Rick Pieper sah auf seine Armbanduhr. Es war 23 Uhr 35. Wenn seine Eltern noch auf waren, würde es mächtigen Ärger geben, denn er hatte praktisch geschworen, nie später als um 23 Uhr nach Hause zu kommen. Aber es hatte länger gedauert, als sie geglaubt hatten, die Ausrüstung in den Laden zurückzubringen, und als sie endlich fertig waren, war er ziemlich sicher, dass Ken es am nächsten Morgen sofort bemerken würde, egal, was Josh Malani gesagt hatte. Na ja, wenn Ken ihnen auf die Schliche kam, musste Josh eben einen Weg finden, sie aus allem rauszuhalten. Das musste man Josh lassen - er hatte immer irgendeine Idee. Rick nahm den Fuß vom Gaspedal, um links vom Highway abzufahren, zu dem Dorf in den Zuckerrohrfeldern, wo Kioki Santoya wohnte. Er hupte Josh noch einmal zu, der mit seinem klapprigen Truck den Berg hinauffuhr.
»Soll ich dich bis ganz nach Hause fahren?« fragte Rick ein paar Minuten später, als sie die Kreuzung erreichten, wo er abbiegen musste, wenn er Kioki vor seinem Elternhaus rauslassen wollte.
Der andere Junge schüttelte den Kopf. »Dann wacht meine Mom auf. Irgendwie hört sie ein Auto aus einem Kilometer Entfernung. Laß mich einfach hier raus, den Rest gehe ich zu Fuß.«
Rick Pieper fuhr an den Graben neben der Straße. Als Kioki die Tür öffnete, fühlte er sich plötzlich komisch, auf seltsame Art benommen. Er zögerte kurz. Vielleicht sollte er Rick doch bitten, ihn bis nach Hause zu fahren. Doch das Gefühl verschwand ebenso schnell, wie es gekommen war. Kioki schlug die Wagentür zu. »Bis morgen!« rief er. Rick haute den Gang rein, und mit quietschenden Reifen und einer Staubwolke, die Kioki ins Gesicht wehte, brauste er davon. Kioki zeigte seinem Freund den Finger und begann die schmale Straße hinunterzugehen.
Er war kaum hundert Meter weit gekommen, als er wieder dieses seltsame Gefühl spürte, die Benommenheit, dann einen Druck auf der Brust. Es erinnerte ihn daran, wie er sich gefühlt hatte, als nachts die Zuckerrohrfelder abgebrannt worden waren und er vergessen hatte, sein Fenster zu schließen.
Hustend blieb er stehen und hielt nach dem Feuer Ausschau, aber er sah nichts außer den Sternen am Himmel und dem Mond, der hinter dem Horizont versank.
Außerdem roch er auch nicht die beißenden Dämpfe, die von den Feldern aufstiegen, wenn diese brannten, und hörte nicht das Knistern des brennenden Zuckerrohrs, das stets so nahe klang, auch wenn es Kilometer entfernt war.
Der Husten ließ nach, doch der Schmerz in seiner Brust wurde stärker.
Was, zum Teufel, war los mit ihm? Er war noch nie krank gewesen.
Kioki lief weiter, aber nach ein paar Metern musste er stehenbleiben. Mittlerweile schmerzte sein ganzer Körper, und sein Atem ging stoßweise.
Nach Hause.
Er musste nach Hause.
Er taumelte vorwärts, spannte alle Muskeln in seinen Beinen an, verlor das Gleichgewicht und fiel mit dem Gesicht nach vorn auf den Boden. Er versuchte sich noch mit den Händen abzustützen, aber schon schürfte ihm ein Stein die Wange auf, und eine Glasscherbe zerschnitt ihm die rechte Handfläche.
Kioki stöhnte vor Schmerzen. Er richtete sich auf und hielt sich die blutende Hand vors Gesicht.
Der Schnitt zog sich von der Daumenwurzel bis zum kleinen Finger. Die Wunde pochte.
Kioki ergriff seine rechte mit der linken Hand und rappelte sich hoch. Schwankend stand er da. Sein Herz hämmerte, und jeder Atemzug schmerzte.
Er versuchte zu laufen, aber schon erfasste ihn wieder die Benommenheit. Nach nur einem Schritt versagte sein Körper abermals den Dienst, und er stürzte erneut zu Boden. Diesmal geriet er zu nah an den Bewässerungsgraben, der neben der Straße verlief. Kraftlos rutschte er die steile Böschung hinunter und fiel in das stinkende Wasser und die kurz darunter beginnende dicke Schlammschicht.
Der Schock, als sich über ihm das Wasser schloß, schreckte Kioki für einen Augenblick auf. Er bäumte sich auf und versuchte sich am Grabenrand hochzuziehen. Mit beiden Händen grub er sich in die Erde, ohne auf den bohrenden Schmerz in seiner Hand und auf das Blut zu achten, das aus seiner Wunde rann.
Seine Beine steckten im Schlamm wie in Zement. Kioki bekam kaum noch Luft, aber schließlich gelang es ihm, seine Beine aus dem Dreck zu ziehen. Er kroch die Böschung hoch und blieb erschöpft am Straßenrand liegen.
Alles tat ihm weh.
Er starrte in den Himmel und wartete darauf, dass es aufhörte, was immer es war. Er atmete rasselnd und abgehackt.
Vor seinen Augen verschwamm alles, und sein Magen krampfte sich zusammen. Er spürte, wie Übelkeit in ihm aufstieg, und fiel auf die Seite.
Als er sich erbrach, zuckte er so heftig hin und her, dass er wieder in den Bewässerungsgraben rutschte.
Diesmal hatte er nicht mehr die Kraft, sich hochzuziehen. Mit schwachen Händen versuchte er Halt zu finden, aber der Schmerz in Brust und Magen durchbohrte ihn. Um ihn herum drehte sich alles. Aus seinem Mund schoß ein weiterer Strahl Erbrochenes.
Wenige Minuten später starb Kioki Santoya, allein in der Dunkelheit der Zuckerrohrfelder.
Noch zehn Minuten.
Katharine würde noch zehn Minuten warten - bis die Uhr an dem Kaminsims genau Mitternacht zeigte -, bevor sie mit den Telefonaten begann.
Die Nummer des Maui Memorial Hospital hatte sie bereits aufgeschrieben, außerdem die der Hauptpolizeiwache in Wailuku und der Wache in Kihei. Die Nummer von Josh Malanis Eltern hatte sie nicht gefunden.
Ein Film - Michael hatte gesagt, sie wollten sich einen Film ansehen.
Eine völlig harmlose, normale Sache.
Aber sie wusste, warum sie sich Sorgen machte - wegen Josh Malani. Obwohl sie ihn kaum kannte und sich sagte, dass es nicht angemessen war, einen sechzehnjährigen Jungen nach dem ersten Eindruck zu beurteilen, sagte ihr Instinkt, dass dieser gutaussehende Teenager, dem Michael das Leben gerettet hatte, ein gefährlicher Umgang war. Er war ihr ziemlich überdreht vorgekommen, und die Tatsache, dass er allein tauchen gegangen war, bewies, dass es ihm offenbar an Vernunft mangelte. Und wer war noch bei Michael? Ein paar Jungen aus dem Laufteam.
Jungen, deren Namen er nicht einmal erwähnt hatte.
»Hätte es irgendeinen Unterschied gemacht, wenn er dir ihre Namen gesagt hätte?« hatte Rob ungerührt gefragt, ohne damit ihre Furcht vertreiben zu können. »Dann wüßtest du auch nicht mehr über sie.«
»Aber ich könnte ihre Eltern anrufen, wenn er sich wie jetzt verspätet!« Sie saßen in einem Restaurant einander gegenüber an einem Tisch und aßen zu Abend. Rob sah sie lächelnd an. »Darüber würde er sich bestimmt mächtig freuen. Teenager finden es ganz toll, wenn ihre Mütter bei ihren Freunden anrufen und fragen, wo sie bleiben. Außerdem sind wir hier auf Maui und nicht in New York. Ihm wird schon nichts passiert sein.«
Für den Rest des Essens und während der Heimfahrt hatte sie sich bemüht, ihre Sorgen nicht zu zeigen, aber als sie allein zu Hause und Michael nach einer Stunde noch immer nicht gekommen war, rief sie Rob an. »Gib ihm wenigstens noch bis halb zwölf«, lautete sein Rat. »Wenn er dann noch nicht da ist, ruf mich wieder an, und wir überlegen, was zu tun ist. Soll ich rüberkommen?«
»Nein«, seufzte Katharine. »Ich komme schon klar. Aber trotzdem danke.«
Sie hatte alles versucht, um ruhig zu bleiben, und sich gesagt, dass Michaels Verspätung viele Gründe haben konnte.
Der Film konnte länger dauern, als er angenommen hatte, oder das Kino weiter von Makawao entfernt sein, so dass der Heimweg länger dauerte. Schließlich kannten sie beide sich auf der Insel noch nicht aus, und wenn man sie gefragt hätte, wie lange die Fahrt von ihrem Haus bis Kihei dauere, hätte sie zugeben müssen, dass sie keine Ahnung hatte.
Aber um zwanzig vor zwölf glaubte sie nicht mehr an diese Gründe, und um viertel vor hatte sich ein Horrorbild in ihrem Kopf eingenistet.
Michael, eingeklemmt in einem Autowrack. Er versuchte sich zu befreien.
Als sich das Uhrwerk mit einem leisen Knirschen darauf vorbereitete, Mitternacht zu schlagen, griff Katharine zum Telefonhörer, um das Krankenhaus anzurufen. Aber noch bevor sie die erste Zahlentaste berührt hatte, wurde die Wand gegenüber dem Vorderfenster von Scheinwerferlicht erhellt. Ein Auto kam die Auffahrt hinunter.
Die Uhr schlug zwölf. Sie zog die Hand vom Hörer weg. Als Michael durch die Vordertür trat, verwandelte sich ihre Sorge, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte, in Zorn darüber, dass er so spät nach Hause kam.
»Weißt du eigentlich, wie spät es ist?« herrschte sie ihn an, noch bevor er die Tür geschlossen hatte.
Michael blickte zur Uhr und verzog das Gesicht, als er sah, wie sehr er sich verspätet hatte. »Wir hatten völlig die Zeit vergessen«, sagte er. »Wir waren in einer Spielhalle und ...«
»In einer Spielhalle?« unterbrach Katharine ihn. »Du hast doch gesagt, ihr wolltet ins Kino.«
»Das wollten wir auch«, entgegnete Michael und versuchte sich eine glaubhafte Lüge auszudenken. »Aber der Film, den wir uns ansehen wollten, war ausverkauft. Deshalb sind wir in eine Spielhalle gegangen und haben dabei ganz die Zeit vergessen. Tut mir echt leid, Mom, ich ...«
»Warum hast du mich nicht angerufen?« fragte Katharine. »Was glaubst du, was ich mir für Sorgen gemacht habe!«
Der reuige Blick in Michaels Augen verschwand. »Mein Gott, Mom, ich bin doch nur eine Stunde zu spät! Was soll die ganze Aufregung?«
»Die ganze Aufregung, wie du es nennst, besteht darin, dass ich vor Sorge ganz krank geworden bin!« fuhr Katharine ihn an. »Was hätte dir nicht alles passiert sein können! Du hättest einen Unfall haben können oder überfallen worden sein, oder...«
»Wir sind auf Hawaii, Mom, nicht mehr in New York! Und ich bin kein Baby mehr. Sonst musste auch keiner seine Mami anrufen!«
»Vielleicht hat sonst keiner eine Mami, die sich Sorgen macht! Ich weiß ja nicht mal, mit wem du zusammen warst, außer mit Josh Malani, und ich kann nicht sagen, dass ich allzu begeistert von ihm bin.«
Die Worte seiner Mutter schnürten Michael die Kehle zu, und er spürte, dass seine Augen feucht wurden. »Ich war nur mit ein paar anderen Jungs aus dem Team zusammen, okay? Ich hab's ins Laufteam geschafft, und ich habe neue Freunde gefunden! Ich hätte gedacht, du würdest dich für mich freuen, Mom!« Als Katharine sah, wie sehr sie ihren Sohn verletzt hatte, verrauchte ihr Zorn, aber es war zu spät. »Ich bin nicht tot«, sagte er. »Und ich habe mir auch sonst nichts getan.« Er sah sie herausfordernd an. »Und jetzt gehe ich ins Bett.« Er stürmte aus ihrem Schlafzimmer in sein Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
Entnervt ließ sich Katharine auf einen Stuhl fallen. Warum hatte sie ihn nur so angeschrien? Warum hatte sie sich nicht erst seine Entschuldigung angehört, bevor sie auf ihn losgegangen war? Jetzt, da sie darüber nachdachte, was er gesagt hatte, wurde ihr klar, warum er so reagiert hatte. In New York war er nicht zuletzt deshalb immer pünktlich zu Hause gewesen, weil er die meiste Zeit allein verbracht hatte. Dafür hatte das Asthma gesorgt, aufgrund dessen er so viele Schultage versäumt hatte. Bis vor einem Jahr, als er beschlossen hatte, sich um die Aufnahme ins Leichtathletikteam zu bewerben, hatte er nie eine Clique um sich gehabt, ja kaum einmal Freunde, mit denen er länger als ein paar Wochen Kontakt hatte. Und gerade als er dabei gewesen war, sein Ziel zu erreichen, hatte sie ihn hierher geschleppt.
Aber er hatte es auch hier geschafft. Wie hatte sie ihn nur angreifen können, ohne ein Wort darüber zu verlieren, dass er am Nachmittag ins Team aufgenommen worden war? Es war sicherlich einer der schönsten Tage seines Lebens gewesen, und was hatte sie getan? Sie hatte es ihm verdorben, und das nur, weil er eine Stunde zu spät nach Hause gekommen war.
Rob hatte recht - sie hätte ihre Ängste zähmen und sich darüber freuen sollen, dass Michael zum erstenmal dazugehörte, nicht mehr der magere, um Atem ringende Junge war, der immer nur an der Seitenlinie stand.
Sie konnte sich glücklich schätzen, dass er nach der Schule überhaupt angerufen hatte, so aufgeregt musste er gewesen sein.
Katharine ging zu seinem Zimmer, klopfte sacht und öffnete die Tür einen Spalt breit. »Michael? Darf ich reinkommen?« Als sie keine Antwort bekam, sagte sie: »Ich mach' dir ein Angebot. Ich verzeihe dir, dass du dich verspätet hast, wenn du mir verzeihst, dass ich vergessen habe, dass du es heute ins Team geschafft hast. Es tut mir leid, dass ich dich angeschrien habe.«
Sie wartete und hoffte, dass er das Licht anmachen und sie hereinbitten würde, aber sie hörte nur seine Stimme aus der Dunkelheit. »Okay, Mom«, sagte er. Dann fügte er hinzu: »Bis morgen.«
Katharine zog die Tür wieder zu.
Michael lag in seinem Bett und starrte die dunkle Decke an. Hätte er ihr sagen sollen, wo er wirklich gewesen war und was er getan hatte? Aber dann hätte sie ihn sicher wieder angeschrien, und bestimmt noch lauter.
Am besten sagte er nichts.
Doch es dauerte lange, bis er endlich eingeschlafen war.
Er spürte nichts um sich herum als Kühle und Stille.
Es war dunkel, die Art von Dunkelheit, die sich um einen wickelt wie ein Leichentuch, so dass man Platzangst bekommt. Um ihn herum war alles schwarz, und er schien im Raum zu schweben.
Langsam, gerade als der Raum um ihn herum sich zu schließen begann - so langsam, dass Michael zunächst gar nicht wusste, ob es wirklich geschah -, wich die Schwärze einem silbrigen Grau.
Das Wasser!
Er war wieder im Wasser.
Wie zum Beweis schwamm ein Fisch an ihm vorbei. Ein herrlicher Fisch, mit blutroten und neonblauen Streifen und einem Grün, das so hell leuchtete, dass es ihn fast blendete.
Einen solchen Fisch hatte Michael noch nie gesehen, und er drehte sich um, um ihn genauer zu betrachten. Als spüre er sein Interesse, kreiste der Fisch langsam im Wasser, wie um sich Michael ganz bewusst zu präsentieren. Mit einer Flossenbewegung schwamm Michael auf ihn zu, aber der Fisch entfernte sich mit der gleichen Geschwindigkeit, mit der Michael sich ihm näherte.
Er verharrte.
Der Fisch verharrte ebenfalls.
Er schwamm näher heran, und diesmal zögerte der Fisch kurz, bevor er sich entfernte und sich tiefer sinken ließ.
Michael wiederholte sein Manöver noch langsamer, wobei er hoffte, dass der Fisch ihn nicht bemerken würde.
Als er sich ihm bis auf einen Meter genähert hatte, tauchte der Fisch ab und verharrte dann unter ihm, so als wolle er ihn locken.
Michael blieb, wo er war. Die Zeit schien sich zu verlangsamen, während er unter Wasser schwebte und auf den Fisch herabsah, der ebenso bewegungslos blieb wie er. Das Wasser war geisterhaft grau. Alles war stumm. Jetzt erst merkte er, dass seine Freunde nicht bei ihm waren.
Er war allein.
Langsam lockte ihn der Fisch immer tiefer. Wenn Michael zögerte, kam er etwas näher, aber kurz bevor er ihn mit den Fingern berühren konnte, wich der Fisch wieder vor ihm zurück.
Als wolle er ihn verführen.
Der Fisch bewegte sich immer tiefer ins Wasser, und Michael folgte ihm wie willenlos. Immer tiefer.
Michael sank hinab, wie verzaubert, dem leuchtend bunten Fisch hinterher. Die Zeit schien stillzustehen. Plötzlich zuckte der Fisch mit seinem Schwanz und war verschwunden.
Erschrocken blickte Michael um sich, aber er konnte den Fisch nirgends mehr sehen.
Und plötzlich bemerkte er, dass der Boden unter ihm weggebrochen schien. Kein Mondlicht drang mehr von oben ins Wasser. Die Dunkelheit war zurückgekehrt. Das Meer drückte sich um ihn herum zusammen. Das Atmen fiel ihm schwer.
Es kam ihm vor, als seien Eisenbänder um seine Brust gespannt, die sie eindrückten. Er versuchte die Fesseln zu lösen, aber ohne Erfolg.
Panik ergriff ihn. Er zerrte an den Bändern.
Atme. Atme!
Doch er konnte nicht!
Egal, was er versuchte, er bekam keine Luft mehr in seine Lunge.
Die Flaschen!
Irgend etwas war mit den Flaschen nicht in Ordnung.
Er saugte an seinem Mundstück, versuchte die Luft von der Flasche auf seinem Rücken in seine Lunge zu zwingen, aber vergeblich.
Die Flasche war leer.
Doch es gab eine Reserve. Er musste nur nach hinten greifen, den Griff betätigen und hatte für weitere zehn Minuten Luft.
Er versuchte die Hände nach hinten zu bekommen, aber seine Arme verweigerten ihm den Dienst.
Immer tiefer sank er in die Dunkelheit, in die große gähnende Leere unter ihm.
Noch immer bemühte er sich, das Notventil zu öffnen, und saugte verzweifelt an seinem Mundstück, aber seine Lunge schien sich langsam mit Wasser zu füllen.
Die Oberfläche. Er musste zurück an die Oberfläche.
Wirf den Gewichtsgürtel ab! Wirf ihn ab und zieh die Leine am CO2-Kanister. Die Weste würde sich aufblasen und ihn an die Oberfläche katapultieren.
Aber er konnte sich nicht bewegen.
Er spürte seine Finger nicht mehr.
Verzweifelt schlug er um sich und riß dabei das Mundstück heraus.
Er musste es wieder einsetzen.
Doch seine Hände gehorchten ihm nicht. Das Mundstück baumelte von den Luftschläuchen, außerhalb seiner Reichweite.
Wenn er nur den Mund nahe genug heranbrächte ...
Aber er konnte nicht einmal mehr den Kopf bewegen.
Er spürte, wie das Wasser in seine Nase drang. Er versuchte auszuatmen, aber in seiner Lunge gab es nichts mehr zum Ausatmen.
Sein Mund öffnete sich, und er versuchte zu atmen.
Wasser strömte in seinen Mund, seine Kehle hinunter, in seine bereits erstickende Lunge.
Er würde sterben.
Hier, allein, tief im Meer.
Nein!
Er musste sich irgendwie befreien.
Noch als er spürte, wie seine Lunge überflutet wurde und die Schwärze des Todes ihn zu umschließen begann, wehrte sich Michael gegen das milchige Leichentuch, das sich um ihn herum zusammenzog. Ein lauter Schrei baute sich in seiner Kehle auf.
Verzweifelt trat er um sich, sein Körper zuckte hin und her in dem vergeblichen Kampf um Befreiung. Er versuchte alle Energie zu sammeln, um noch einen Versuch zu unternehmen, bevor die Dunkelheit ihn für immer umfing.
Dann löste sich plötzlich der Schrei aus seiner Kehle.
Michael erwachte und schreckte hoch.
Er hatte sich in seine Decke verwickelt. Die Panik hatte ihn noch im Griff. Er konnte sich kaum bewegen, kaum atmen.
Dann begann er langsam zu begreifen.
Ein Traum.
Es war alles nur ein schrecklicher Traum gewesen.
Das Licht ging an und blendete ihn.
»Michael?« hörte er die Stimme seiner Mutter. »Liebling, was hast du?«
Seine Brust fühlte sich immer noch an, als wäre sie von den Bändern aus dem Traum umschnürt. Er war nicht einmal sicher, ob er sprechen konnte. Als er schließlich den Mund öffnete, konnte Katharine ihn kaum verstehen. »Ein Alptraum«, flüsterte er. »Es war furchtbar. Ich ...« Er brach den Satz ab, als ihm klar wurde, woher der Alptraum kam, was ihn ausgelöst hatte.
»Du hast so schwer geatmet«, sagte Katharine. Sie trat an das Bett und sah ihrem Sohn besorgt ins Gesicht. »Ich dachte schon, du hättest einen Anfall...«
»Nein.« Michael befreite sich aus den Laken und richtete sich auf. Er sog die frische Nachtluft so tief ein, dass er husten musste. Einen Augenblick später war der Hustenreiz jedoch wieder verschwunden. Er ließ sich auf die Kissen fallen. »Es ist alles okay, Mom«, sagte er schnell. »Es war nur ein böser Traum.«
Katharine beugte sich über ihn und küßte ihn auf die Stirn. »Bist du sicher?« Sie sah noch immer sehr besorgt aus. »Ich dachte, du hättest alles hinter dir, aber vielleicht ...«
»Aber vielleicht gar nichts«, unterbrach Michael sie. »Es geht mir gut.« Er sah auf die Uhr auf seinem Nachttisch. Es war fast fünf, und draußen war es beinahe so dunkel wie am Ende seines Alptraums. »Schlafen wir einfach weiter, okay?«
»Vielleicht hättest du doch nicht so lange fortbleiben dürfen«, sagte Katharine, legte dabei aber eine tröstende Hand auf Michaels Wange.
Michael vergrub sich in seine Kissen. »Es tut mir leid«, sagte er. »Als ich merkte, dass es später wird, hätte ich wirklich noch mal anrufen sollen.«
»Und mir tut es leid, dass ich überreagiert habe«, sagte Katharine. »Und herzlichen Glückwunsch, dass du ins Team aufgenommen worden bist. Ich bin wirklich stolz auf dich.« Zum erstenmal seit seiner Heimkehr zeigte sich ein Lächeln auf seinen Lippen. »Also, schlaf gut.« Sie gab ihm noch einen Kuß und löschte das Licht, als sie das Zimmer verließ. Doch während sie in ihr eigenes Zimmer ging, verließ sie die Sorge um ihn nicht. Hatte ihn wirklich nur ein Alptraum aufgeweckt? Oder war es der Anfang einer neuen Attacke der Krankheit, die sie beide für besiegt gehalten hatten?
Sie ging wieder ins Bett, konnte aber lange nicht einschlafen. Statt dessen lauschte sie und betete stumm, nicht das scharrende Geräusch asthmatischer Lungen zu hören, die krampfhaft versuchen, sich mit Luft zu füllen.
Michael lag nicht in seinem Bett.
Er stand am offenen Fenster und atmete die kühle Nachtluft ein. Er wollte dieses schreckliche Erstickungsgefühl abstreifen, das er im Traum verspürt hatte.
Denn selbst jetzt, da er hellwach war, konnte er es nicht ganz loswerden, konnte nicht richtig Atem holen.