Kapitel 34
Samstag
Masa Kanagawa holte das rotglühende Stück Eisen mit der Schmiedezange aus dem Ofen und legte es auf den Amboss. Dann begann er, mit kleinen Hämmern darauf einzuschlagen. Die Hämmer hatten jene traditionelle japanische Form, bei der der Kopf wie bei einem Galgen etwas weiter vorragte. Masa hatte die kleine Schmiede von seinem Vater übernommen, der sie wiederum von seinem Großvater hatte, aber wie alle Schmieden in Wakayama hatte er den Betrieb nur mit Mühe vor dem Konkurs retten können. Die Stahlindustrie, über Jahrzehnte das ökonomische Rückgrat der Stadt, war nach China abgewandert, so dass Masa auf Nischenprodukte hatte ausweichen müssen. Wie das katana, ein besonders in den USA populäres Samuraischwert, das er auf Direktbestellung für Privatkunden in der ganzen Welt produzierte. In Japan brauchten Schwertschmiede laut Gesetz eine Lizenz, die man erst nach fünf Jahren Ausbildung erhielt, und auch mit Lizenz durften nur zwei Langschwerter pro Monat hergestellt werden, die dann bei den Behörden registriert werden mussten. Masa war nur ein einfacher Schmied ohne Lizenz, der gute Schwerter für einen Bruchteil dessen herstellte, was lizenzierte Schwerter kosteten. Natürlich war das illegal und durfte nicht bekannt werden. Für was seine Kunden die Schwerter brauchten, wusste Masa nicht und wollte es auch nicht wissen. Er hoffte aber, dass sie damit lediglich trainierten oder ihre Waffensammlungen schmückten. Er konnte seiner Familie mit dieser Arbeit gerade so das Auskommen sichern und tat deshalb alles, um die kleine Schmiede am Leben zu erhalten. Seinem Sohn hatte er klipp und klar gesagt, dass er sich einen anderen Beruf suchen und am besten studieren solle, die Arbeit als Schmied sei zu hart und der Lohn zu gering. Der Sohn hatte den Rat seines Vaters befolgt, aber die Universität kostete Geld, so dass Masa alle nur erdenklichen Aufträge angenommen hatte. So auch die Kopie der Eisenzähne aus der Heian-Periode. Der Auftrag war jetzt schon zum zweiten Mal von einem Kunden aus Norwegen gekommen. Das erste Mal hatte Masa diese Zähne vor einem halben Jahr hergestellt. Masa hatte keinen Kundennamen, nur eine Postfachadresse. Aber das war in Ordnung, der Kunde hatte im Voraus bezahlt. Masa hatte einen hohen Preis verlangt. Zum einen, weil es kompliziert war, die Zähne anhand der Zeichnung zu schmieden, die der Kunde ihm geschickt hatte, zum anderen, weil er bei dieser Arbeit wirklich kein gutes Gefühl hatte. Dabei wusste Masa eigentlich nicht, warum es ihm so widerstrebte, die Zähne zu schmieden, andererseits lief ihm jedes Mal ein Schauer über den Rücken, wenn er sie betrachtete. Und wenn er über die Melody Road 370 zurückfuhr – die singende Straße, in die sie ganz spezielle Rillen eingelassen hatten, die eine Melodie erzeugten, wenn die Räder darüber rollten –, hörte er nicht mehr wie früher die schöne, beruhigende Chormusik, sondern eine Warnung, ein tiefes Grummeln, das lauter und lauter wurde und in einem Schrei gipfelte. Wie von einem Dämon.
Harry wachte auf. Er zündete sich eine Zigarette an und fühlte in sich hinein. Was für ein Aufwachen war das gewesen? Sicher kein Job-Aufwachen. Es war Samstag, die Vorlesungen nach den Winterferien begannen erst am Montag, und in die Bar musste er auch nicht, heute war Øystein an der Reihe.
Es war auch kein Alleine-Aufwachen. Rakel lag neben ihm. In den ersten Wochen nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus hatte er sie wie jetzt beim Schlafen beobachtet und immer gefürchtet, sie könnte nicht aufwachen, dass das rätselhafte »Etwas«, das die Ärzte nicht hatten finden können, zurückkam.
»Die Menschen ertragen keine Zweifel«, hatte Steffens gesagt. »Sie klammern sich daran, dass solche wie Sie und ich immer ganz genau Bescheid wissen. Dass der Angeklagte schuldig und die Diagnose richtig ist. Wenn wir sagen, dass wir Zweifel haben, gilt das als Eingeständnis der eigenen Unzulänglichkeit und nicht als Beweis für die Komplexität der Fragestellung oder die Grenzen des Fachs. Die Wahrheit ist aber, dass wir nie wissen werden, was Rakel gefehlt hat. Es gab eine gewisse Häufung von Mastzellen, weshalb ich erst an Mastozytose gedacht habe, an sich schon eine seltene Blutkrankheit. Aber das können wir mittlerweile ausschließen, so dass wir jetzt von einer Vergiftung ausgehen. Sollte dem so sein, brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, dass sich das alles wiederholen wird. Vermutlich genau wie bei dieser Mordserie, nicht wahr?«
»Nur dass wir wissen, wer diese Frauen umgebracht hat.«
»Stimmt. Schlechte Analogie.«
Je länger die Entlassung aus dem Krankenhaus zurücklag, desto mehr Zeit verstrich auch zwischen den Gedanken, die darum kreisten, dass Rakel einen Rückfall erleiden könnte.
Oder dass der Vampirist wieder zugeschlagen hatte, wenn das Telefon klingelte.
Ein Angst-Aufwachen war es also auch nicht.
Nach Valentin Gjertsens Tod war es noch ein paarmal vorgekommen. Erstaunlicherweise nicht während der Vernehmungen durch die internen Ermittler, bei denen recht schnell klargeworden war, dass Harry nicht dafür angeklagt werden konnte, dass er in dieser unübersichtlichen Situation auf einen gefährlichen Mörder geschossen hatte, der noch dazu diese Reaktion provoziert hatte. Erst danach hatten Valentin und Marte Ruud begonnen, ihn in seinen Träumen heimzusuchen. Und nicht er, sondern sie hatte ihm dabei ins Ohr geflüstert. Und deshalb bist auch du überlistet worden.
Immer wieder hatte er sich selbst zu überzeugen versucht, dass er nicht mehr in der Verantwortung stand, sie zu finden. Und nachdem aus den Wochen Monate geworden waren, waren auch ihre Besuche seltener geworden. Der alltägliche Rhythmus zu Hause und an der Polizeihochschule hatte ihm geholfen, und natürlich die Tatsache, dass er keinen Alkohol mehr angerührt hatte.
Er war jetzt endlich dort, wo er sein wollte. Denn es war die fünfte Art. Das Zufriedenheits-Aufwachen. Ein weiterer Tag, der wie die Kopie des vorangegangenen werden würde. Mit exakt dosiertem Serotonin-Level.
Harry schlich sich so leise wie möglich aus dem Bett, zog sich eine Hose an, ging nach unten, legte Rakels Lieblingskapsel in die Espressomaschine, schaltete sie ein und trat nach draußen auf die Treppe. Der Schnee brannte angenehm unter seinen Fußsohlen, während er die Winterluft einsog. Die in Weiß gekleidete Stadt lag noch im Dunkel, aber im Osten errötete schüchtern ein neuer Tag.
Er zog Schuhe und Daunenjacke an und stakste durch den Schnee zum Briefkasten.
Die Aftenposten titelte, dass die Zukunft rosiger sei, als die täglichen Nachrichten dies erwarten ließen. Und dass, obwohl Mord, Krieg und Grausamkeiten medial immer präsent waren, ein gerade veröffentlichter wissenschaftlicher Bericht zu dem Ergebnis gekommen war, dass der Anteil der Menschen, die von anderen getötet wurden, einen historischen Tiefpunkt erreicht hatte, Tendenz weiterhin sinkend. Ja, dass Mord eines Tages vielleicht ausgerottet sein würde. Mikael Bellman, der laut Aftenposten in der kommenden Woche offiziell als Justizminister vereidigt werden sollte, hatte gesagt, dass es sicher nicht falsch sei, sich hohe Ziele zu setzen, dass sein persönliches Ziel aber nicht die perfekte Gesellschaft, sondern eine bessere Gesellschaft war. Harry musste lächeln. Isabelle Skøyen war eine gute Souffleuse. Harrys Blick sprang noch einmal nach oben zu dem Satz, dass Mord eines Tages ausgerottet sein könnte. Warum erzeugte diese gewagte Behauptung wieder die Unruhe, die er – seiner Zufriedenheit zum Trotz – schon den ganzen letzten Monat gespürt hatte, vielleicht sogar länger? Mord. Er hatte es zu seiner Lebensaufgabe gemacht, Mörder zu bekämpfen. Aber was, wenn ihm dies gelang? Was, wenn alle erledigt waren? Wäre dann nicht auch er, Harry, erledigt? Und hatte er nicht ein kleines bisschen von sich mit Valentin begraben? Hatte er sich deshalb an einem der letzten Tage plötzlich an Valentin Gjertsens Grab wiedergefunden? Oder gab es dafür andere Gründe? Steffens’ Äußerung über unsere Unfähigkeit, Zweifel zu ertragen? Nagten die fehlenden Antworten an ihm? Verdammt, Rakel war gesund, Valentin weg – es war an der Zeit loszulassen.
Der Schnee knirschte.
»Winterferien gut verlebt, Harry?«
»Wir haben überlebt, Frau Syvertsen. Noch nicht genug vom Skilaufen?«
»Gute Bedingungen sind gute Bedingungen«, sagte sie, das Gewicht auf das Standbein verlagernd. Ihr Skianzug saß wie angegossen. Sie hielt ihre sicher heliumleichten Langlaufski in der Hand, als wären es Essstäbchen.
»Sie haben nicht Lust auf eine schnelle Tour, Harry? Die anderen schlafen noch, wir könnten zum Tryvann hochsprinten.« Sie lächelte, das Licht der Laterne fiel auf ihre Lippen, auf denen irgendeine Creme gegen die Kälte glänzte. »Die Bedingungen sind wirklich … gut. Ein Dahingleiten.«
»Ich habe keine Ski«, erwiderte Harry mit einem Lächeln.
Sie lachte. »Sie sind Norweger und haben keine Ski?«
»Landesverrat, ich weiß.« Harry warf einen Blick auf die Zeitung. Auf das Datum: 4. März.
»Sie hatten, wenn ich mich richtig erinnere, auch keinen Weihnachtsbaum.«
»Nicht wahr? Man sollte uns anzeigen.«
»Wissen Sie was, Harry. Manchmal beneide ich Sie.«
Harry hob den Blick.
»Ihnen sind Konventionen egal, Sie brechen einfach alle Regeln. Manchmal wünschte ich mir, ebenso frivol wie Sie zu sein.«
Harry lachte. »So wie Sie vorbereitet sind, wird das bei Ihnen ganz hervorragend gleiten.«
»Was?«
»Viel Spaß.« Harry berührte mit der zusammengefalteten Zeitung zum Gruß die Stirn und ging zurück ins Haus.
Er betrachtete das Foto von Mikael Bellman, dem Einäugigen. Vielleicht war sein Blick so fest, weil er wirklich davon überzeugt war, die Wahrheit zu kennen. Wie ein Priester. Ein Blick, der Menschen bekehrte.
Harry blieb auf dem Flur stehen und betrachtete sich selbst im Spiegel.
Die Wahrheit ist, dass wir es nie sicher wissen werden.
Auch du wirst am Ende überlistet.
Sah man ihn? Sah man den Zweifel?
Rakel saß am Küchentisch und hatte ihnen beiden Kaffee eingeschenkt.
»Schon auf?«, sagte er und küsste sie auf den Kopf. Ihre Haare rochen schwach nach Vanille und Schlaf-Rakel, seinem Lieblingsduft.
»Steffens hat gerade angerufen«, sagte sie und drückte seine Hand.
»Was wollte er denn so früh?«
»Er hat sich nur erkundigt, wie es mir geht. Er hat Oleg gebeten, noch einmal vorbeizukommen. Wegen der Blutprobe, die er ihm vor Weihnachten abgenommen hat. Es besteht aber kein Grund zur Sorge, er will nur überprüfen, ob er eventuell eine genetische Verbindung finden kann, die dieses ›Etwas‹ erklärt.«
Das »Etwas«. Sie, Oleg und er hatten sich in der ersten Zeit nach Rakels Rückkehr aus dem Krankenhaus, öfter in den Arm genommen. Hatten mehr miteinander geredet. Weniger geplant. Waren häufiger einfach nur zusammen gewesen. Dann hatte sich die Aufregung wieder gelegt, und alles war wie früher. Eis. Und trotzdem schien da unter ihm noch immer etwas zu brodeln.
»Kein Grund zur Sorge«, sagte Harry mehr zu sich selbst als zu ihr. »Es hat dich aber trotzdem beunruhigt, oder?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Hast du noch mal über die Bar nachgedacht?«
Harry setzte sich und trank einen Schluck von seinem Pulverkaffee. »Als ich gestern da war, dachte ich, dass ich ganz klar verkaufen muss. Ich habe keine Ahnung, wie man eine Kneipe führt, und ich fühle mich auch nicht gerade berufen, jungen Leuten ungutes Zeugs auszuschenken.«
»Aber …«
Harry zog den Reißverschluss der Daunenjacke auf. »Øystein liebt die Arbeit da. Und er hält sich auf Abstand zu dem Zeugs, das er ausschenkt, das weiß ich. Freier Zugang macht wach und achtsam. Und außerdem läuft der Laden.«
»Kein Wunder, wenn die Bar mit zwei Vampiristenmorden, einer Fast-Schießerei und Harry Hole hinter dem Tresen werben kann.«
»Hm. Nein, ich glaube eher, dass Olegs Idee mit dem Musikthema die Leute anzieht. Heute Abend ist Frauenabend. Nur Top-Ladys über fünfzig: Lucinda Williams, Emmylou Harris, Patti Smith, Chrissie Hynde …«
»Vor meiner Zeit, Liebster.«
»Morgen gibt’s Jazz aus den Sechzigern. Das Merkwürdige ist, dass da dieselben Leute auftauchen wie beim Punkabend. Und einmal in der Woche läuft Mehmet zu Ehren Paul Rodgers. Øystein meint, wir sollten ein Musikquiz veranstalten. Und …«
»Harry?«
»Ja?«
»Du hörst dich gerade an, als wolltest du die Jealousy Bar behalten.«
»Tue ich das?« Harry kratzte sich am Kopf. »Verdammt, ich habe dafür so etwas von keine Zeit. Außerdem, zwei Chaoten wie Øystein und ich.«
Rakel lachte.
»Außer …«, sagte Harry.
»Außer was …?«
Harry antwortete nicht, lächelte nur.
»Nein, nein, vergiss das ganz schnell«, sagte Rakel. »Ich habe schon genug zu tun, ohne dass ich …«
»Nur einen Tag in der Woche. Freitags hast du doch sowieso frei. Das bisschen Buchhaltung und der Papierkram. Du kriegst auch einen Sack Aktien und wirst Vorstandsvorsitzender.«
»Vorstandsvorsitzende.«
»Deal.«
Sie schlug seine Hand lachend aus. »Nein.«
»Denk noch mal darüber nach.«
»Okay, ich denk darüber nach, bevor ich nein sage. Gehen wir noch mal ins Bett?«
»Müde?«
»Nicht wirklich.« Sie sah ihn über den Rand ihrer Tasse hinweg durch halbgeschlossene Lider an. »Ich könnte mir einen Sack von dem vorstellen, was Frau Syvertsen nicht kriegt.«
»Hm. Du spionierst mir nach. Nun, nach Ihnen, Frau Vorstandsvorsitzende.«
Harry warf noch einen letzten Blick auf die Titelseite der Zeitung. 4. März. Das Entlassungsdatum. Er ging hinter ihr her zur Treppe. Am Spiegel vorbei, ohne einen Blick hineinzuwerfen.
Svein »Verlobter« Finne betrat den Vår-Frelsers-Friedhof. Es war früh am Morgen, niemand zu sehen. Vor gerade einmal einer Stunde hatte er das Gefängnis Ila als freier Mann verlassen und war gleich hierhergekommen. Vor dem weißen Schnee hoben sich die kleinen schwarzen Grabsteine wie Punkte auf einem Blatt Papier ab.
Mit vorsichtigen, kleinen Schritten schob er sich über den vereisten Weg. Er war inzwischen ein alter Mann, und seit Jahren nicht mehr über Schnee und Eis gelaufen. Vor einem auffällig kleinen Grabstein mit schlichten weißen Buchstaben unter einem Kreuz blieb er stehen.
Valentin Gjertsen.
Keine Worte der Erinnerung. Natürlich. Wer wollte sich an ihn erinnern. Keine Blumen.
Svein Finne nahm die Feder, die er in der Manteltasche hatte, kniete sich hin und steckte sie vor dem Grabstein in den Schnee. Die Cherokee-Indianer legten ihren Toten eine Adlerfeder in den Sarg. Er war Valentin aus dem Weg gegangen, als sie beide in Ila einsaßen. Nicht aus dem gleichen Grund wie die anderen Mithäftlinge, die vor Valentin richtiggehend Angst gehabt hatten. Sondern weil Svein Finne nicht wollte, dass der junge Mann ihn erkannte. Denn das hätte er getan, früher oder später. Ein Blick hatte Svein genügt, als Valentin nach Ila kam. Der Junge hatte die schmalen Schultern und die hohe Stimme seiner Mutter, an die er sich aus der Zeit, als sie miteinander verlobt waren, gut erinnerte. Sie war eine von denen, die eine Abtreibung versucht hatten, als Svein einmal unaufmerksam gewesen war, weshalb er sich Zutritt zu ihrer Wohnung verschafft und auf seinen Nachwuchs aufgepasst hatte. Jede Nacht hatte sie zitternd und weinend neben ihm gelegen, bis sie ihren Sohn zu Hause in einem wunderbaren Blutbad zur Welt gebracht und er die Nabelschnur mit seinem eigenen Messer durchtrennt hatte. Sein dreizehntes Kind, sein siebter Sohn. Nicht als Svein den Namen des neuen Insassen gehört, sondern als er erfahren hatte, wofür dieser Valentin Gjertsen verurteilt worden war, waren alle Zweifel gewichen.
Svein Finne stand wieder auf.
Die Toten waren tot.
Und die Lebenden würden ihnen bald folgen.
Er holte tief Luft. Ein Mann hatte Kontakt zu ihm aufgenommen und den Durst in ihm geweckt, von dem er gedacht hatte, dass er mit den Jahren abgeklungen sei.
Svein Finne sah in den Himmel. Bald ging die Sonne auf. Die Stadt würde erwachen, sich die Augen reiben und die Alpträume von dem Mörder abschütteln, der im Herbst hier gewütet hatte. Die Leute würden lächeln, weil die Sonne schien, glücklich unwissend im Hinblick auf das, was kommen und den Herbst im Nachhinein als zartes Präludium erscheinen lassen würde. Wie der Vater, so der Sohn. Wie der Sohn, so der Vater.
Der Polizist. Harry Hole. Er war irgendwo da draußen.
Svein Finne drehte sich um und ging los. Mit längeren, schnelleren, sichereren Schritten.
Es gab so viel zu tun.
Truls Berntsen saß in der sechsten Etage und beobachtete, wie das Morgenrot langsam den Ekebergåsen zu erklimmen versuchte. Im Dezember hatte Katrine Bratt ihn aus seiner Hundehütte geholt und ihm ein Büro mit Fenster gegeben. Was nett von ihr war. Trotzdem musste er noch immer Berichte und sämtliches anfallendes Material über abgeschlossene und kalte Fälle archivieren. Der Grund für sein frühes Erscheinen bei minus zwölf Grad war vermutlich, dass es im Büro wärmer als bei ihm zu Hause war. Oder dass er zurzeit so schlecht schlief.
In den letzten Monaten hatte er hauptsächlich verspätet eingegangene Tips oder überflüssige Zeugenaussagen im Vampiristenfall archiviert. Einige behaupteten sogar, Valentin Gjertsen erst kürzlich gesehen zu haben, vermutlich waren das dieselben Leute, die noch immer davon überzeugt waren, dass Elvis lebte. Sinnlos, die DNA-Tests bewiesen zweifelsfrei, dass Harry Hole wirklich Valentin Gjertsen erschossen hatte. Für manche Menschen waren Fakten einfach nur ein Ärgernis, das ihren fixen Ideen im Weg stand.
Ihren fixen Ideen im Weg stand. Truls Berntsen wusste nicht, warum dieser Satz sich derart bei ihm festgesetzt hatte. Er hatte ihn nur gedacht, nicht einmal laut ausgesprochen.
Er nahm den nächsten Umschlag, der wie alle bereits geöffnet und von irgendeiner ihm vorgeschalteten Instanz gelesen worden war. Er trug das Logo von Facebook, einen Stempel für Express-Zustellung und die Vermerke »Vampiristenfall« mit Fallnummer und dass er archiviert werden sollte. Darunter standen der Name des Sachbearbeiters Magnus Skarre und dessen Unterschrift.
Truls Berntsen nahm alle Papiere aus dem Umschlag heraus. Zuoberst lag ein auf Englisch verfasster Brief. Truls verstand nicht jedes Wort, erfasste aber, dass es um einen Gerichtsbeschluss zur Freigabe bestimmter Daten ging. Dem Brief beigefügt waren die Ausdrucke der Facebook-Konten aller Mordopfer im Vampiristenfall plus der noch immer vermissten Marte Ruud. Er blätterte durch die Seiten, bemerkte, dass einige Blätter aneinanderhingen, woraus er schloss, dass Skarre nicht alles durchgegangen war. Aber okay, der Fall war aufgeklärt, und der Täter würde nie auf irgendeiner Anklagebank sitzen. Andererseits hätte Truls diesem blöden Aufschneider Skarre gerne an den Karren gepisst. Er überprüfte die Namen, mit denen die Opfer Kontakt hatten. Suchte voller Eifer nach einer Facebook-Nachricht von oder an Valentin Gjertsen oder Alexander Dreyer, mit der er Skarre etwas anhängen konnte. Sein Blick fuhr über die Seiten, verharrte immer wieder bei Absender und Empfänger. Als er mit allem durch war, seufzte er tief. Kein Fehler. Die einzigen Namen, die er neben denen der Opfer erkannte, waren einige derer, die Wyller verhört hatte, weil sie mit den Opfern telefoniert hatten. Es war ja nur natürlich, dass Leute, die telefonisch in Kontakt standen, wie Ewa Dolmen und dieser Lenny Hell, auch Facebook-Freunde waren.
Truls steckte die Dokumente zurück in den Umschlag, stand auf und trat an den Archivschrank. Zog an der obersten Schublade. Und ließ sie los. Er mochte den Mechanismus, dieses Gleiten, wie ein Güterzug auf gerader Strecke. Bis er die Schublade mit der Hand stoppte und auf den Umschlag starrte.
Dolmen. Nicht Hermansen.
Er durchsuchte die Schublade, bis er auf die Mappe mit den Vernehmungen der Zeugen stieß, die sie durch die Telefonlisten gefunden hatten, und nahm sie mitsamt dem Facebook-Umschlag mit zu seinem Schreibtisch. Er blätterte die Ausdrucke durch, bis er auf den Namen Lenny Hell stieß. Truls erinnerte sich an diesen Namen, weil er ihn mit Lemmy verband, dabei hatte der Typ am Telefon eher gequält und ängstlich geklungen. Seine Stimme hatte gezittert, wie bei vielen, wenn sie mit der Polizei sprachen, so unschuldig sie auch waren. Lenny Hell hatte also via Facebook mit Ewa Dolmen, dem zweiten Opfer, kommuniziert.
Truls öffnete die Mappe mit den Vernehmungen und fand seinen Bericht über das kurze Gespräch mit Hell. Und dem Besitzer des Åneby Pizza & Grill. Ergänzt durch eine Notiz, die er noch gar nicht gesehen hatte, in der Wyller mitteilte, dass die örtliche Polizeidienststelle im Nittedal für Lenny und den Pizzeriabesitzer, der bestätigt hatte, dass Lenny zum Zeitpunkt des Mordes an Elise Hermansen in der Pizzeria gewesen war, die Hand ins Feuer legte.
Elise Hermansen. Opfer Nummer eins.
Sie hatten Lenny vernommen, weil er Elise Hermansen mehrmals angerufen hatte. Und via Facebook hatte er auch Kontakt zu Ewa Dolmen gehabt. Da. Das war Magnus Skarres Fehler. Und vielleicht auch Lenny Hells. Wenn es sich nicht um einen Zufall handelte. Single-Männer und -Frauen desselben Alters, die in der gleichen Gegend eines dünnbesiedelten Landes auf der Suche nach jemandem waren. Es gab unwahrscheinlichere Zufälle. Außerdem war der Fall gelöst, warum sollte er sich also neue Fragen stellen. Warum? Andererseits … Die Zeitungen schrieben noch immer über den Vampiristen, und in den USA hatte Valentin Gjertsen einen fragwürdigen, kleinen Fanclub, der sich bereits für die Buch- und Filmrechte an seiner Geschichte interessierte. Der Fall war nicht mehr auf den Titelseiten, konnte dort aber schnell wieder landen. Truls Berntsen griff zum Hörer. Fand Mona Daas Nummer. Starrte darauf. Dann stand er auf, nahm seine Jacke und ging zum Fahrstuhl.
Mona Daa kniff die Augen zusammen und zog die Arme nach vorne. Butterflies mit leichten Gewichten. Sie stellte sich vor, dass sie Flügel ausbreitete und mit gestreckten Armen über den Frognerpark flog, über Oslo. Dass sie alles sehen konnte. Absolut alles.
Und es ihnen zeigte.
Sie hatte einen Dokumentarfilm über ihren Lieblingsfotografen, Don McCullin, gesehen, der als humanitärer Kriegsreporter die schlimmsten Seiten der Menschheit zeigte, damit die Leute endlich nachdachten. Es ginge ihm dabei nicht darum, zu schockieren oder wohligen Schrecken in die Wohnzimmer der Leute zu tragen. Über sich selbst konnte sie das so nicht sagen. Ihr war aufgefallen, dass in diesem hymnischen Film ein Wort nie vorgekommen war. Ehrgeiz. McCullin war der Beste, er musste Tausende von Bewunderern haben. Junge Kollegen, die wie er werden wollten, inspiriert von dem Mythos, wie er mit den Soldaten bei der Tet-Offensive in Hué geblieben war. Von den Anekdoten aus Beirut, Biafra, Kongo, Zypern. McCullin erfuhr größte Anerkennung und unglaubliche Aufmerksamkeit, und trotzdem wurde in dem Film kein Wort darüber verloren, ob einen nicht diese Publicity dazu brachte, sich den härtesten Prüfungen auszusetzen und Risiken einzugehen, die man sich sonst nicht einmal vorstellen konnte. Und dass man dabei – möglicherweise – die gleichen Verbrechen beging, die man dokumentierte, nur um das perfekte Bild zu bekommen, die bahnbrechende Reportage.
Mona hatte sich bereit erklärt, in einen Käfig zu gehen und auf den Vampiristen zu warten. Ohne der Polizei etwas davon zu sagen, aber um eventuell so Menschenleben zu retten. Sie hätte Alarm schlagen können, auch wenn sie sich beobachtet gefühlt hätte. Sie hätte Nora diskret einen Zettel zuschieben können. Stattdessen hatte sie so getan, als müsste sie das Spiel des Vampiristen mitspielen. Genau wie Nora in ihrer sexuellen Phantasie, sich von Harry Hole quasi vergewaltigen zu lassen. Und sie hatte das ganz bewusst getan. Wegen der Anerkennung, des Ruhms und der Bewunderung durch die jungen Kollegen, wenn sie auf dem Podium stand, die Dankesrede für den Journalistenpreis hielt und demütig vorbrachte, dass sie einfach nur Glück gehabt habe und im Grunde nur ein hart arbeitendes, einfaches Mädchen aus einer kleinen Stadt im Norden sei. Bevor sie danach dann etwas weniger demütig von ihrer Jugend erzählte, von Mobbing, Rache und Ehrgeiz. Ja, sie wollte laut über Ehrgeiz sprechen, endlich ohne Angst die Wahrheit sagen. Dass sie fliegen wollte. Fliegen.
»Sie brauchen ein bisschen mehr Widerstand.«
Mit einem Mal war die Bewegung viel schwerer geworden. Sie öffnete die Augen und sah zwei Hände, die die Gewichte leicht nach unten drückten. Jemand stand direkt hinter ihr, so dass sie in dem großen Spiegel, der vor ihr hing, wie eine Art vierarmiger Ganesha aussah.
»Kommen Sie schon, noch zwei«, flüsterte die Stimme ihr ins Ohr. Sie erkannte sie wieder. Es war die Stimme des Polizisten. Jetzt hob er den Kopf, und sie sah ihn im Spiegel vor sich. Er lächelte, blaue Augen, blonde Haare. Weiße Zähne. Anders Wyller.
»Was machen Sie hier?«, fragte sie, vergaß die Arme nach vorne zu ziehen, spürte aber trotzdem, dass sie flog.
»Was machst du hier?«, fragte Øystein Eikeland und stellte das Bier vor den Gast, der am Tresen saß.
»Was?«
»Nicht Sie, der da«, sagte Øystein und zeigte mit dem Daumen hinter sich auf den großen Mann mit den kurzgeschnittenen Haaren, der gerade hinter den Tresen getreten war und Wasser in die Cezve füllte.
»Ich bin den Pulverkaffee leid«, sagte Harry.
»Und ich will nicht freihaben«, sagte Øystein. »Ich liebe diese Bar, ich will hier nie mehr weg. Hörst du, was da läuft?«
Harry hielt inne und lauschte der schnellen, swingenden Musik. »Nein, erst wenn jemand singt.«
»Das wird nicht passieren, und das ist ja gerade das Gute daran«, sagte Øystein. »Das ist Taylor Swift, 1989.«
Harry nickte. Er erinnerte sich, dass Swift oder ihre Plattengesellschaft das Album nicht komplett, sondern nur in einer Version ohne Gesang auf Spotify veröffentlicht hatte.
»Waren wir uns nicht einig, dass heute nur Frauen über fünfzig singen sollen?«, fragte Harry.
»Hörst du nicht, was ich sage?«, fragte Øystein. »Sie singt ja nicht.«
Harry schluckte seinen Kommentar herunter und sagte: »Die Leute kommen aber früh heute.«
»Wegen der Alligatorwurst«, sagte Øystein und zeigte auf die langen Räucherwürste, die über dem Tresen hingen. »In der ersten Woche fanden das alle nur verrückt, jetzt kommen immer wieder dieselben Leute und wollen mehr. Vielleicht sollten wir die Bar in Alligator-Joe umtaufen. Oder in Everglades, oder …«
»Jealousy ist gut.«
»Okay, okay, ich wollte nur mit der Zeit gehen. Nicht dass uns jemand die Idee klaut.«
»Dann finden wir was Neues.«
Harry stellte die türkische Kaffeekanne auf die Kochplatte und drehte sich gerade um, als eine bekannte Gestalt durch die Tür trat.
Harry verschränkte die Arme vor der Brust, während der Neuankömmling sich noch den Schnee von den Schuhen trat und seinen Blick durch die Kneipe schweifen ließ.
»Stimmt was nicht?«, fragte Øystein.
»Doch, schon, denke ich«, sagte Harry. »Pass auf, dass der Kaffee nicht kocht.«
»Du wieder mit dieser türkischen Plörre.«
Harry ging um den Tresen herum zu dem Mann, der in dem warmen Raum seinen Mantel geöffnet hatte.
»Hole«, sagte er.
»Berntsen«, sagte Harry.
»Ich habe etwas für Sie.«
»Warum?«
Truls Berntsen lachte schnaubend. »Wollen Sie nicht wissen, was?«
»Nur wenn ich mit der Antwort auf meine Frage zufrieden bin.«
Harry sah, wie Berntsen sich an einem gleichgültigen Grinsen versuchte, es gelang ihm aber nicht. Stattdessen schluckte er. Dass die Narben in seinem Gesicht so rot wurden, konnte natürlich mit der Kälte draußen zu tun haben.
»Sie sind ein Idiot, Hole, aber Sie haben mir mal das Leben gerettet.«
»Nicht dass ich das noch bereue. Reden Sie.«
Berntsen zog eine Mappe aus der Innentasche seines Mantels. »Lemmy … ich meine Lenny Hell. Er hatte Kontakt zu Elise Hermansen und Ewa Dolmen.«
»Ja, und?« Harry starrte auf die gelbe, von einer Schnur zusammengehaltene Mappe, die Berntsen ihm entgegenstreckte. »Warum gehen Sie damit nicht zu Bratt?«
»Weil die – im Gegensatz zu Ihnen – Rücksicht auf ihre Karriere nehmen und erst zu Mikael Bellman gehen muss.«
»Ja, und?«
»Mikael wird demnächst als Justizminister vereidigt. Er kann jetzt keine Probleme brauchen.«
Harry musterte Truls Berntsen. Er hatte längst begriffen, dass Berntsen nicht so dumm war, wie er wirkte. »Sie meinen, dass er den Fall nicht wieder aufrollen wird.«
Berntsen zuckte mit den Schultern. »Der Vampiristenfall hätte Mikael fast zu Fall gebracht, ist dann doch einer seiner größten Erfolge geworden. Er will diesen Eindruck ganz bestimmt nicht zerstören.«
»Hm. Sie geben mir diese Unterlagen, weil Sie Sorge haben, dass die sonst in irgendeiner Schublade des Polizeipräsidenten verstauben?«
»Ich habe Angst, dass sie geschreddert werden, Hole.«
»Okay, aber das beantwortet noch nicht meine erste Frage. Warum?«
»Haben Sie nicht gehört? Geschreddert.«
»Warum kümmert Sie das, Berntsen? Und jetzt keinen Bullshit, ich weiß, wer und was Sie sind.«
Truls grunzte.
Harry wartete.
Truls sah ihn an, wich Harrys Blick aus und stampfte mit den Füßen auf den Boden, als hätte er noch immer Schnee an den Schuhen.
»Ich weiß es nicht«, sagte er schließlich. »Und das stimmt, ich weiß es wirklich nicht. Ich dachte, dass es nicht schlecht wäre, wenn Magnus Skarre mal eins vor den Latz kriegt, weil er die Verbindung zwischen Telefon- und Facebook-Daten nicht gesehen hat, aber inzwischen glaube ich, das ist es nicht. Vielleicht. Ja. Ich glaube … ich will einfach, dass … ach, scheiße.« Er hustete. »Aber wenn Sie die Sachen nicht haben wollen, lege ich sie einfach in den Archivschrank. Sollen sie da doch verrotten. Ist mir egal.«
Harry wischte über die beschlagene Scheibe und sah Truls Berntsen nach, der in dem scharfen Winterlicht mit gesenktem Kopf über die Straße ging. Irrte er sich, oder waren bei Truls Berntsen gerade Symptome einer Krankheit zu sehen gewesen, von der gute Polizisten gemeinhin heimgesucht wurden?
»Was hast du da?«, fragte Øystein, als Harry wieder hinter den Tresen trat.
»Polizeiporno«, sagte Harry und legte die gelbe Mappe auf den Tresen. »Ausdrucke und Vernehmungsprotokolle.«
»Vampiristenfall? Ist der nicht gelöst?«
»Doch, schon, es gibt aber noch ein paar lose Fäden. Formales. Hörst du nicht, dass der Kaffee kocht?«
»Hörst du nicht, dass Taylor Swift nicht singt?«
Harry öffnete den Mund, um etwas zu sagen, hörte stattdessen aber nur sein eigenes Lachen. Er liebte diesen Kerl. Diese Bar. Dann goss er ihnen beiden den verunglückten Kochkaffee ein und trommelte auf der Mappe den Rhythmus von »Welcome to Some Pork«. Seine Augen glitten über die Seiten, und er dachte, dass Rakel bestimmt ja sagte, wenn er sich mucksmäuschenstill verhielt und ihr genug Zeit gab.
Sein Blick verharrte. Und das Eis unter ihm schien zu knacken.
Sein Herz begann schneller zu schlagen. Auch du wirst am Ende überlistet, Harry.
»Was ist?«, fragte Øystein.
»Was soll sein?«
»Du siehst aus, als hättest du … tja …«
»Gespenster gesehen?«, fragte Harry und las noch einmal, was er schon gelesen hatte. Nur um ganz sicher zu sein.
»Nein«, sagte Øystein.
»Nein?«
»Nein, du siehst eher so aus, als wärst du … aufgewacht.«
Harry hob den Blick von der Mappe und sah zu Øystein. Spürte, dass er … vollkommen ruhig war.
»Hier ist sechzig«, warnte Harry. »Und es ist glatt.«
Oleg ging etwas vom Gaspedal. »Warum fährst du eigentlich nicht selbst, du hast doch Auto und Führerschein?«
»Weil ihr besser fahrt, du und Rakel«, sagte Harry und blinzelte in das gleißende Sonnenlicht, das von den schneebedeckten Hügeln ringsherum reflektierte. Ein Schild verkündete, dass es bis Åneby noch vier Kilometer waren.
»Hätte dann nicht Mama fahren können?«
»Ich dachte, es wäre ganz interessant für dich, mal so eine kleine Polizeiwache von innen zu sehen. Vielleicht musst du irgendwann mal in so was arbeiten.«
Oleg bremste hinter einem Traktor, dessen Hinterräder den Schnee aufwirbelten, scharf ab. Die Schneeketten sangen auf der Straße. »Ich will ins Morddezernat und nicht in so ein Kaff.«
»Oslo ist auch ein Dorf, und wir sind nur eine halbe Stunde entfernt.«
»Ich habe mich für den FBI-Kurs in Chicago beworben.«
Harry lächelte. »Wenn du solche Ambitionen hast, sollten dich ein paar Jahre auf einer kleinen Wache nicht abschrecken. Da vorne musst du links abbiegen.«
»Jimmy«, stellte der rundliche, nette Mann sich vor, der vor der Nittedaler Wache stand, die sich Wand an Wand mit dem Arbeitsamt in einem modernen Neubau befand. Die frische Bräune ließ Harry vermuten, dass Jimmy gerade erst aus den Ferien in Gran Canaria zurück war, wobei die Tatsache, dass er spontan an die Kanaren dachte, mit seinem Vorurteil über Leute aus Nittedal mit einem Y im Namen zu tun hatte.
Harry schüttelte die Hand des Mannes. »Danke, dass Sie sich an einem Samstag Zeit für uns genommen haben, Jimmy. Das ist Oleg, Studierender an der Polizeihochschule.«
»Sieht aus wie ein zukünftiger Kollege«, sagte Jimmy und maß den 190 Zentimeter großen jungen Mann mit dem Blick. »Es ist mir eine Ehre, dass Harry Hole persönlich hier zu uns rauskommt. Ich fürchte nur, dass Sie Ihre Zeit vergeuden.«
»Ja?«
»Sie haben am Telefon gesagt, dass Sie Lenny Hell nicht erreichen konnten, deshalb habe ich ein paar Nachforschungen angestellt. Wie es aussieht, ist er direkt nach der Vernehmung nach Thailand gereist.«
»Wie es aussieht?«
»Ja, er hat die Nachbarn und seine Kunden informiert, dass er eine Weile weg sein wird. Er hat jetzt angeblich eine thailändische Nummer, aber keiner, mit dem ich gesprochen habe, konnte mir die geben. Es weiß auch niemand, wo genau er sich aufhält.«
»Hört sich nach Eigenbrötler an.«
»Das können Sie mit Fug und Recht sagen.«
»Familie?«
»Single. Einzelkind. Er ist nie zu Hause ausgezogen, und seit die Eltern tot sind, wohnt er allein im Schweinestall.«
»Schweinestall?«
»So heißt das Haus bei uns. Die Familie Hell hat über Generationen Schweine gezüchtet und verdammt gut damit verdient. Vor hundert Jahren haben sie sich dann da oben ein ziemlich untypisches dreistöckiges Haus gebaut. Die Leute fanden das wohl ein bisschen großtuerisch und haben das Haus dann Schweinestall getauft. Und das ist so geblieben.« Der Polizist amüsierte sich. »Tja, einmal Bauer, immer Bauer.«
»Hm. Was, glauben Sie, macht Lenny Hell so lange in Thailand?«
»Tja, was machen Leute wie Lenny in Thailand?«
»Ich kenne Lenny nicht«, sagte Harry.
»Er ist ein netter Kerl«, sagte der Polizist. »Kluger Informatiker. Arbeitet von zu Hause aus. Manchmal rufen wir ihn an, wenn wir hier kleinere Computerprobleme haben. Nichts Besonderes. Geordnete Verhältnisse, würde ich sagen. Aber mit den Frauen hat er immer so seine Probleme gehabt.«
»Was soll das heißen?«
Jimmy schaute auf die Atemwolken in der Luft. »Es ist verdammt kalt hier draußen, sollen wir nicht reingehen und einen Kaffee trinken?«
»Ich könnte mir vorstellen, dass Lenny auf der Suche nach einer Thaifrau ist«, sagte Jimmy, während er ihnen Filterkaffee in die weißen Becher des Arbeitsamts goss. Er selbst benutzte eine Tasse mit Lillestrøm-SK-Logo. »Der Konkurrenz hier war er einfach unterlegen.«
»Wieso?«
»Lenny ist, wie gesagt, so ein einsamer Wolf, am liebsten ist er für sich, er redet nicht viel, und die Frauen fliegen nicht gerade auf ihn, um es mal so zu sagen. Außerdem wird er unheimlich schnell eifersüchtig. Aber eigentlich kann er keiner Fliege was zuleide tun, geschweige denn einer Frau, soweit ich weiß. Einmal ist da allerdings doch was gewesen, eine Frau hat uns angerufen und gesagt, dass Lenny sich nach dem Treffen zu große Hoffnungen gemacht habe.«
»Stalking?«
»So heißt das heute wohl, ja. Lenny hatte ihr, allem Anschein nach, eine Unmenge an SMS und Blumen geschickt, obwohl sie ihm klar zu verstehen gegeben hatte, dass sie sich nicht mehr für ihn interessierte. Er soll ihr auch nach der Arbeit an ihrer Wohnung aufgelauert haben. Sie hat ihm dann noch mal gesagt, dass sie ihn nicht mehr sehen wolle, und danach war wohl auch Schluss. Sie war dann aber irgendwann der Meinung, dass in ihrer Wohnung etwas verändert war, als sie von der Arbeit nach Hause kam. Weshalb sie uns angerufen hat.«
»Sie hat geglaubt, dass er in ihrer Wohnung war?«
»Ich habe daraufhin mit Lenny gesprochen, aber er hat alles abgestritten. Danach haben wir nichts mehr davon gehört.«
»Hat Lenny einen 3-D-Drucker?«
»Einen was?«
»Eine Maschine, mit der man Schlüssel kopieren kann.«
»Keine Ahnung, aber er ist, wie gesagt, Informatiker.«
»Wie eifersüchtig ist er?«, fragte Oleg, und die zwei anderen wandten sich ihm zu.
»Auf einer Skala von eins bis zehn?«, fragte Jimmy. Harry konnte nicht sagen, ob das ironisch gemeint war.
»Ich frage mich nur, ob das morbide Eifersucht sein könnte«, fügte Oleg hinzu und sah unsicher zu Harry.
»Wovon redet der Junge, Hole?« Jimmy nahm laut hörbar einen Schluck aus seiner kanarienvogelgelben Tasse. »Will er wissen, ob Lenny jemanden getötet haben kann?«
»Nun, wie ich schon am Telefon gesagt habe, sind wir nur dabei, die letzten losen Fäden im Vampiristenfall zusammenzuführen. Und Lenny hat mit zweien der Opfer geredet.«
»Die dieser Valentin getötet hat«, sagte Jimmy. »Oder gibt es da irgendwelche Zweifel?«
»Keine Zweifel«, sagte Harry. »Ich wollte mit Lenny nur über diese Gespräche reden. Nur sehen, ob dabei noch etwas Neues herauskommt. Etwas, das wir noch nicht wissen. Auf der Karte habe ich gesehen, dass sein Haus ganz nah liegt, deshalb dachte ich, wir könnten mal hochfahren und mal schauen. Das wär dann alles.«
Der Polizist liebkoste das Symbol auf seiner Tasse. »In der Zeitung stand, dass Sie Dozent an der Hochschule sind. Kein Ermittler.«
»Ich bin wie Lenny Freelancer.«
Jimmy verschränkte die Arme vor der Brust, so dass der linke Ärmel etwas nach oben rutschte und das verblasste Tattoo eines Frauenkörpers zum Vorschein kam. »Okay, Hole. Wie Sie sich vorstellen können, passiert hier bei uns nicht so viel, wofür ich dankbar bin. Als Sie angerufen haben, habe ich nicht nur ein paar Telefonate gemacht, sondern bin auch zu Lenny gefahren. Das heißt, ich bin so weit gefahren, wie es ging. Der Schweinestall liegt am Ende eines Waldwegs, und nach dem letzten Nachbarn sind es bis dort noch anderthalb Kilometer. Auf diesem Wegstück liegt der Schnee gut einen halben Meter hoch. Genauso hoch wie rechts und links des Weges. Es gibt auch weder Reifen- noch Fußspuren. Nur Elch und Fuchs. Allenfalls noch ein Wolf. Verstehen Sie? Da war seit Wochen niemand, Hole. Wenn Sie Lenny sprechen wollen, müssen Sie ein Flugticket nach Thailand kaufen. Pattaya ist wohl ein beliebtes Ziel, wenn man eine Thaifrau sucht, habe ich gehört.«
»Schneescooter?«, fragte Harry.
»Was?«
»Wenn ich morgen mit einem Durchsuchungsbeschluss zurückkomme, können Sie uns dann einen Schneescooter zur Verfügung stellen?«
Harry sah, dass es mit der guten Laune des Polizisten vorbei war. Der Mann hatte angenommen, dass er den Kollegen aus Oslo bei einem netten Kaffeeplausch von der Effektivität dörflicher Polizeiarbeit überzeugen könnte. Stattdessen zweifelten sie seine Schlussfolgerungen an und verlangten von ihm, ein Spezialfahrzeug zur Verfügung zu stellen, als wäre er irgendein Materialverwalter.
»Für anderthalb Kilometer braucht man keinen Scooter«, sagte Jimmy und zog die sonnenverbrannte Nase hoch, auf der die Haut sich zu schälen begann. »Nehmen Sie Ski, Hole.«
»Ich habe keine Ski. Scooter und jemand, der ihn fahren kann.«
Die Stille, die folgte, dauerte eine gefühlte Ewigkeit.
»Ich habe gesehen, dass der junge Mann gefahren ist.« Jimmy legte den Kopf schief. »Haben Sie keinen Führerschein, Hole?«
»Doch, aber ich habe einmal einen Kollegen totgefahren.« Harry nahm seine Tasse und leerte sie. »Und möchte vermeiden, dass das noch einmal passiert. Danke für den Kaffee, und bis morgen dann.«
»Was war das denn?«, fragte Oleg, als sie mit gesetztem Blinker darauf warteten, auf die Hauptstraße abbiegen zu können. »Da kommt der extra samstags in die Wache, um uns zu helfen, und du fährst ihm so an den Karren?«
»Habe ich das?«
»Ja!«
»Hm. Blink mal in die andere Richtung.«
»Nach Oslo geht’s nach rechts.«
»Und laut Navi ist das Åneby Pizza & Grill nur zwei Minuten nach links.«
Der Inhaber des Åneby Pizza & Grill, der sich als Tommy vorgestellt hatte, wischte die Hände an seiner Schürze ab und warf einen Blick auf das Foto, das Harry ihm hinhielt.
»Kann sein, ich erinnere mich aber nicht mehr so genau daran, wie der Mann an Lennys Tisch aussah, ich weiß nur noch, dass Lenny an dem Abend, an dem die Frau in Oslo ermordet wurde, hier war und dass noch jemand bei ihm war. Lenny ist ein Einzelgänger, er ist immer allein und nur selten hier. Nur deshalb habe ich mich gleich daran erinnert, als Sie im Herbst angerufen haben.«
»Der Mann auf dem Bild hieß Alexander oder Valentin. Haben Sie gehört, dass Lenny im Gespräch mal diesen Namen erwähnt hat?«
»Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern, sie reden gehört zu haben, und ich war an dem Abend allein hier, meine Frau stand in der Küche.«
»Wann sind sie gegangen?«
»Tja, sie haben sich eine Knut Spezial XXL mit Peperoni und Schinken geteilt.«
»An das erinnern Sie sich?«
Tommy klopfte sich grinsend mit dem Zeigefinger an die Stirn. »Bestellen Sie jetzt eine Pizza, und kommen Sie in drei Monaten wieder, und fragen Sie mich, welche das war. Ich gebe Ihnen denselben Rabatt, den die Polizeiwache hier im Ort auch kriegt. Alle Pizzateige sind übrigens Low-Carb und mit Nüssen.«
»Klingt verlockend, aber mein Junge sitzt draußen im Auto. Danke für die Hilfe.«
Oleg fuhr in die früh hereinbrechende Dämmerung.
Beide waren in Gedanken versunken.
Harry rechnete nach. Valentin konnte gut eine Pizza mit Lenny geteilt haben und dann noch nach Oslo gefahren sein, um Elise Hermansen zu töten.
Ein entgegenkommender Lastwagen raste so schnell an ihnen vorbei, dass der ganze Wagen wackelte.
Oleg räusperte sich. »Wie willst du dir diesen Durchsuchungsbeschluss beschaffen?«
»Hm?«
»Ich meine, du arbeitest nicht mehr im Dezernat, und was du hast, reicht auch nicht für einen Beschluss.«
»Nicht?«
»Nicht, wenn ich das, was in den Lehrbüchern steht, richtig verstanden habe.«
»Lass hören«, sagte Harry lächelnd.
Oleg wurde etwas langsamer. »Es liegen eindeutige Beweise vor, dass Valentin eine Reihe von Frauen umgebracht hat. Lenny Hell hat zufällig zwei davon getroffen. Das allein gibt der Polizei noch nicht das Recht, in Lenny Hells Haus einzubrechen, während er in Thailand ist.«
»Einverstanden, auf dieser Grundlage werden wir keinen Durchsuchungsbeschluss bekommen. Also fahren wir nach Grini.«
»Grini?«
»Ich dachte, ich könnte mich noch mal mit Hallstein Smith unterhalten.«
»Helga und ich wollten heute Abend kochen.«
»Über morbide Eifersucht. Kochen, sagst du? Verstehe. Ich schaffe es schon, alleine nach Grini zu kommen.«
»Grini liegt doch fast auf der Strecke, also in Ordnung.«
»Fahr und koch mit Helga, bei Smith kann das dauern.«
»Zu spät, jetzt habe ich gesagt, dass ich mitkomme.« Oleg beschleunigte, überholte einen Traktor und schaltete das Fernlicht ein.
Schweigend fuhren sie ein ganzes Stück weiter.
»Sechzig«, sagte Harry und tippte etwas in sein Telefon.
»Und glatt«, sagte Oleg und nahm den Fuß für einen Moment vom Gaspedal.
»Wyller?«, sagte Harry. »Harry Hole hier. Ich hoffe, du sitzt zu Hause und langweilst dich, schließlich ist Samstagabend. Oh? Dann musst du dieser netten Frau erklären – wer auch immer sie ist –, dass du einem abgehalfterten, aber sagenumwobenen Polizisten helfen musst, ein paar Sachen zu überprüfen.«
»Morbide Eifersucht«, sagte Hallstein Smith und sah seine beiden Besucher voller Begeisterung an. »Ein höchst interessantes Thema. Aber seid ihr wirklich den weiten Weg gekommen, um mit mir darüber zu reden? Ist das nicht eher Ståle Aunes Fachgebiet?«
Oleg nickte, er schien ganz seiner Meinung zu sein.
»Ich wollte mit dir sprechen, weil du Zweifel hast«, sagte Harry.
»Zweifel?«
»Du hast so was gesagt. An dem Abend, als Valentin hierhergekommen ist. Ich glaube, du hast gesagt, er wusste es.«
»Was wusste?«
»Das hast du nicht gesagt.«
»Ich stand unter Schock, ich habe da bestimmt eine ganze Menge gesagt.«
»Nein, ausnahmsweise hast du mal ziemlich wenig gesagt.«
»Hast du das gehört, May?« Hallstein sah lachend zu seiner kleinen Frau hinüber und schenkte ihnen Tee ein.
Sie nickte lächelnd, nahm die Kanne und eine Tasse und verschwand im Wohnzimmer.
»Ich habe er wusste es gesagt, und du hast das so gedeutet, als hätte ich Zweifel?«, fragte Smith.
»Hört sich für mich so an, als wäre da etwas unklar«, sagte Harry. »Dass du dich gewundert hast, dass Valentin etwas wusste. Irre ich mich?«
»Ich weiß nicht, Harry. Zu meinem Unterbewusstsein kannst du vielleicht ebenso gut was sagen wie ich, vielleicht sogar mehr. Warum fragst du?«
»Weil da ein Mann aufgetaucht ist. Das heißt, er hatte es sehr eilig, sich nach Thailand abzusetzen. Ich habe Wyller gebeten, das zu überprüfen, aber der Betreffende steht für den entsprechenden Zeitraum auf keiner der Passagierlisten. Und in den letzten drei Monaten scheint er seine Kreditkarte nicht benutzt zu haben. Weder in Thailand noch sonst wo. Und nicht weniger interessant ist, dass Wyller seinen Namen auf der Liste derjenigen gefunden hat, die im letzten Jahr einen 3-D-Drucker gekauft haben.«
Smith sah Harry lange an. Dann drehte er sich um und starrte aus dem Küchenfenster. Der Schnee lag wie eine weiche, glitzernde Daunendecke über den dunklen Feldern. »Valentin wusste, wo mein Büro ist. Das meinte ich mit er wusste es.«
»Deine Adresse, meinst du?«
»Nein, ich meine die Tatsache, dass er direkt in den Stall gegangen ist. Er wusste nicht nur, dass dort mein Büro ist, sondern auch, dass ich da in der Regel noch sehr spät am Abend sitze.«
»Vielleicht hat er das Licht hinter dem Fenster gesehen?«
»Vom Tor aus sieht man das Fenster nicht. Kommt mal mit, ich zeige euch was.«
Sie gingen in den Stall und betraten Smiths Büro, dort schaltete er den Computer ein.
»Ich habe hier alle Videoaufzeichnungen, ich muss nur das richtige Datum finden«, sagte Smith und tippte etwas in die Tastatur.
»Coole Zeichnung«, sagte Oleg und nickte in Richtung des Fledermausmanns an der Wand. »Gruselig.«
»Alfred Kubin«, sagte Smith. »Eines seiner Vampirbilder. Mein Vater hatte ein Buch mit Kubin-Bildern, in dem ich zu Hause geblättert habe, während die anderen Jugendlichen im Kino irgendwelche Horrorfilme geschaut haben. May duldet keine Kubin-Bilder im Haus. Sie behauptet, davon Alpträume zu bekommen. Apropos Alpträume, hier ist die Aufnahme von Valentin.«
Smith streckte den Arm aus, und Harry und Oleg beugten sich über seine Schultern.
»Hier kommt er in den Stall. Seht ihr, er zögert nicht, er weiß genau, wo er hinwill. Wie kann das sein? Die wenigen Therapiesitzungen, die ich mit Valentin hatte, waren nicht hier, sondern in einer gemieteten Praxis in der Stadt.«
»Du meinst, dass ihn jemand instruiert hat?«
»Ich meine, dass ihn jemand instruiert haben könnte. Das war von Anfang an das Seltsame an dieser Sache. Vampiristen haben ganz einfach nicht die Fähigkeit, alles so gut zu planen, wie es bei diesen Morden den Anschein hatte.«
»Hm. Wir haben zu Hause bei Valentin keinen 3-D-Drucker gefunden. Ein anderer könnte also die Schlüssel für ihn gedruckt haben. Eine Person, die vorher schon mal Schlüsselkopien für sich selbst erstellt hat und in Wohnungen von Frauen eingestiegen ist, die ihn abserviert und stattdessen andere Männer getroffen haben.«
»Größere Männer«, sagte Smith.
»Eifersucht«, sagte Harry. »Morbide Eifersucht. Aber bei einem Mann, der keiner Fliege was zuleide tun kann? So jemand bräuchte dann einen Stellvertreter. Jemanden, der das kann, was er selbst nicht kann.«
»Einen Mörder«, sagte Smith und nickte langsam.
»Jemanden, der Spaß am Töten hat. Valentin Gjertsen. Wir haben also einen, der alles vorbereitet, und einen, der die Tat ausführt. Agent und Artist.«
»Mein Gott«, sagte Smith und fuhr sich mit der Handfläche über die Wangen. »Dann macht meine Doktorarbeit langsam wirklich Sinn.«
»Inwiefern?«
»Ich war in Lyon und habe da einen Vortrag über die Vampiristenmorde gehalten. Meine Kollegen waren von meiner Pionierarbeit begeistert, aber ich habe immer wieder darauf hingewiesen, dass sie nicht perfekt und keinesfalls bahnbrechend ist. Die Morde stimmen nämlich nicht mit dem Profil überein, das ich für den Vampiristen erstellt habe.«
»Und das wäre wie?«
»Ein Vampirist ist eine Person mit schizophrenen, paranoiden Zügen, die in ihrem unbändigen Blutrausch Menschen in ihrem Umfeld tötet, also Menschen, an die sie einfach herankommt. So jemand wäre nicht in der Lage, Morde zu begehen, die viel Vorbereitung, Planung und Geduld erfordern. Die Morde, die unser Vampirist begangen hat, deuten eher auf einen Ingenieur als Tätertyp hin.«
»Ein Hirn«, sagte Harry. »Ein Stratege, der auf Valentin zugegangen ist, der selbst nichts mehr tun konnte, ohne gleich von der Polizei gefasst zu werden. Dieser Jemand bietet Valentin die Schlüssel zu Wohnungen allein lebender Frauen an. Fotos, Informationen, Bewegungsmuster und Routinen, alles, was Valentin braucht, um sie sich holen zu können, ohne dabei selbst in den Vordergrund zu treten. Wie kann er so ein Angebot ablehnen?«
»Eine perfekte Symbiose«, sagte Smith.
Oleg räusperte sich.
»Ja?«, sagte Harry.
»Die Polizei fahndet seit Jahren ergebnislos nach Valentin. Wie hat Lenny ihn gefunden?«
»Gute Frage«, sagte Harry. »Im Gefängnis haben sie sich nicht kennengelernt, Lenny Hells Akte ist blitzsauber.«
»Was hast du da gesagt?«, fragte Smith.
»Blitzsauber.«
»Nein, der Name.«
»Lenny Hell«, wiederholte Harry. »Was ist damit?«
Hallstein Smith antwortete nicht. Er starrte Harry nur mit offenem Mund an.
»Oh Scheiße«, sagte Harry leise.
»Wieso Scheiße?«, fragte Oleg.
»Patienten«, sagte Harry. »Derselbe Psychologe. Valentin Gjertsen und Lenny Hell haben sich im Wartezimmer kennengelernt. Richtig, Hallstein? Komm schon, das Risiko, dass noch weitere Morde geschehen könnten, enthebt dich deiner Schweigepflicht.«
»Ja, es stimmt. Lenny Hell war vor einiger Zeit mein Patient. Und er war hier bei mir, er kannte meine Gewohnheit, bis spät in die Nacht im Stall zu arbeiten. Valentin und er können sich aber nicht hier getroffen haben. Valentins Therapiesitzungen waren alle in der Stadt.«
Harry schob sich auf dem Stuhl vor. »Aber ist es möglich, dass Lenny Hell wegen seiner morbiden Eifersucht mit Valentin Gjertsen zusammengearbeitet hat, damit dieser die Frauen umbringt, die Lenny in die Wüste geschickt haben?«
Hallstein Smith legte nachdenklich zwei Finger an sein Kinn und nickte.
Harry lehnte sich im Stuhl zurück. Sah auf den Bildschirm. Er zeigte ein Standbild, auf dem zu sehen war, wie der angeschossene Valentin die Stallungen verließ. Der Zeiger der Waage, der bei seinem Kommen 74,7 Kilo angezeigt hatte, gab jetzt 73,2 Kilo an. Auf dem Boden des Büros müssten anderthalb Liter Blut sein. Einfache Mathematik, die Aufgabe war gelöst. Valentin Gjertsen und Lenny Hell. Das Ergebnis lautete zwei.
»Dann muss der Fall ja wieder aufgerollt werden«, sagte Oleg.
»Kommt nicht in Frage«, sagte Gunnar Hagen und sah auf die Uhr.
»Und warum nicht?«, fragte Harry und signalisierte Nina, dass er die Rechnung wollte.
Der Leiter des Dezernats für Gewaltverbrechen seufzte. »Weil der Fall geklärt ist, Harry, und weil mir das, was du gerade erzählt hast, ein bisschen zu sehr nach Verschwörungstheorie klingt. Zufälle, wie etwa die Tatsache, dass Lenny Hell Kontakt zu zwei Opfern hatte oder dass Valentin sich angeblich in diesem Stall auskannte. Das sind so Sachen, aus denen Journalisten sich zusammenbrauen, dass Kennedy von der CIA erschossen wurde und der wahre Paul McCartney längst tot ist. Der Vampiristenfall ist in der Öffentlichkeit immer noch sehr präsent, und wir machen uns zu Clowns, wenn wir den Fall auf Basis derart unsicherer Indizien jetzt wieder aufrollen.«
»Ist es wirklich das, was dir Sorgen macht, Chef? Du willst dich nicht zum Clown machen?«
Gunnar Hagen lächelte. »Bei deinem ›Chef‹ habe ich mich schon immer wie ein Clown gefühlt. Weil im Grunde doch alle wussten, dass du hier der Chef warst. Aber das war okay, ich konnte damit leben, du hattest das Recht, uns herumzuscheuchen, weil das ja auch zu Ergebnissen geführt hat. Aber dieser Fall ist abgeschlossen. Ein für alle Mal.«
»Mikael Bellman ist der wahre Grund, oder?«, sagte Harry. »Er will nicht riskieren, dass sein Image noch Schaden nimmt, bevor er zum Justizminister vereidigt wird.«
Hagen zuckte mit den Schultern. »Danke, dass du mich noch so spät an einem Samstagabend auf einen Kaffee eingeladen hast, Harry. Wie geht es bei euch zu Hause?«
»Gut«, sagte Harry. »Rakel ist wieder richtig fit. Und Oleg kocht gerade zusammen mit seiner Freundin. Und wie ist es bei euch?«
»Auch alles in Ordnung. Katrine und Bjørn haben sich ein Haus gekauft. Aber das weißt du ja bestimmt schon.«
»Nein, das wusste ich nicht.«
»Es lief ja eine Zeitlang nicht so gut, aber jetzt sind sie allem Anschein nach doch wieder ein Herz und eine Seele. Katrine ist schwanger.«
»Wirklich?«
»Ja, der Termin ist im Juni. Die Welt dreht sich weiter.«
»Für einige von uns«, sagte Harry, reichte Nina einen Zweihunderter, worauf sie ihm sofort das Wechselgeld rausgab. »Für andere nicht. Hier im Schrøder steht sie still.«
»Das sehe ich«, sagte Gunnar Hagen. »Ich dachte, Bargeld würde gar nicht mehr angenommen.«
»Das meinte ich nicht. Danke, Nina.«
Hagen wartete, bis die Bedienung gegangen war. »Wolltest du mich deshalb hier treffen? Um mich daran zu erinnern? Glaubst du, ich hätte das vergessen?«
»Nein, das glaube ich nicht«, sagte Harry. »Aber bis wir nicht wissen, was mit Marte Ruud passiert ist, ist dieser Fall nicht gelöst. Nicht für ihre Familie, nicht für die, die hier arbeiten, nicht für mich. Und für dich auch nicht, das sage ich dir. Und auch wenn Mikael Bellman diesen Fall noch so tief vergraben hat, ich grabe ihn wieder aus.«
»Harry …«
»Ich brauche doch nur einen Durchsuchungsbeschluss und eine Genehmigung von dir, dieser einen Sache nachzugehen, danach höre ich auf, versprochen. Nur dieser eine Gefallen, Gunnar. Wenn das erledigt ist, bin ich raus.«
Hagen zog eine seiner buschigen Augenbrauen hoch. »Gunnar?«
Harry zuckte mit den Schultern. »Eigentlich bist du ja auch gar nicht mehr mein Chef. Also, was sagst du?«
»Das wäre ein klarer Verstoß gegen die Anweisungen des Polizeipräsidenten.«
»Du kannst Bellman doch auch nicht leiden, er ist ja bald auch nicht mehr dein Chef. Komm schon, du warst doch immer ein Befürworter guter, gründlicher Polizeiarbeit, Gunnar.«
»Du weißt, dass du dich wie ein Arschkriecher anhörst, Harry?«
»Also?«
Hagen seufzte tief. »Ich verspreche nichts, aber ich denke drüber nach. Okay?« Der Dezernatsleiter knöpfte seinen Mantel zu und stand auf. »Ich erinnere mich an einen Rat, der mir gegeben wurde, als ich als Ermittler anfing, Harry. Wenn du überleben willst, musst du lernen loszulassen.«
»Sicher ein guter Rat«, sagte Harry, führte die Kaffeetasse an die Lippen und sah zu Hagen auf. »Wenn man denn der Meinung ist, dass Überleben so verdammt wichtig ist.«