gesicht des Psychologen schwebte.

»Ohne Durchsuchungsbeschluss, Harry!« Gunnar Hagen brüllte so laut, dass Harry den Arm mit dem Handy ausstreckte und Tord, der an Hells Computer saß, den Kopf hob.

»Du bist ohne Durchsuchungsbeschluss in das Haus eingedrungen? Ich hatte doch wohl klipp und klar nein gesagt!«

»Ich bin da nicht rein, Chef.« Harry sah aus dem Fenster in Richtung Tal. Es wurde langsam dunkel, und die ersten Lichter gingen an. »Das war der Polizist hier aus dem Ort, ich habe nur geklingelt.«

»Ich habe mit ihm gesprochen, und er hat gesagt, dass er ab­solut davon überzeugt gewesen sei, du hättest einen Durchsuchungsbeschluss.«

»Ich habe nur gesagt, dass ich alles habe, was ich brauche. Und das hatte ich.«

»Und das wäre?«

»Hallstein Smith war Lenny Hells Psychologe. Er hat das volle Recht, seinen Patienten zu besuchen, wenn er sich Sorgen um ihn macht. In Anbetracht von Hells Verbindung zu zwei Toten meinte Smith, wirklich allen Grund dafür zu haben. Er hat mich gebeten, in meiner Funktion als Polizist mitzukommen, sollte Lenny Hell gewalttätig werden.«

»Und Smith wird das natürlich bestätigen.«

Harry hörte, dass Gunnar Hagen das Kunststück gelang, im gleichen Atemzug zu lachen und vor Wut zu schnauben. »Du hast den Dorfpolizisten da oben ganz schön getäuscht, Harry. Und du weißt doch, dass mögliche Beweisstücke vor Gericht keine Gültigkeit haben, sollten sie herausfinden …«

»Gunnar, jetzt hör doch mit dem Geschimpfe auf.«

Eine kurze Pause entstand. »Was hast du gesagt?«

»Ich habe dich freundlich gebeten, den Mund zu halten«, sagte Harry. »Zum einen gibt es da nichts herauszufinden, wir sind nun mal drin, zum anderen soll ja niemand angeklagt werden. Sie sind alle tot, Gunnar. Wir haben heute hier herausgefunden, was mit Marte Ruud passiert ist. Und dass Valentin Gjertsen nicht allein war. Du und Bellman, ihr werdet dadurch keine Probleme kriegen, eher im Gegenteil.«

»Es ist mir vollkommen egal, was …«

»Ist es nicht, ich sehe den Text der Pressemeldung schon vor mir. Die Polizei war unermüdlich im Einsatz, Marte Ruud zu finden, und dieses Engagement wurde nun belohnt. Wir sind der Meinung, dass Martes Familie und ganz Norwegen es verdient haben, die Wahrheit zu erfahren. Notiert? Lenny Hell tut dem Erfolg des Polizeipräsidenten im Fall Valentin keinen Abbruch, Chef. Das ist ein Extrapunkt. Also entspann dich und iss dein Steak weiter.« Harry ließ das Handy in seine Hosentasche gleiten und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. »Was hast du, Tord?«

Der IT-Experte hob den Blick. »E-Mail-Korrespondenz, die bestätigt, was du sagst. Lenny Hell nimmt mit Alexander Dreyer Kontakt auf und sagt ihm, dass er seine Adresse aus Smiths Pa­tientenkartei hat, die er gestohlen hat. Hell kommt dann direkt zur Sache und schlägt ihm eine Zusammenarbeit vor.«

»Kommt das Wort Mord vor?«

»Ja.«

»Gut, mach weiter.«

»Es dauert ein paar Tage, bis Dreyer, also Valentin antwortet. Er schreibt, dass er sich erst versichern musste, dass die Datei tatsächlich gestohlen worden und die Mail keine Falle der Polizei war. Dass er jetzt aber offen für Vorschläge sei.«

Harry sah über Tords Schulter. Ein Schauer lief ihm über den Rücken, als er las:

Mein Freund, ich bin offen für hübsche Vorschläge.

Tord scrollte weiter und fuhr fort: »Lenny Hell schreibt, dass sie nur über E-Mail Kontakt haben werden und dass Valentin unter keinen Umständen versuchen soll herauszufinden, wer er ist. Er bittet Valentin, einen Ort vorzuschlagen, an dem er die Schlüssel zu den Wohnungen der Frauen und eventuelle weitere In­struktionen deponieren kann, ohne dass sie sich begegnen. Valentin nennt daraufhin die Umkleide im Cagaloglu Hamam …«

»Das türkische Bad.«

»Vier Tage vor dem Mord an Elise Hermansen schreibt Hell, dass der Schlüssel für die Wohnung und weitere Instruktionen in einem Umkleideschrank liegen, verschlossen mit einem kleinen Vorhängeschloss mit einem blauen Punkt. Die Nummer des Schlosses lautet 0999.«

»Hm. Hell hat Valentin also richtiggehend ferngesteuert. Was steht da sonst noch?«

»Bei Ewa Dolmen und Penelope Rasch ist es ähnlich. Es gibt aber keine Instruktionen, um Marte Ruud zu töten. Im Gegenteil. Schauen wir mal … Hier. An dem Tag, nachdem Marte Ruud verschwunden ist, schreibt Hell: Ich weiß, dass du das Mädchen aus Harry Holes Stammkneipe entführt hast, Alexander. Das gehört nicht zu unserem Plan. Ich nehme an, dass du sie noch immer bei dir hast. Das Mädchen wird die Polizei zu dir führen, Alexander. Wir müssen schnell handeln. Nimm das Mädchen mit, ich kümmere mich dann darum, dass sie verschwindet. Fahr zu der Stelle mit folgenden Koordinaten: 60.148083, 10.777245. Das ist ein Straßenabschnitt, auf dem nachts so gut wie kein Verkehr ist. Sei heute Nacht um ein Uhr dort. Du stoppst an dem Schild Hadeland 1 km. Gehst im rechten Winkel genau hundert Meter in den Wald, legst sie an einem großen, verbrannten Baum ab und verschwindest wieder.«

Harry warf einen Blick auf den Bildschirm und tippte die Ko­ordinaten bei Google Maps in sein Telefon ein. »Das ist ein paar Kilometer von hier entfernt. Sonst noch was?«

»Nein, das ist die letzte Mail.«

»Wirklich?«

»Ich habe auf diesem PC erst einmal nichts gefunden. Vielleicht haben sie telefonisch Kontakt gehabt.«

»Sag Bescheid, wenn du was findest.«

»Will do.«

Harry ging nach unten ins Erdgeschoss.

Bjørn Holm stand im Flur und redete mit einem der Kriminaltechniker.

»Ein kleines Detail«, sagte Harry. »Nimm DNA-Proben von dieser Wasserleitung. Haut und Blut. Das ist das reinste Gästebuch.«

»Okay.«

Harry ging zur Tür. Blieb stehen und drehte sich wieder um.

»Übrigens, mein Glückwunsch. Hagen hat es mir gestern erzählt.«

Bjørn sah ihn fragend an. Harry deutete mit der Hand eine ­Kugel vor dem Bauch an.

»Ach das.« Bjørn lächelte. »Danke.«

Harry ging nach draußen und sog die Luft ein, als das Dunkel und die Winterkälte ihn umgaben. Es war wie eine Reinigung. Er lief auf die dunkle Wand der Nadelbäume zu. Sie hatten zwei Schneescooter zur Verfügung gestellt, eine Art Pendelverkehr bis dort, wo der Weg wieder geräumt war. Harry ging davon aus, dass er schon jemanden finden würde, der ihn fuhr. Aber im ­Moment war niemand da. Er fand die feste Spur der Scooter, stellte fest, dass er darin nicht einsank, und ging los. Das Haus war hinter ihm im Dunkeln verschwunden, als ein Laut ihn abrupt innehalten ließ. Er lauschte.

Kirchenglocken. Jetzt?

Er hatte keine Ahnung, ob sie läuteten, weil jemand gestorben oder geboren war, aber das Geräusch selbst jagte ihm einen Schauer über den Rücken. Im gleichen Moment sah er vor sich im Dunkeln ein paar gelbe Augen, die sich bewegten. Tieraugen. Hyänenaugen. Und ein immer lauter werdendes Knurren. Es kam schnell näher.

Harry hob die Hände vor das Gesicht, aber die Scheinwerfer des Schneescooters, der vor ihm gehalten hatte, blendeten ihn trotzdem.

»Wohin wollen Sie?«, fragte eine Stimme hinter dem Licht.

Harry nahm das Telefon, schaltete es ein und reichte es dem Scooterfahrer. »Dahin.«

60.148083, 10.777245

Auf beiden Seiten der schmalen Landstraße war Wald. Keine Autos. Ein blaues Schild.

Harry fand den Baum exakt hundert Meter im rechten Winkel von der Straße entfernt.

Er stapfte durch den Schnee, bis er an dem zersplitterten, verkohlten Stamm stand. Der Schnee lag hier nicht ganz so hoch. Als er in die Hocke ging, sah er die helle Stelle auf dem von den Scheinwerfern des Scooters beleuchteten Stamm. Abriebspuren von einem Tau oder einer Kette. Was heißen musste, dass Marte Ruud zu diesem Zeitpunkt noch gelebt hatte.

»Sie waren hier«, sagte er und sah sich um. »Valentin und Lenny, sie waren beide hier. Ob sie sich dabei begegnet sind?«

Die Bäume starrten ihn stumm wie widerspenstige Zeugen an.

Harry ging zurück zu dem Scooter und setzte sich hinter den Beamten.

»Nehmen Sie die Leute von der Spurensicherung mit hier raus. Vielleicht ist hier noch irgendwas zu finden.«

Der Beamte drehte sich etwas um. »Wohin wollen Sie jetzt?«

»In die Stadt, mit all den schlechten Neuigkeiten.«

»Sie wissen, dass die Angehörigen von Marte Ruud bereits informiert sind?«

»Hm. Aber nicht die Angehörigen im Schrøder

Aus dem Wald war der Schrei eines Vogels zu hören. Es klang wie eine verspätete Warnung.

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