Kapitel 11

Samstagnachmittag

»Wir gehen davon aus, es mit einem Serienmörder zu tun zu haben«, sagte Hauptkommissarin Katrine Bratt und ließ ihren Blick über die vollzählig anwesenden Kollegen schweifen. Auch Harry war da. Sie hatten sich darauf geeinigt, dass er an den Besprechungen teilnahm, solange er seine eigene kleine Gruppe noch nicht zusammengestellt hatte.

Alle waren konzentrierter als bei den vorangegangenen Besprechungen, was natürlich mit der Entwicklung des Falls zu tun hatte. Trotzdem war Katrine überzeugt, dass auch Harrys Anwesenheit ihren Teil dazu beitrug. Er war das versoffene, arrogante Enfant terrible des Dezernats, das mit seinen höchst zweifelhaften Arbeitsmethoden direkt oder indirekt die Schuld am Tod von Kollegen trug, aber das spielte alles keine Rolle. Seine Ergebnisse waren über jeden Zweifel erhaben, und er hatte noch immer die düstere, mitunter geradezu erschreckende Ausstrahlung, der man sich nicht entziehen konnte. Irgendwie saßen die Kollegen aufrechter auf ihren Stühlen. Katrine kam spontan nur eine Person in den Sinn, die er nicht hinter Schloss und Riegel hatte bringen können. Aber vielleicht stimmte trotzdem das, was Harry sagte: Selbst einer Puffmutter wird Respekt gezollt, wenn sie sich lange genug im Milieu hält.

»Ein Täter wie dieser ist aus mehreren Gründen sehr schwer zu fassen. In erster Linie, weil er alles gründlich plant, sich zufällige Opfer sucht und keine anderen Spuren am Tatort hinterlässt als die, die wir finden sollen. Deshalb sind die Mappen mit den Berichten der Spurensicherung, der Rechtsmedizin und der Ermittler, die vor Ihnen liegen, auch so dünn. Es ist uns noch immer nicht gelungen, einen der uns bekannten Sexualstraftäter mit den Morden an Elise Hermansen und Ewa Dolmen oder einem der Tatorte in Verbindung zu bringen. Wohl aber konnten wir eine bestimmte Methode identifizieren. Tord?«

Der IT-Experte lachte unpassenderweise, als fände er irgendetwas an dem, was Katrine gesagt hatte, lustig.

»Ewa Dolmen hat eine Nachricht von ihrem Handy geschickt, die Aufschluss darüber gibt, dass sie in einer Sportsbar namens Dicky ein Tinder-Date hatte«, sagte Tord.

»Dicky?«, platzte Magnus Skarre heraus. »Das ist doch schräg gegenüber von der Jealousy Bar

Ein einstimmiges Stöhnen ging durch den Raum.

»Wenn das mit den Tinder-Dates und den Treffpunkten in Grünerløkka ein Muster ist, haben wir wenigstens etwas«, sagte Katrine.

»Und was?«, fragte einer der Ermittler.

»Eine Idee, wie es beim nächsten Mal sein wird.«

»Und wenn es kein nächstes Mal gibt?«

Katrine holte tief Luft. »Harry?«

Harry lehnte sich im Stuhl zurück. »Nun. Für gewöhnlich machen Serienmörder, die ihr Handwerk noch lernen, größere Pausen zwischen den ersten Morden. Es können Monate vergehen. Jahre. Normalerweise folgt auf einen Mord eine Art Erholungsphase, bevor die sexuelle Frustration sich langsam wieder aufbaut. Diese Zyklen werden in der Regel immer kürzer, und die Morde folgen immer schneller aufeinander. Bei einem kurzen Zyklus von nur zwei Tagen liegt deshalb die Vermutung nahe, dass unser Mann nicht zum ersten Mal ein solches Verbrechen begeht.«

Stille. Alle warteten auf die Fortsetzung, aber es kam keine.

Katrine räusperte sich. »Das Problem ist, dass wir in den letzten fünf Jahren keine Gewaltverbrechen in Norwegen finden, die diesen beiden brutalen Morden ähneln. Wir haben in Zusammenarbeit mit Interpol überprüft, ob der Mörder möglicherweise sein Revier gewechselt hat und nach Norwegen gekommen ist. Aber von dem Dutzend Kandidaten, die in Frage kämen, scheint keiner in der letzten Zeit umgezogen zu sein. Wir wissen also nicht, wer er ist. Aber wir können sagen, dass er – das zeigt die Erfahrung – wieder zuschlagen wird. Und das vermutlich bald.«

»Wie bald?«, ertönte eine Stimme.

»Schwer zu sagen«, meinte Katrine und sah zu Harry, der diskret einen Daumen hob. »Aber wir müssen damit rechnen, dass es im Laufe eines Tages passieren kann.«

»Und wir können nichts tun, um ihn zu stoppen?«

Katrine verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere. »Wir haben den Polizeipräsidenten gebeten, morgen auf der Pressekonferenz eine offizielle Warnung an die Bevölkerung ­herauszugeben. In der Hoffnung, dass die erhöhte Aufmerksamkeit den Täter dazu veranlasst, von seinen Plänen abzusehen oder den nächsten Mord wenigstens erst einmal aufzuschieben.«

»Wird ihn das wirklich abhalten?«, fragte Wolff.

»Ich glaube …«, begann Katrine, wurde aber unterbrochen.

»Bei allem Respekt, Bratt, die Frage war an Hole gerichtet.«

Katrine schluckte und versuchte, sich nicht provozieren zu lassen. »Was meinst du, Harry? Wird ihn eine öffentliche Warnung abhalten?«

»Keine Ahnung«, sagte Harry. »Vergesst alles, was ihr im Fernsehen gesehen habt. Serienmörder sind keine Roboter, die ­einem bestimmten Programm und starrem Handlungsmuster folgen, sie sind ebenso unterschiedlich und unberechenbar wie alle anderen Menschen auch.«

»Gute Antwort, Hole.« Alle drehten sich zu Polizeipräsident Bellman um, der mit verschränkten Armen am Türrahmen lehnte. »Niemand weiß, welche Wirkung eine öffentliche Warnung auf einen wahnsinnigen Täter hätte. Vielleicht stachelt ihn das auch nur an und gibt ihm das Gefühl, die Situation im Griff zu haben, unverwundbar zu sein und einfach weitermachen zu können. Aber wir wissen, dass eine öffentliche Warnung den Eindruck erweckt, dass wir hier im Präsidium die Kontrolle über die Situation verloren haben. Und das würde die Bürger dieser Stadt nur verunsichern. Noch weiter verunsichern, sollten wir wohl sagen. Wer von Ihnen mal ins Netz geschaut und die Schlagzeilen gelesen hat, wird gesehen haben, dass bereits über einen Zusammenhang zwischen den Morden spekuliert wird. Deshalb habe ich einen besseren Vorschlag.«

Mikael Bellman zupfte an den weißen Manschetten, die aus den Ärmeln seiner Anzugjacke herausragten.

»Schnappen wir diesen Typen einfach, bevor er noch mehr Unheil anrichten kann.« Er lächelte in die Runde. »Oder was meinen Sie?«

Katrine sah ein paar nickende Köpfe.

»Gut«, sagte Bellman mit einem Blick auf die Uhr. »Machen Sie weiter, Hauptkommissarin Bratt.«

Das Glockenspiel am Rathaus verkündete, dass es 20.00 Uhr war, als der zivile Polizeiwagen, ein VW Passat, langsam an ihm vorbeifuhr.

»Das war die beschissenste Pressekonferenz, die ich jemals geleitet habe«, schimpfte Katrine und bog in die Dronning Mauds gate ein.

»Neunundzwanzigmal«, sagte Harry.

»Was?«

»Du hast neunundzwanzigmal ›kein Kommentar‹ gesagt«, sagte Harry. »Ich habe mitgezählt.«

»Ich war kurz davor zu sagen, dass der Polizeipräsident uns ­einen Maulkorb verpasst hat. Was macht Bellman da eigentlich? Keine Warnung der Öffentlichkeit, mit keinem Wort erwähnen, dass ein Serienmörder frei herumläuft und die Leute vorsichtig sein sollen?«

»Er hat schon recht, eine solche Warnung würde vollkommen irrationale Ängste schüren.«

»Irrational?«, fauchte Katrine. »Sieh dich doch mal um! Es ist Samstagabend, und die Hälfte der Frauen, die du hier herumlaufen siehst, ist auf dem Weg, irgendwelche Männer zu treffen, die sie nicht kennen. Den Prinzen, der ihr Leben verändern soll. Und wenn dein Tip von einem Tag stimmt, wird sich das für eine von ihnen verdammt bewahrheiten.«

»Wusstest du, dass im Zentrum von London ein schrecklicher Busunfall passiert ist, als in Paris der Terroranschlag war? Fast gleich viele Tote wie in Paris. Norweger, die Bekannte in Paris hatten, haben besorgt dort angerufen, um herauszubekommen, ob ihre Freunde unter den Opfern sind. Um die Freunde in London hat sich kaum jemand Sorgen gemacht. Nach dem Terror­anschlag hatten die Menschen Angst, nach Paris zu fahren, trotz einer hohen Sicherheitsstufe. Aber niemand hatte Angst, in London in einen Bus zu steigen, obwohl die Verkehrssicherheit da keine Spur besser geworden war.«

»Worauf willst du hinaus?«

»Dass die Angst der Menschen, auf diesen Vampiristen zu treffen, unverhältnismäßig groß ist, weil er auf den Titelseiten der Zeitungen prangt und weil sie gelesen haben, dass er ihr Blut trinkt. Andererseits qualmen sie Zigaretten, von denen sie ganz sicher wissen, dass sie sie umbringen.«

»Sag mal, hältst du zu Bellman?«

»Nein«, sagte Harry und sah auf die Straße. »Ich nehme die Gegenposition nur ein, weil ich verstehen will, was Bellman vorhat. Er will doch immer irgendetwas erreichen.«

»Und das wäre?«

»Ich weiß es nicht. Auf jeden Fall will er diese Sache so klein wie möglich halten und rasch vom Tisch haben. Wie ein Boxer, der einen Titel verteidigt.«

»Von was redest du, Harry?«

»Wenn du den Gürtel hast, tust du gut daran, weitere Kämpfe möglichst zu vermeiden. Das Beste, was du erreichen kannst, ist, zu behalten, was du schon hast.«

»Interessante Theorie. Wie sehen deine anderen Theorien aus?«

»Ich habe gesagt, dass ich nicht sicher bin.«

»Er hat ein V an die Tür von Ewa Dolmen gemalt. Das ist der erste Buchstabe seines Namens, Harry. Und du hast gesagt, dass du den Tatort wiedererkannt hast. Aus der Zeit, als er aktiv war.«

»Ja, aber ich schaffe es nicht, mir ins Bewusstsein zu holen, was ich wiedererkannt habe.«

Harry zögerte, als ihm mit einem Mal ein neutrales Straßenbild durch den Kopf ging.

»Hör mal, Katrine, dieser Biss in die Kehle, die Eisenzähne, das Bluttrinken, das ist alles nicht wirklich seine Art des Vor­gehens. Serientäter und Mörder sind vielleicht unberechenbar, was Details angeht, aber sie ändern nicht ihre Methode.«

»Er hat viele Methoden, Harry.«

»Er liebt ihren Schmerz und ihre Angst. Nicht das Blut.«

»Du hast gesagt, der Mörder hätte Zitrone ins Blut gemischt, weil er es eigentlich gar nicht mag.«

»Katrine, es würde uns nicht mal helfen, wenn wir wüssten, dass er es ist. Interpol und ihr jagt ihn jetzt schon wie lange?«

»Jetzt bald vier Jahre.«

»Aus diesem Grund halte ich es für kontraproduktiv, die anderen über den Verdacht zu informieren und dadurch zu riskieren, dass die Ermittlungen sich nur noch auf diese Person konzen­trieren.«

»Oder weil du ihn für dich selbst haben willst?«

»Was?«

»Du bist doch wegen ihm zurückgekommen, Harry. Hab ich recht? Du hast von Anfang an gerochen, dass er wieder da ist. Oleg ist nur ein Vorwand.«

»Katrine, hören wir damit auf.«

»Bellman hätte niemals Olegs Vergangenheit öffentlich gemacht, weil es ein verdammt schlechtes Licht auf ihn werfen würde, dass er nicht viel früher reagiert hat.«

Harry drehte das Radio lauter. »Hast du das schon mal gehört? Aurora Aksnes, ziemlich …«

»Du hasst elektronische Musik, Harry.«

»Nicht mehr als dieses Gespräch.«

Katrine seufzte und hielt an einer roten Ampel. Sie beugte sich vor und sah nach oben. »Guck mal, wir haben Vollmond.«

»Es ist Vollmond«, sagte Mona Daa und sah durch das Küchenfenster auf die gefurchten Felder. Das Licht des Mondes verlieh ihnen einen Glanz, als wäre Schnee gefallen. »Steigt dadurch die Wahrscheinlichkeit, dass er schon heute Nacht wieder zuschlägt? Zum dritten Mal? Was meinen Sie?«

Hallstein Smith lächelte. »Kaum. Nach allem, was Sie mir über die Morde gesagt haben, ist das Verhalten dieses Vampiristen eher durch Paraphilien wie Nekrophilie und Sadismus als durch Mythomanie oder den Glauben geprägt, selbst ein außerirdisches Wesen zu sein. Aber dass er wieder zuschlägt, steht außer Frage.«

»Interessant.« Mona Daa machte sich Notizen auf dem Block, der auf dem Tisch neben der Tasse mit frisch aufgebrühtem grünem Chili-Tee lag. »Und was glauben Sie, wie und wann das passieren wird?«

»Sie haben gesagt, dass auch die letzte Frau ein Tinder-Date hatte?«

Mona Daa nickte, während sie sich weitere Notizen machte. Die meisten ihrer Kollegen nutzten Aufnahmegeräte, doch obwohl sie eine der jüngsten Kriminalreporterinnen war, bevorzugte sie die altbewährte Methode. Ihre offizielle Erklärung ­lautete, dass sie in dem ewigen Rennen, die Erste zu sein, Zeit sparen konnte, weil sie so bereits beim Notieren redigieren konnte. Besonders bei Pressekonferenzen war das ein Vorteil. Wobei man bei der Pressekonferenz, die am Nachmittag im Präsidium stattgefunden hatte, auch ganz ohne Block oder Aufnahmegerät ausgekommen wäre. Katrine Bratts Kein-Kommentar-Mantra hatte gegen Ende sogar erfahrene Kriminalreporter auf die Palme gebracht.

»Wir haben das zwar noch nicht veröffentlicht, aber durch einen Tip aus Polizeikreisen wissen wir, dass Ewa Dolmen eine SMS an eine Freundin geschickt und darin geschrieben hat, dass sie ein Tinder-Date im Dicky in Grünerløkka habe.«

»Aha.« Smith rückte seine Brille zurecht. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass er bei der Methode bleiben wird, mit der er bislang Erfolg hatte.«

»Was würden Sie denn denjenigen raten, die in den nächsten Tagen jemanden über Tinder treffen wollen?«

»Nun ja. Dass sie damit warten sollten, bis der Vampirist gefasst ist.«

»Glauben Sie denn, dass er an Tinder festhält, nachdem er den Artikel gelesen hat und weiß, dass seine Methode jetzt allseits bekannt ist?«

»Eine Psychose ist nicht durch rationale Risikoerwägungen beeinflussbar. Wir haben es hier nicht mit dem klassischen Se­rienmörder zu tun, der in aller Ruhe sein Vorgehen plant. Er ist nicht der kaltblütige Psychopath, der keine Spuren hinterlässt und sich zwischen den Morden perfekt zu verstecken weiß.«

»Unsere Quelle meint, die Ermittlungsleitung gehe von einem klassischen Serienmörder aus.«

»Wir haben es hier mit einer anderen Form von Wahnsinn zu tun. Der Mord ist dem Biss untergeordnet, dem Blut. Das ist es, was ihn antreibt. Und er will unbedingt weitermachen, ist am Höhepunkt, er hat eine akute schwere Psychose. Es ist zu hoffen, dass er – im Gegensatz zu dem klassischen Serienmörder – schnell identifiziert und geschnappt wird, weil er außer Kon­trolle ist, und es ist ihm egal, ob er gefasst wird. Der klassische Serienmörder ist ebenso eine Naturkatastrophe wie der Vampirist. Beide sind ganz gewöhnliche Menschen, nur eben krank im Kopf. Aber während der Serienmörder ein Unwetter ist, das immer wieder an unterschiedlichen Orten ausbrechen kann, ist der Vampirist eine Lawine, die schnell vorbei ist, aber in der kurzen Zeit ein ganzes Dorf ausradieren kann, nicht wahr?«

»Stimmt«, sagte Mona und machte sich Notizen. Ein ganzes Dorf ausradieren. »Herr Smith, ich danke Ihnen. Ich denke, ich habe, was ich wollte.«

Smith breitete die Arme aus. »Das war doch nicht viel. Es wundert mich eigentlich, dass Sie dafür den Weg auf sich genommen haben.«

Mona Daa nahm ihr iPad. »Für die Fotos mussten wir sowieso vorbeikommen, da bin ich gleich mitgefahren. Willy?«

»Ich könnte mir ein Foto draußen auf den Feldern vorstellen«, sagte der Fotograf, der während des Interviews nichts gesagt hatte. »Sie vor den abgeernteten Feldern, dazu das schöne Mondlicht.«

Mona wusste natürlich, was der Fotograf beabsichtigte. Einsamer Mann nachts auf einem schwarzen Feld, Vollmond, Vampir. Sie nickte dem Kollegen unmerklich zu. Manchmal war es besser, den Menschen, die sie fotografierten, nicht zu sagen, was sie vorhatten. Man riskierte nur Einwände.

»Wäre es möglich, meine Frau mit auf das Foto zu nehmen?«, fragte Smith sichtlich aufgeregt. »Ich meine … VG … das ist für uns schon eine große Sache.«

Mona Daa musste lächeln. Süß. Für einen Moment flatterte das Bild des Psychologen, der seiner Frau in den Hals biss, an ihrem inneren Auge vorbei. Aber nein, das ging sicher zu weit. Das würde die ernste Situation ins Lächerliche ziehen.

»Meine Redakteure hätten Sie lieber allein«, sagte sie.

»Verstehe, aber fragen kostet ja nichts«, sagte Smith unschuldig lächelnd.

»Ich bleibe hier und schreibe derweil. Vielleicht können wir das Interview dann gleich ins Netz stellen. Haben Sie WLAN im Haus?«

Mona bekam das Passwort und war bereits halb fertig, als sie draußen ein Blitzlicht wahrnahm.

Die inoffizielle Erklärung, warum sie auf Aufnahmegeräte verzichtete, war, dass es dann keine zweifelsfreie Dokumentation gab, was wirklich gesagt worden war. Nicht dass Mona Daa bewusst etwas schrieb, das ihre Interviewpartner so nicht gesagt hatten, aber so hatte sie einfach mehr Spielraum, den Aussagen den nötigen Pfeffer zu geben, die Zitate so zusammenzufassen, dass sie ins Tabloid-Format passten und die Leser die Schlagzeilen auch anklickten.

Psychologe: Vampirist kann ganzes Dorf ausradieren!

Sie sah auf die Uhr. Truls Berntsen hatte gesagt, dass er um zehn anrufen wollte, falls es etwas Neues gab.

»Ich mag keine Science-Fiction-Filme«, sagte der Mann, der Penelope Rasch gegenübersaß. »Am meisten nerven mich die Geräusche, wenn ein Raumschiff an der Kamera vorbeizieht.« Er spitzte die Lippen und machte einen Zischlaut. »Im Weltraum ist keine Luft, also gibt es auch keine Geräusche. Da herrscht vollkommene Stille. Wir werden angelogen.«

»Amen«, lachte Penelope und hob ihr Wasserglas.

»Ich mag Alejandro González Iñárritu«, sagte der Mann und nahm auch sein Mineralwasserglas. »Biutiful und Babel sind meine Filme. Viel mehr als Birdman oder The Revenant. Ich habe die Befürchtung, dass auch er jetzt immer mehr in Richtung Mainstream geht.«

Penelope lief ein Schauer über den Rücken, ein wohliger Schauer. Nicht nur, weil er gerade zwei ihrer Lieblingsfilme genannt hatte, sondern weil er auch den wenig bekannten anderen Nachnamen von Iñárritu kannte. Und das, nachdem er vorher schon ihren Lieblingsautor Cormac McCarthy und ihr Lieblingsreiseziel erwähnt hatte.

Die Tür ging auf. Sie waren die einzigen Gäste in dem kleinen, versteckten Restaurant, das er für ihr erstes Treffen vorgeschlagen hatte. Jetzt kam ein weiteres Paar herein. Er drehte sich um. Nicht zur Tür, um zu sehen, wer kam, sondern in die andere Richtung, so dass sie ihn für ein paar Sekunden unbemerkt mustern konnte. Er war schlank und etwa so groß wie sie, hatte gute Manieren und war anständig gekleidet. Doch war er auch gutaussehend? Schwer zu sagen. Er war definitiv nicht abstoßend, aber irgendwie zu glatt. Und sie glaubte nicht, dass er erst vierzig war, wie in seinem Profil stand. Die Haut um die Augen und am Hals wirkte irgendwie gestrafft, als hätte er sich liften lassen.

»Ich kannte dieses Restaurant gar nicht«, sagte sie. »Sehr still.«

»Z-zu still?«, fragte er lächelnd.

»Still ist gut.«

»Beim nächsten Mal können wir ja irgendwo hingehen, wo sie Kirin-Bier haben und schwarzen Reis servieren«, sagte er. »Wenn du das magst.«

Sie sah ihn überrascht an. Er verblüffte sie zunehmend. Woher wusste er, dass sie schwarzen Reis liebte? Die meisten ihrer Freunde wussten nicht einmal, dass es so etwas gab. Roar hatte diesen Reis gehasst und gemeint, er schmecke nach Reformhaus und unnötigem Luxus. Beides stimmte, schwarzer Reis enthielt mehr Antioxidantien als Blaubeeren und wurde lange für die verbotenen, nur dem Kaiser und seiner Familie vorbehaltenen Sushis verwendet.

»Ich liebe schwarzen Reis«, sagte sie. »Was magst du sonst noch?«

»Meine Arbeit«, erwiderte er.

»Und du bist?«

»Künstler.«

»Wie spannend! Was …?«

»Installationen.«

»Roar … mein Ex, war auch Künstler, vielleicht kennst du ihn ja.«

»Kaum, ich verkehre nicht in den etablierten Künstlerkreisen. Und ich bin Autodidakt, wenn du so willst.«

»Wenn du von deiner Kunst leben kannst, ist es wirklich erstaunlich, dass ich noch nie von dir gehört habe. Oslo ist klein.«

»Ich mache andere Sachen, um Geld zu verdienen.«

»Was zum Beispiel?«

»Ich arbeite als Wachmann.«

»Aber du stellst deine Kunst aus?«

»In der Regel sind das geschlossene Ausstellungen für ein ausgesuchtes, professionelles Publikum, zu denen die Presse keinen Zutritt hat.«

»Also, hört sich exklusiv an. Ich habe Roar oft geraten, es auch so zu machen. Was verarbeitest du in deinen Installationen?«

Er wischte sein Glas mit einer Serviette ab. »Modelle.«

»Modelle wie in … also lebende Modelle?«

Er lächelte. »Sowohl als auch. Aber reden wir doch über dich, Penelope. Was magst du?«

Sie legte einen Finger unter ihr Kinn. Tja, was mochte sie? Eigentlich hatte sie das Gefühl, dass er schon alles gesagt hatte. Als hätte er ein Buch über sie gelesen.

»Ich mag Menschen«, sagte sie. »Und Ehrlichkeit. Meine Familie. Und Kinder.«

»Und festgehalten zu werden«, sagte er und warf einen Blick auf das Paar, das zwei Tische von ihnen entfernt saß.

»Entschuldigung?«

»Du magst es, festgehalten zu werden, wenn dich jemand hart rannimmt.« Er beugte sich über den Tisch. »Das sehe ich dir an, Penelope. Und das ist in Ordnung, denn das mag ich auch. Es wird hier drinnen langsam voll, sollen wir zu dir nach Hause ­gehen?«

Penelope brauchte eine Sekunde, um zu verstehen, dass er das ernst meinte. Sie senkte den Blick und sah, dass er seine Hand vorgeschoben hatte und mit den Fingerkuppen fast ihre Hand berührte. Sie schluckte. Was war nur mit ihr, dass sie immer an die falschen Männer geriet? Ihre Freundinnen waren der Meinung, dass sie am besten über Roar hinwegkommen würde, wenn sie andere Männer traf. Und sie hatte es versucht, aber entweder waren das verklemmte, sozialgestörte IT-Nerds gewesen, die kaum ein Wort über die Lippen gebracht hatten, oder eben Männer wie der hier, die es nur auf eine schnelle Nummer abgesehen hatten.

»Ich glaube, ich gehe lieber allein nach Hause«, sagte sie und hielt nach dem Kellner Ausschau. »Die Rechnung, bitte.« Sie saßen erst knapp zwanzig Minuten zusammen, aber ihre Freundinnen hatten ihr das dritte und wichtigste Tinder-Gebot eingebläut: Don’t play games, leave if you don’t click.

»Die zwei Flaschen Mineralwasser übernehme ich«, sagte der Mann lächelnd und zupfte an seinem hellblauen Hemdenkragen. »Lauf, Aschenputtel.«

»Dann … danke.«

Penelope nahm ihre Tasche und verließ das Lokal.

Die scharfe Herbstluft strich ihr angenehm kühlend über die heißen Wangen. Sie ging den Bogstadveien hoch. Es war Samstagabend, und die Straßen waren voller aufgedrehter Menschen. Am Taxistand wartete eine lange Schlange, aber bei den Taxipreisen in Oslo nahm sie sich eh nur eins, wenn es wirklich schüttete. Auf Höhe der Sorgenfrigata dachte sie, dass sie immer davon geträumt hatte, mit Roar mal in eins dieser schönen Häuser zu ziehen. Die Wohnung musste nicht größer als siebzig oder achtzig Quadratmeter sein, hatten sie sich geeinigt, solange sie nur frisch renoviert war, mindestens das Bad. Dass es schweineteuer werden würde, war ihnen klar gewesen, aber sowohl ihre als auch Roars Eltern hatten ihnen finanzielle Unterstützung versprochen und mit dieser »Unterstützung« natürlich gemeint, dass sie die ganze Wohnung finanzieren wollten. Sie hatte als frischdiplomierte Designerin noch keinen Job gehabt, und auch Roars enormes Talent war auf dem Kunstmarkt noch niemandem aufgefallen. Außer der verfluchten Galeristin, die ihn in die Falle gelockt hatte. In der ersten Zeit nach Roars Auszug war Penelope überzeugt gewesen, dass Roar irgendwann erkennen würde, dass die alte Schachtel nur einen jungen Loverboy wollte, mit dem sie sich eine Weile amüsieren konnte. Aber das war nicht passiert. Im Gegenteil, irgendwann hatten sie ihre sogenannte Verlobung in Form einer idiotischen Installation aus Zuckerwatte bekannt­gegeben.

An der U-Bahn-Station Majorstua nahm Penelope die erste Bahn in Richtung Westen. In Hovseter, dem östlichsten und einfachsten der westlichen Stadtteile, stieg sie aus. Eine Siedlung mit Hochhäusern und relativ preiswerten Wohnungen, in der Roar und sie die billigste genommen hatten. Das Bad war schrecklich.

Roar hatte sie getröstet und ihr Just Kids von Patti Smith geschenkt, ein Memoir über zwei ambitionierte Künstler, die von Hoffnung, Luft und Liebe im New York der siebziger Jahre lebten und zum Schluss natürlich erfolgreich waren. Aber okay, auch ihre Beziehung war dabei draufgegangen. Wenigstens das.

Auf dem Weg vom U-Bahnhof zum ersten Wohnblock fiel ihr der seltsame Glorienschein auf, der ihn umgab. Der Vollmond musste jetzt direkt hinter dem Haus stehen, dachte sie.

Sie hatte mit vier Männern geschlafen, seit Roar sie vor elf Monaten und dreizehn Tagen verlassen hatte. Zwei davon waren besser gewesen als er, die anderen beiden schlechter. Aber sie hatte Roar auch nicht wegen Sex geliebt. Sondern weil … weil Roar … Ach, zum Henker mit ihm!

Ihre Schritte wurden schneller, als sie an dem kleinen Wäldchen, das links neben der Straße lag, vorbeiging, in Hovseter war schon bei Einbruch der Dunkelheit kaum noch jemand auf der Straße. Früher hätte Penelope, eine großgewachsene, sportliche Frau, nicht einmal im Traum daran gedacht, dass es abends gefährlich werden könnte. Vielleicht lag das an diesem Mörder, über den die Zeitungen schrieben. Oder nein, das war es nicht, eher die Tatsache, dass jemand in ihrer Wohnung gewesen war. Vor etwa drei Monaten. Zuerst war sie voller Hoffnung gewesen, dass das Roar war, der wieder zu ihr zurückwollte. Dass jemand in der Wohnung gewesen war, hatte sie an den Erdklumpen auf dem Boden im Flur erkannt, die nicht von ihren Schuhen stammen konnten. Und als sie auch vor der Kommode im Schlafzimmer Dreck gefunden hatte, war sie in der Hoffnung, dass Roar einen von ihren Slips mitgenommen hatte, ihre Unterwäsche durchgegangen. Es war aber alles da gewesen. Erst danach hatte sie bemerkt, dass die Schachtel mit dem Verlobungsring fehlte, den Roar ihr in London gekauft hatte. War doch ein Einbrecher in der Wohnung gewesen? Oder hatte Roar den Ring geklaut, um ihn dieser … Galeristin zu schenken? Penelope hatte ihn wütend angerufen und damit konfrontiert, aber er leugnete, da gewesen zu sein, und sagte, er habe beim Umzug die Schlüssel verloren, die er ihr ansonsten natürlich längst geschickt hätte. Lügen, natürlich, wie alles andere auch. Trotzdem hatte sie die Schlösser für die Haustür unten und für ihre Wohnungstür im vierten Stock austauschen lassen.

Penelope nahm die Schlüssel aus der Handtasche. Sie lagen neben dem Pfefferspray, das sie sich gekauft hatte. Sie schloss die Haustür auf und hörte die leise fauchende Hydraulik, als sich die Tür hinter ihr langsam zuzog. Der Aufzug stand in der sechsten Etage, weshalb sie die Treppe in den vierten Stock nahm. Sie ging an der Tür der Amundsens vorbei und blieb stehen, weil sie außer Atem war. Merkwürdig, sie war gut trainiert, die Treppe machte ihr doch sonst nichts aus. Irgendetwas stimmte nicht, aber was?

Sie sah nach oben zu ihrer Wohnungstür.

Die Wohnblöcke waren für die vor langer Zeit noch existierende Arbeiterklasse im Osloer Westen gebaut worden, und dabei war auch am Licht gespart worden. Es gab nur eine einzelne Deckenlampe auf jeder Etage. Penelope hielt den Atem an und lauschte. Sie hatte nichts gehört, seit sie das Treppenhaus betreten hatte.

Nicht seit der Hydraulik der Tür.

Keinen Laut.

Und genau das war falsch.

Sie hatte die Tür nicht ins Schloss fallen hören.

Penelope kam nicht mehr dazu, sich umzudrehen oder die Hand in die Tasche zu stecken. Sie schaffte nichts mehr, ehe ein Arm von hinten sich so fest um ihren Oberkörper legte, dass es ihr die Luft aus den Lungen presste. Ihre Tasche fiel auf die Treppe und war das Einzige, was sie traf, als sie wild um sich trat. Sie schrie lautlos in die Hand, die sich über ihren Mund gelegt hatte und nach Seife roch.

»So, so, Penelope«, flüsterte ihr eine Stimme ins Ohr. »Im W-Weltraum kann dich keiner hören, weißt du?« Er machte ­einen Zischlaut.

Unten an der Eingangstür war ein Klatschen zu hören, und für einen Augenblick hoffte sie, dass jemand kam, doch dann wurde ihr bewusst, dass das ihre Tasche mit dem Pfefferspray gewesen sein musste, die durch die Geländerstäbe gerutscht und unten im Erdgeschoss aufgekommen war.

»Was ist?«, fragte Rakel, ohne sich umzudrehen oder damit ­aufzuhören, Salat zu schneiden. Sie hatte in der Spiegelung im Fenster über der Anrichte gesehen, dass Harry nicht mehr den Tisch deckte, sondern ans Wohnzimmerfenster getreten war.

»Ich dachte, ich hätte was gehört«, sagte er.

»Bestimmt Oleg und Helga.«

»Nein, das war etwas anderes, es war … etwas anderes.«

Rakel seufzte. »Harry, du bist gerade erst nach Hause gekommen und schon wieder … nervös. Siehst du, was das mit dir macht?«

»Nur dieser eine Fall, dann ist es vorbei.« Harry kam zur Anrichte und küsste sie in den Nacken. »Wie fühlst du dich?«

»Gut«, log sie. Ihr ganzer Körper tat weh, der Kopf, das Herz.

»Du lügst«, sagte er.

»Und, lüge ich gut?«

Lächelnd massierte er ihr den Nacken.

»Wenn ich nicht mehr bin«, sagte sie. »Würdest du dir eine andere suchen?«

»Eine andere suchen? Klingt ganz schön anstrengend. Es war schwer genug, dich zu überzeugen.«

»Eine Jüngere. Eine, mit der du Kinder haben könntest. Ich könnte ja nicht mehr eifersüchtig werden, weißt du.«

»Du lügst nicht so gut, Liebste.«

Sie lachte, ließ das Messer fallen, senkte den Kopf und spürte, wie seine warmen, trockenen Finger den Schmerz wegmassierten und ihr einen Moment Ruhe gönnten.

»Ich liebe dich«, sagte sie.

»Hm?«

»Ich liebe dich. Besonders, wenn du mir einen Tee kochst.«

»Aye, aye, Chef.«

Harry ließ sie los, und Rakel blieb abwartend stehen. Voller Hoffnung, aber nein, die Schmerzen kamen wieder, unerbittlich wie ein Faustschlag.

Harry stützte sich mit beiden Händen auf die Anrichte und starrte auf den Wasserkocher. Wartete auf das leise Blubbern, das lauter und lauter werden würde, bis die ganze Kanne zitterte. Als würde sie schreien. Er hörte Schreie. Stumme Schreie, die seinen Kopf erfüllten, den Raum, seinen Körper. Er verlagerte das Gewicht von einem Bein auf das andere. Die Schreie wollten raus, mussten raus. Wurde er verrückt? Er hob den Blick zum Fenster, sah in der dunklen Scheibe aber nur sein eigenes Spiegelbild. Er war es. Er war da draußen. Er wartete auf sie. Er sang. Kommt raus und spielt mit mir!

Harry schloss die Augen.

Nein, er wartete nicht auf sie. Er wartete auf ihn. Auf Harry. Komm raus und spiel mit mir!

Sie war anders als die anderen. Penelope Rasch wollte leben. Sie war groß und stark. Und die Tasche mit dem Wohnungsschlüssel lag nun drei Etagen unter ihnen. Er spürte, wie die Luft aus ihren Lungen gedrückt wurde, und verstärkte den Griff um ihre Brust. Wie eine Würgeschlange. Eine Boa Constrictor. Ein einziger Muskel, der sich umso mehr anspannte, je mehr Luft die Beute ausatmete. Er wollte sie lebend. Vital und warm. Um ihren wunderbaren Lebenswillen Stück für Stück zu brechen. Aber wie? Wenn er sie mit sich nach unten schleifte, um sich die Schlüssel zu holen, riskierte er, dass einer der Nachbarn sie hörte und Alarm schlug. Er spürte Wut in sich aufsteigen. Er hätte Penelope Rasch auslassen sollen. Hätte das schon erkennen müssen, als er vor drei Tagen festgestellt hatte, dass die Schlösser ausgetauscht worden waren? Aber dann war ihm das Glück hold gewesen, und er hatte über Tinder mit ihr Kontakt aufnehmen können. Sie hatte eingewilligt, sich an diesem diskreten Ort zu treffen, und er hatte gedacht, dass es doch irgendwie klappen würde. Aber ein diskreter Ort bedeutete auch, dass die wenigen, die dort waren, umso mehr auffielen. Und ein Gast hatte ihn einen Moment zu lang angeschaut, weshalb er zu sehr gedrängt hatte, dort wegzukommen. Penelope war zickig geworden und gegangen.

Er hatte diese Möglichkeit eingeplant und das Auto vorsorglich in der Nähe geparkt. Er war schnell gefahren. Nicht so schnell, dass er riskierte, von der Polizei angehalten zu werden, aber schnell genug, um sich in dem Wäldchen verstecken zu können, bevor sie aus der U-Bahn kam. Sie hatte sich nicht umgedreht, als er ihr gefolgt war, auch nicht, als sie die Schlüssel aus der Tasche genommen und die Tür aufgeschlossen hatte. Und so hatte er einen Fuß in die Tür gesetzt, bevor diese zufallen konnte.

Ein Zittern fuhr durch ihren Körper, bald würde sie das Bewusstsein verlieren. Seine Erektion drückte sich gegen ihr Gesäß. Auch Mutter hatte so einen kräftigen, breiten Po gehabt.

Er spürte, dass der Junge kam, dass er übernehmen wollte, vor Hunger schrie. Er wollte gefüttert werden. Jetzt!

»Ich liebe dich«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Ich liebe dich wirklich, Penelope, und deshalb will ich dich zu einer ehrbaren Frau machen, ehe wir weitergehen.«

Sie wurde schlaff in seinen Armen, und er beeilte sich, hielt sie mit einem Arm fest, während er mit der anderen Hand in seine Jackentasche griff.

Penelope Rasch wachte auf und wusste, dass sie einen Moment weg gewesen war. Es war dunkel. Sie hing, und etwas zerrte an ihren Armen und schnitt ihr in die Handgelenke. Sie sah nach oben. Handschellen. Und etwas, das matt an ihrem Ringfinger glänzte.

Da spürte sie den Schmerz zwischen den Beinen und sah nach unten, als er gerade die Finger aus ihr zog.

Sein Gesicht lag halb im Schatten, aber sie sah, wie er sich die Finger unter die Nase hielt und schnupperte. Sie versuchte zu schreien, aber es kam kein Ton.

»Gut, meine Geliebte«, sagte er. »Du bist sauber, dann können wir anfangen.«

Er knöpfte sich die Jacke und das Hemd auf und entblößte eine Tätowierung, ein Gesicht, das ebenso lautlos schrie wie sie. Mit geschwellter Brust stand er vor ihr, als wollte er ihr diese Tätowierung unbedingt zeigen. Vielleicht war es aber auch umgekehrt. Vielleicht war sie es, die gezeigt wurde. Einem schreienden Dämon.

Er griff in die Tasche seiner Jacke, nahm etwas heraus und zeigte es ihr. Schwarz. Eisen. Zähne.

Penelope bekam ein bisschen Luft. Und schrie.

»So, ja, meine Geliebte. Das ist die Musik für meine Arbeit«, sagte er lachend, machte den Mund auf und setzte sich die Zähne ein.

Sein Lachen und ihre Schreie hallten in den Wänden wider.

Der Raum war erfüllt von Stimmen und Kommentaren internationaler Nachrichtensender, die über die Bildschirme an der Wand der VG-Redaktion flimmerten.

Der Onlineredakteur und der Nachrichtenchef bearbeiteten fortlaufend die Onlineausabe der Zeitung. Mona Daa und der Fotograf standen hinter dem Stuhl des Nachrichtenredakteurs und sahen sich das Foto auf seinem Dashboard an.

»Ich habe alles versucht, aber es ist schlichtweg unmöglich, ihn irgendwie gefährlich aussehen zu lassen«, sagte der Fotograf seufzend.

Mona sah, dass er recht hatte. Hallstein Smith sah im Licht des Vollmonds einfach nur jovial aus.

»Das geht sicher trotzdem«, sagte der Redakteur, »schaut euch mal die Klicks an. Jetzt sind es schon neunhundert pro Minute.«

Mona sah auf den Zahlenstand an der rechten Seite des Bildschirms.

»Wir haben einen Sieger«, sagte der Nachrichtenchef. »Wir stellen das ganz nach oben. Vielleicht sollten wir die Chefin vom Dienst fragen, ob wir nicht auch die Titelseite austauschen können.«

Der Fotograf ballte die Faust, und Mona Daa drückte ihre Knöchel pflichtschuldig gegen seine. Ihr Vater meinte, Tiger Woods und sein Caddy hätten diese Geste populär gemacht. Von dem obligatorischen High five waren sie abgekommen, nachdem der Caddy die Hand des Golfspielers nach einem perfekten Pitch am sechzehnten Loch in der letzten Runde bei den Masters durch ein allzu begeistertes Abklatschen verletzt hatte. Es war die große Sorge ihres Vaters gewesen, dass Mona wegen ihres angeborenen Hüftschadens nie die Golfspielerin werden würde, die er sich gewünscht hatte. Sie selbst hasste Golf, seit er sie zum ersten Mal mit auf die Driving Range genommen hatte. Da das Niveau so seltsam niedrig gewesen war, hatte sie trotzdem ­weitergespielt und gewonnen, was man gewinnen konnte. Ihr Schlag war aber so kurz und hässlich, dass der Trainer der Juniorennationalmannschaft sich schlichtweg geweigert hatte, sie aufzunehmen. Seine Begründung war, dass er lieber mit einem Team verlöre, das wenigstens so aussah, als spielte es Golf. Danach hatte sie die Golfschläger in den Keller zu denen ihres Vaters gestellt und war in den Kraftraum gegangen. Dort hatte niemand Einwände dagegen, wie sie die hundertzwanzig Kilo in die Höhe stemmte. Anzahl Kilo, Anzahl Schläge, Anzahl Klicks. Erfolg war in Zahlen messbar, wer etwas anderes behauptete, hatte Angst vor der Wahrheit oder glaubte vielleicht ernsthaft, dass Durchschnittsmenschen eine Lebenslüge brauchten. Im Augenblick richtete sie ihre ganze Aufmerksamkeit aber auf das Kommentarfeld. Ihr war etwas in den Sinn gekommen, als Smith gesagt hatte, der Vampirist scheue kein Risiko. Es war durchaus möglich, dass er die VG las und vielleicht sogar einen Kommentar schrieb.

Ihr Blick ging über die eingehenden Zeilen.

Es waren die Üblichen:

Die Mitfühlenden, die ihre Anteilnahme mit den Opfern ausdrückten.

Die selbsternannten Soziologen, die erklärten, warum die eine oder andere politische Partei Schuld an der Misere trug, dass die Gesellschaft immer mehr unerwünschte Individuen hervorbrachte, in diesem Fall einen Vampiristen.

Und die Henker, die – sobald sich die Gelegenheit bot – nach Todesstrafe und Kastration schrien.

Und natürlich die Wannabe-Stand-up-Komiker mit ihren schrägen Vorbildern, die vor nichts zurückschreckten. »Musiktip: Wampire«; »Verkaufen Sie Ihre Tinder-Aktien jetzt!«

Was würde sie tun, wenn tatsächlich ein verdächtiger Kommentar gepostet wurde? Würde sie es Katrine Bratt & Co. melden? Das schuldete sie Truls Berntsen. Oder sollte sie den Blonden anrufen, diesen Wyller, damit auch er in ihrer Schuld stand? Auch wenn man nicht bei Tinder war, konnte man den einen nach links und den anderen nach rechts schieben.

Sie gähnte. Ging zu ihrem Schreibtisch und nahm die Tasche.

»Ich geh zum Training«, rief sie zur Chefin vom Dienst hin­über.

»Jetzt? Es ist mitten in der Nacht.«

»Ruf mich an, wenn was passiert.«

»Deine Schicht war vor einer Stunde zu Ende, Daa, jetzt sind andere dran …«

»Das ist meine Story, und du rufst mich an, okay?«

Sie hörte jemanden lachen, als die Tür hinter ihr ins Schloss fiel. Vielleicht wegen ihres Ganges oder wegen ihrer Kluges-Mädchen-schafft-alles-allein-Attitüde. Es war ihr egal. Sie hatte einen seltsamen Gang. Und sie wollte alles allein schaffen.

Fahrstuhl, Pförtner, Schwingtür, dann war sie raus aus dem gläsernen Medienhaus und stand im Licht des Vollmonds. Mona holte tief Luft. Etwas Großes stand bevor, das wusste sie ganz einfach. Und sie würde daran teilhaben.

Truls Berntsen hatte seinen Wagen am Rand der kurvigen, steilen Straße geparkt. Unter ihm, im Dunkeln, lag Oslos stillgelegte Industrie, stumm gewordene Ziegelbauten mit zugewucherten Eisenbahnschienen. Und dahinter die neuen Bauklötze der Architekten: Barcode, die Verspieltheit der neuen Businesswelt als Kontrast zu dem düsteren Ernst einer vergangenen Arbeitswelt, in der Minimalismus noch eine kostensparende Notwendigkeit und kein ästhetisches Ideal gewesen war.

Truls sah zu dem Haus hoch, das oben am Hang im Mondlicht badete.

Hinter den Fenstern brannte Licht. Er wusste, dass Ulla zu Hause war. Vielleicht saß sie wie so oft auf dem Sofa, die Beine angezogen, und las ein Buch. Wenn er das Fernglas mit auf die Anhöhe im Wald nähme, könnte er es herausfinden. Und wenn sie auf dem Sofa säße, könnte er auch sehen, wie sie ihre blonden Haare hinter ein Ohr strich, als lauschte sie auf etwas. Waren die Kinder aufgewacht, wollte Mikael etwas, oder war sie nur wachsam wie eine Gazelle am Wasserloch angesichts möglicher Raubtiere?

Es knackte und rauschte, Stimmen waren zu hören, dann war alles wieder still. Die Geräusche einer Stadt, vermittelt über den Polizeifunk, beruhigten ihn mehr als Musik.

Truls starrte auf das offene Handschuhfach. Das Fernglas lag hinter der Dienstwaffe. Er hatte sich auferlegt, damit aufzuhören. Es war an der Zeit, er brauchte das jetzt nicht mehr, schließlich hatte er herausgefunden, dass es noch andere Fische im Teich gab. Na ja, Seeteufel, Seeskorpione und Petermännchen. Truls grunzte. Diesem Lachen hatte er seinen Spitznamen Beavis zu verdanken, und seinem kräftigen Unterbiss. Und da oben saß sie, gefangen in dem viel zu großen, teuren Haus, mit der Terrasse, die Truls gegossen und in die er die Leiche eines Drogendealers einbetoniert hatte. Nur Truls wusste davon, was ihm aber keine schlaflosen Nächte bereitete.

Ein Krächzen im Funkgerät. Stimmen aus der Kriminalwache.

»Haben wir einen Wagen in der Nähe von Hovseter?«

»31 ist in Skøyen.«

»Hovseterveien 44, Eingang B. Hysterische Hausbewohner, die sagen, dass ein Verrückter im Hausflur eine Frau misshandelt, sie sich aber nicht trauen einzugreifen, weil es im Treppenhaus ganz dunkel ist. Er soll eine Lampe zerschlagen haben.«

»Mit einer Waffe misshandelt?«

»Sie wissen es nicht. Sie haben durchgegeben, dass er sie gebissen hat, bevor es dunkel wurde. Die Anrufer heißen Amundsen.«

Truls reagierte sofort und drückte den Sprechknopf. »Kommissar Truls Berntsen hier, ich bin näher dran, ich kümmere mich darum.«

Er hatte den Motor bereits angelassen, gab Gas und fuhr auf die Straße. Ein Wagen, der knapp hinter seinem um die Kurve gebogen war, hupte wütend.

»Okay«, kam es von der Einsatzzentrale. »Und wo sind Sie, Berntsen?«

»Ganz in der Nähe, habe ich doch gesagt. 31, ich will Sie als Backup. Warten Sie, falls Sie doch vor mir da sind. Es ist möglich, dass der Täter bewaffnet ist. Wiederhole, bewaffnet.«

Samstagabend, fast kein Verkehr. Mit Vollgas durch den Operatunnel, der in einem leichten Bogen unter dem Fjord verlief und am Zentrum vorbeiführte. Er lag höchstens sieben oder acht Minuten hinter 31. Diese Minuten konnten natürlich kritisch sein – für das Opfer ebenso wie für die Ergreifung des Täters. Andererseits war Kommissar Truls Berntsen so vielleicht der ­Polizist, der den Vampiristen verhaftete. Ganz zu schweigen davon, was die VG für den Bericht desjenigen zahlen würde, der als Erster am Tatort war. Er drückte auf die Hupe, und ein Volvo machte Platz. Erst zwei Spuren, dann drei. Vollgas. Sein Herz hämmerte gegen die Rippen, eine Tunnelkamera blitzte. Polizist im Dienst – die ­Lizenz, alle in dieser Scheißstadt zur Hölle schicken zu dürfen. Im Dienst. Das Blut pumpte kraftvoll durch seine Adern, wohl­tuend, als bekäme er einen Ständer.

»Ace of space!«, brüllte Truls. »Ace of space!«

»Ja, wir sind die 31, wir warten hier jetzt schon seit Minuten.« Der Mann und die Frau standen hinter dem Streifenwagen, den sie direkt vor Eingang B abgestellt hatten.

»Ich hatte so einen langsamen Lastwagen vor mir, der mich einfach nicht vorbeilassen wollte«, sagte Truls und überprüfte, ob die Pistole geladen und das Magazin voll war. »Haben Sie etwas gehört?«

»Da drinnen ist es still. Es ist keiner rein- oder rausgegangen.«

»Dann los.« Truls zeigte auf den Polizisten. »Sie gehen mit mir. Nehmen Sie eine Taschenlampe mit.« Er nickte der Frau zu. »Und Sie halten hier draußen die Stellung.«

Die zwei Männer gingen auf den Eingang zu. Truls sah durch das Fenster in das dunkle Treppenhaus und drückte dann auf die Klingel der Amundsens.

»Ja?«, flüsterte eine Stimme.

»Polizei. Haben Sie etwas gehört, seit Sie uns alarmiert haben?«

»Nein, aber er kann noch immer da sein.«

»Okay. Machen Sie auf.«

Das Schloss summte, und Truls drückte die Tür auf. »Sie gehen vor und leuchten.«

Truls hörte den Polizisten schlucken. »Ich dachte, Sie hätten was von Backup gesagt, nicht Vorhut.«

»Seien Sie froh, dass Sie nicht allein sind«, flüsterte Truls. »Los, kommen Sie.«

Rakel sah zu Harry hinüber.

Zwei Morde. Ein neuer Serienmörder. Sein Fall.

Er saß da und aß, tat so, als folgte er dem Gespräch am Tisch, war höflich zu Helga und reagierte interessiert auf alles, was Oleg sagte. Vielleicht irrte sie sich, vielleicht interessierte ihn das Gespräch wirklich. Vielleicht war er doch noch nicht ganz in den Bann gezogen worden, vielleicht hatte er sich verändert.

»Waffenkontrollen werden doch sinnlos, wenn sich jeder irgendwann einen 3-D-Drucker kaufen und seine eigenen Pistolen herstellen kann«, sagte Oleg.

»Ich dachte, 3-D-Drucker könnten nur Sachen aus Plastik machen«, sagte Harry.

»Die einfachen, ja. Aber Plastik reicht ja auch vollkommen aus, wenn du dir nur eine simple Einweg-Schusswaffe bauen willst, um jemanden zu erschießen.« Oleg beugte sich voller Eifer vor. »Du musst nicht mal selbst eine Waffe haben, um sie kopieren zu können. Man kann sich für fünf Minuten eine leihen, sie auseinanderbauen und Wachsabdrücke von den Einzelteilen machen. Davon 3-D-Datenfiles erstellen und mit denen dann über den PC den Printer füttern. Nach dem Mord kannst du die Plastikwaffe dann ganz einfach einschmelzen. Und sollte die Polizei trotzdem herausfinden, dass das die Waffe war, ist sie wenigstens nicht registriert.«

»Hm. Aber die Pistole kann möglicherweise zu dem Drucker führen, mit dem sie gemacht worden ist. Bei einigen Tintenstrahldruckern kann man die Ausdrucke schon heute zu den Druckern zurückverfolgen.«

Rakel sah zu Helga, die etwas verloren dreinblickte.

»Jungs …«, sagte Rakel.

»Egal«, sagte Oleg. »Das ist echt verrückt, diese Dinger können alles. Bis jetzt sind in Norwegen gerade mal zweitausend Printer verkauft worden, aber stell dir mal vor, wie das ist, wenn jeder so ein Ding hat. Dann könnten Terroristen eine H-Bombe ausdrucken.«

»Jungs, können wir nicht über etwas Erfreulicheres reden?« Rakel fühlte sich seltsam kurzatmig. »Schließlich haben wir Besuch.«

Oleg und Rakel schauten zu Helga, die lächelnd mit den Schultern zuckte, als wollte sie sagen, dass ihr alles recht sei.

»Okay«, sagte Oleg. »Wir wär’s mit Shakespeare?«

»Hört sich schon besser an«, sagte Rakel und sah misstrauisch zu ihrem Sohn hinüber, ehe sie Helga die Kartoffeln reichte.

»Okay, dann kommen wir zu Ståle Aune und dem Othello-Syndrom«, sagte Oleg. »Ich habe noch nicht erzählt, dass Jesus und ich die ganze Vorlesung aufgenommen haben. Ich hatte ein verstecktes Mikrofon und einen Sender unter dem Hemd, und Jesus hat im Kolloquienraum gesessen und alles aufgezeichnet. Glaubst du, Ståle fände es in Ordnung, wenn wir die Aufnahme ins Netz stellen? Harry?«

Harry antwortete nicht. Rakel musterte ihn. Entfernte er sich wieder von ihnen?

»Harry?«, fragte sie.

»Das kann ich nicht beantworten«, sagte er mit Blick auf seinen Teller. »Aber warum habt ihr die Vorlesung nicht einfach mit eurem Handy aufgenommen? Vorlesungen für den privaten Gebrauch aufzuzeichnen ist ja erlaubt.«

»Sie üben«, sagte Helga.

Die anderen drehten sich zu ihr um.

»Jesus und Oleg träumen davon, undercover zu arbeiten«, sagte sie.

»Wein, Helga?« Rakel hob die Flasche an.

»Danke. Aber trinkt ihr nichts?«

»Ich habe eine Kopfschmerztablette genommen«, sagte Rakel. »Und Harry trinkt keinen Alkohol.«

»Trockener Alkoholiker«, sagte Harry. »Was eigentlich schade ist, denn dieser Wein soll wirklich gut sein.«

Rakel sah, wie Helgas Wangen sich röteten, und beeilte sich zu fragen: »Dann bringt euch Ståle was über Shakespeare bei?«

»Ja und nein«, sagte Oleg. »Das Othello-Syndrom besagt seiner Meinung nach, dass Eifersucht das Motiv für den Mord in dem Stück ist, aber das ist nicht richtig. Helga und ich haben gestern Othello gelesen …«

»Ihr habt zusammen gelesen?« Rakel legte eine Hand auf ­Harrys Arm. »Ist das nicht süß?«

Oleg verdrehte die Augen. »Wie auch immer, meine Deutung ist, dass das eigentliche, viel tiefer liegende Motiv aller Morde nicht Eifersucht, sondern Missgunst und der Ehrgeiz eines gekränkten Mannes sind. Nämlich Jagos. Othello ist nur eine Marionette. Das Stück sollte Jago heißen, nicht Othello.«

»Und du bist auch dieser Meinung, Helga?«, fragte Rakel. Sie mochte das nette, etwas anämische, wohlerzogene Mädchen, das wirklich schnell die Kurve gekriegt hatte. »Ich finde Othello als Titel passend, vielleicht gibt es gar kein tieferliegendes Motiv. Möglicherweise ist es einfach so, wie Othello es selbst sagt. Dass nämlich der Vollmond schuld ist, dass die Männer verrücktspielen.«

»No reason«, sagte Harry mit betont würdevoller Stimme und sauberer englischer Aussprache. »I just like doing things like that.«

»Beeindruckend, Harry«, sagte Rakel. »Du zitierst Shake­speare?«

»Walter Hill«, sagte Harry. »Die Warriors, 1979.«

»Yeah«, sagte Oleg lachend. »Der beste Gang-Film aller Zeiten

Rakel und Helga lachten mit. Harry hob sein Wasserglas an und sah zu Rakel hinüber. Lächelte. Lachen am gemeinsamen Tisch. Und sie dachte, dass er jetzt, in diesem Moment, wirklich hier war, hier bei ihnen. Sie versuchte, seinen Blick festzuhalten, ihn festzuhalten. Aber kaum merkbar, so wie die Farbe des Meeres sich von Grün zu Blau verändert, geschah es. Sein Blick richtete sich wieder nach innen. Und sie wusste, dass er, noch bevor das Lachen verstummt war, wieder von ihnen wegtrieb, hinein ins Dunkel.

Truls ging im Dunkeln die Treppe hoch. Geduckt, die Waffe im Anschlag, folgte er dem großgewachsenen Beamten mit der Taschenlampe. Die Stille wurde nur von einem Ticken unterbrochen, das von weiter oben kam, wie von einer Uhr. Der Lichtkegel schien die Dunkelheit vor sich herzuschieben und sie nur dichter und schwerer zu machen. Wie der Schnee, den Truls und Mikael in ihrer Jugend für ein paar Senioren in Manglerud geräumt hatten. Um anschließend einen Hunderter aus den knochigen Händen der Alten zu ziehen und zu sagen, dass sie ihnen das Wechselgeld dann vorbeibringen würden. Sollten sie gewartet haben, warteten sie noch heute.

Es knirschte unter den Schuhsohlen.

Truls packte die Jacke des Polizisten, der stehen blieb und die Taschenlampe nach unten richtete. Glasscherben glitzerten, und dazwischen sah Truls einen undeutlichen Schuhabdruck mit Absatz in etwas, das wie Blut aussah. Zu groß für eine Frau. Der Abdruck zeigte treppabwärts, Truls glaubte aber nicht, dass es weiter unten noch andere Abdrücke gab, die hätte er gesehen. Das Ticken war lauter geworden.

Truls gab dem Polizisten mit der Hand zu verstehen, dass er weiter nach oben gehen sollte. Er starrte auf die Stufen und sah jetzt deutliche Abdrücke. Dann richtete er den Blick nach vorn, blieb stehen und hob seine Waffe an. Ließ den Polizisten weitergehen. Truls hatte etwas gesehen. Etwas, das durch das Licht fiel. Glitzernd und rot. Es war kein Ticken, das sie gehört hatten, sondern das Klatschen von Blutstropfen auf die Treppenstufen.

»Leuchten Sie nach oben«, sagte er.

Der Polizist blieb stehen, drehte sich um und war sichtlich verwirrt, dass der Kollege, den er dicht hinter sich wähnte, viel weiter unten stand und nach oben Richtung Decke starrte. Aber er tat, was Truls sagte.

»Jesses«, flüsterte er.

»Amen«, sagte Truls.

An der Wand über ihnen hing eine Frau.

Ihr kariertes Kleid war so weit hochgeschoben, dass ein Teil ihres weißen Slips zu sehen war. Aus einem der Oberschenkel, etwa in Kopfhöhe des Polizisten, rann Blut aus einer großen Wunde. Es lief über das Bein in den Schuh der Frau, der bereits voll zu sein schien, weil die Tropfen sich in der Schuhspitze sammelten und von dort in eine rote Lache tropften, die sich auf einer der Stufen gebildet hatte. Die Arme waren über dem vorgeneigten Kopf nach oben gestreckt und mit Handschellen über dem Stahlarm der Lampe gefesselt. Wer immer die Frau dort auf­gehängt hatte, musste stark sein. Ihre Haare verdeckten das ­Gesicht und den Hals, weshalb Truls keine Bisswunde sehen konnte, aber die Größe der Blutlache und das langsame Tropfen verrieten ihm, dass sie ohnehin fast leer war.

Truls betrachtete sie, versuchte sich jedes noch so kleine Detail zu merken. Sie sah aus wie ein Gemälde. Den Ausdruck wollte er gebrauchen, wenn er mit Mona Daa redete. Sie hing wie ein Gemälde an der Wand.

Auf dem Treppenabsatz über ihnen wurde eine Tür einen Spaltbreit geöffnet. Ein blasses Gesicht wurde sichtbar. »Ist er weg?«

»Sieht so aus. Amundsen?«

»Ja.«

Licht strömte in den Flur, als die Tür aufging. Sie hörten einen entsetzten Aufschrei.

Ein älterer Mann stapfte heraus, während eine Frau, wahrscheinlich seine Frau, ängstlich auf der Türschwelle stehen blieb. »Das … das war der Teufel persönlich«, sagte der Mann. »Sieh nur, was er getan hat.«

»Kommen Sie bitte nicht näher«, sagte Truls. »Das ist hier ein Tatort. Hat jemand den Täter gesehen?«

»Hätten wir gewusst, dass er weg ist, wären wir ins Treppenhaus gegangen und hätten nachgeschaut, ob wir etwas tun können«, sagte der Alte. »Vom Wohnzimmerfenster aus haben wir einen Mann gesehen. Er kam aus dem Haus und ging in Richtung U-Bahn. Keine Ahnung, ob er das war. Er ging so normal.«

»Wie lange ist das her?«

»Höchstens eine Viertelstunde.«

»Wie hat er ausgesehen?«

»Tja.« Der Mann drehte sich hilfesuchend zu seiner Frau um.

»Normal.«

»Ja«, bestätigte der Mann, »weder groß noch klein. Nicht blond und nicht schwarzhaarig. Anzug.«

»Grau«, fügte die Frau hinzu.

Truls nickte dem Polizisten zu, der daraufhin etwas in das Funkgerät sprach, das an seiner Brusttasche befestigt war. »Brauchen Unterstützung im Hovseterveien 44. Verdächtiger wurde gesehen, wie er etwa vor fünfzehn Minuten zu Fuß in Richtung U-Bahn ging, zirka 1,75, möglicherweise Norweger, grauer Anzug.«

Auch Frau Amundsen schlurfte jetzt in Pantoffeln nach draußen. Sie schien noch schlechter zu Fuß zu sein als ihr Mann. Zitternd richtete sie einen Zeigefinger auf die Frau an der Wand. Sie erinnerte Truls an eine der Seniorinnen, für die er Schnee geräumt hatte. Er erhob die Stimme: »Ich wiederhole, nicht näher kommen, bitte.«

»Aber …«, begann die Frau.

»Zurück in die Wohnung! Der Tatort eines Mordes darf nicht verunreinigt werden, bevor nicht die Spurensicherung da war. Wir klingeln, wenn wir Fragen haben.«

»Aber … aber sie ist nicht tot.«

Truls drehte sich um. Im Licht der offenen Tür sah er, dass der rechte Fuß der Frau leicht zitterte, als hätte sie einen Krampf. Ein Gedanke kam ihm, ohne dass er etwas dafür konnte. Er hatte sie angesteckt. Zu einem Vampir gemacht. Und jetzt wachte sie auf.

Загрузка...