KAPITEL 2

Als die 747 bei ihrem Anflug auf Honolulu langsam tiefer ging, schreckte Pedro Santiago hoch. Er hatte nicht vorgehabt, während des Fluges zu schlafen. Seit ihm der verschlossene Louis-Vitton-Kosmetikkoffer von dem Mann in Manila übergeben worden war, hatte er fest vorgehabt, während der Reise nach Hawaii äußerst wachsam zu bleiben. Eigentlich hatte er ja auch nicht richtig geschlafen, sagte er sich. Vielleicht hatte er die Augen geschlossen, und vielleicht hatte er sich in dem Zustand äußerster Entspannung befunden, der fast noch erfrischender als Schlaf ist, aber er hatte die ganze Zeit mitbekommen, was um ihn herum geschah.

Er hatte gehört, wie die Frau auf der anderen Seite des Mittelgangs einen dritten Mai-Tai bestellt hatte, dann einen vierten und vor ein paar Minuten einen fünften.

Er hatte den Mann in der Reihe vor sich schnarchen hören.

Er hatte seine Füße auf den Kosmetikkoffer gestellt, den er unter den Sitz vor ihm geschoben hatte, so dass der schnarchende Mann ihn von vorn ebenso gut bewachte wie er selbst von seiner Seite.

Für die Reise hatte er zwei Tickets erster Klasse gekauft, weil er keine Lust hatte, sich während des Fluges mit fremden Leuten zu unterhalten, vor allem aber, weil ein leerer Sitz neben ihm eine weitere Pufferzone in seinem ausgeklügelt diskreten Sicherheitssystem darstellte.

Wenn jemand neben ihm saß - ein Mann oder sicherlich auch eine Frau -, der oder die besonders clever war, dann mochte es der betreffenden Person vielleicht gelingen, ihn in falsche Sicherheit zu wiegen, um ihn dann ...

Ja, was eigentlich?

Zu töten?

Vielleicht. Solche Dinge waren schon passiert. In den letzten beiden Jahren waren zwei Mitglieder seiner Bruderschaft gestorben, angeblich an Herzattacken, die sie während eines Fluges erlitten hatten. Niemand außer ihren Mördern hatte etwas bemerkt, bis das Flugzeug zur Landung ansetzte. Gift konnte man auf viele verschiedene Arten verabreichen.

Ein Drink, den die Stewardeß im Gang zubereitet und der für kurze Zeit unbeobachtet bleibt, als ein überfreundlicher Fluggast sie anspricht.

Eine winzige Nadel, geschickt in den Nacken gestoßen von einem Passagier, der auf dem Weg zur Toilette ins Straucheln gerät.

Pedro Santiago buchte nur Fensterplätze und trank nur aus Behältern, die er selbst mit an Bord gebracht hatte.

Aber sein Instinkt sagte ihm, dass dieser Teil der Reise sowieso keine Probleme verursachen würde. Wenn überhaupt Gefahr lauerte, dann auf der Rückfahrt, nachdem er seine Ware abgeliefert und seinen Lohn kassiert hatte.

Er hob die Jalousie an und sah in den hellen Morgen hinaus. Weit unter ihm, durchbrochen nur von den Gipfeln der drei großen Vulkane, verbarg eine dichte Wolkendecke das Meer. Pedro blieb unbeeindruckt. Die Schönheit Hawaiis interessierte ihn nicht. Als die kurz bevorstehende Landung über die Sprechanlage angekündigt wurde, hob Santiago den Kosmetikkoffer auf und nahm ihn auf den Schoß.

»Handgepäck muss unter dem Sitz vor Ihnen oder in der Gepäckablage verstaut werden, Mr. Santiago«, ermahnte ihn die Stewardeß, als sie mit dem letzten Tablett voll leerer Gläser an ihm vorbeikam.

Er lächelte, nickte und stellte den Koffer wieder unter den Sitz.

Das Flugzeug landete, wurde langsamer und steuerte auf das Gate zu.

Pedro Santiago verließ das Flugzeug über die Gangway und betrat den Zollbereich. Er ignorierte das Schild, das ihn zur Kontrolle wies.

Eines hatte er in seiner ganzen Profikarriere nie getan: Er hatte nie versucht, eine Lieferung an einem Zollbeamten vorbei ins Land zu bringen. So etwas war den Packeseln vorbehalten - den dummen Collegestudenten, die viele Jahre Gefängnis riskierten, und zwar für weniger Geld, als er an einem Abend mit einer Amsterdamer Hure ausgab.

Während die anderen Fluggäste zur Zollkontrolle strömten, ging Santiago auf einen Mann in blauer Uniform zu, der ein paar Meter neben dem Arrival-Gate stand. »Könnte es sein, dass Sie auf mich warten?« fragte er in einem Englisch, das ebenso akzentfrei wie sein Spanisch, Portugiesisch und Türkisch war.

»Möglicherweise, Mr. ...« Der Mann beendete den Satz nicht.

»Jennings«, ergänzte Santiago. Es handelt sich um den unschuldig klingenden Code, den er bei den Verhandlungen um die Übergabe des Koffers vereinbart hatte.

»Wenn Sie mir folgen wollen.«

Der Mann in Uniform führte Santiago zu einer verschlossenen Tür, tippte eine Reihe von Zahlen in einem Nummernfeld ein und hielt dem Kurier schließlich die Tür auf, damit dieser vor ihm hindurchgehen konnte.

Am Ende einer kurzen Treppe wartete ein elektrischer Golfkarren auf sie. Der Mann in der blauen Uniform fuhr sie zu einem Hubschrauber, der vierhundert Meter entfernt auf seinem Landeplatz stand. Der Mann stieg aus, und Santiago folgte ihm in den Helikopter, schloß die Tür und schnallte sich auf einem Sitz an. Ein oder zwei Sekunden lang ächzte die Maschine, dann sprang sie fauchend an. Über ihnen begannen sich die riesigen Rotorblätter zu drehen.

Der Pilot drehte den Motor auf, die Rotoren wurden beschleunigt, und der Hubschrauber stieg auf, neigte sich leicht nach vorn und flog über das Feld davon. In geringer Höhe ging es aufs Meer hinaus. Dann änderte der Pilot leicht den Kurs, folgte kurz der Küste nach Honolulu, um dann nach Südost abzudrehen, auf Molokai und Maui zu.

Vierzig Minuten später spähte Pedro Santiago durch die Plexiglaskuppel hinab, während der Helikopter über die zerklüftete Südwestküste Mauis hinwegflog und die dunkelblaue Meeresfläche plötzlich dem undurchdringlichen grünen Dach des Regenwaldes wich. Der Helikopter ging herunter, bis es Santiago so vorkam, als würde er gleich die Baumgipfel berühren. Dann teilten sich die Bäume und gaben eine Lichtung frei, auf der mehrere Häuser mit grünen Dächern standen. Wäre der Hubschrauber nicht so niedrig geflogen, hätte man die Ansiedlung aus der Luft kaum bemerkt.

Schnell und geschickt landete der Pilot auf einem Rasenstück, das von Gebäuden umgeben war. Als Santiago seinen Gurt löste und die Tür neben sich öffnete, trat ein Mann aus einem der Gebäude, kam jedoch nicht auf den Hubschrauber zu.

Santiago erkannte in dem Mann sofort seinen Auftraggeber, auch wenn er ihn nie zuvor gesehen hatte. Er zog den Kopf ein, als er unter dem Luftwirbel der Rotorblätter über den Rasen lief. Den Louis-Vitton-Koffer hielt er mit beiden Händen fest.

»Mister ... Jennings«, sagte der wartende Mann und zögerte vor dem Codenamen lange genug, um Santiago merken zu lassen, wie lächerlich er ihn fand. Santiago war es egal. Falschen Namen verdankte er, dass er immer noch lebte und ein fettes Bankkonto in der Schweiz besaß, von dem fast alle Männer, die in den Slums von Sao Paulo geboren waren, nur träumen konnten. Er nickte kurz, folgte dem Mann in das Haus und einen Flur entlang in ein kleines fensterloses Zimmer, in dem nur ein kleiner Tisch stand, darauf ein ebensolcher Koffer, wie Santiago ihn trug.

Der Mann deutete auf den Tisch, und Santiago stellte den Koffer darauf ab. Dann öffnete er das Schloß des Duplikats und hob den Deckel. Obwohl er sicher war, dass die ganze Summe vorhanden war, nahm er sich die Zeit, das Geld zu zählen.

Es handelte sich um Fünfzig-Dollar-Scheine, wie er es verlangt hatte.

Es interessierte ihn nicht besonders, ob die Seriennummern fortlaufend waren oder nicht, aber als er zu zählen begann, merkte er, dass dies nicht der Fall war.

Mit wem auch immer er es hier zu tun hatte, der Betreffende wusste offenbar, was er tat.

Als er das Geld gezahlt hatte, schaute er auf. »Zweihunderttausend.«

»Wie vereinbart«, bestätigte der Mann.

Pedro Santiago verstaute das Geld wieder im Kosmetikkoffer, änderte die Kombination und ließ die Schlösser zuschnappen. »Dann wäre das erledigt.«

Der Mann nickte und streckte die Hand aus. Santiago ignorierte die Geste und ging durch die einzige Tür wieder auf den Flur hinaus. Der Mann schien das zu akzeptieren und begleitete Santiago zum wartenden Hubschrauber. Er wartete, während der Kurier einstieg und sich anschnallte. Als die Maschine sich erhob und wieder aufs Meer zuflog, stand der Mann noch immer vor dem Haus.

Kaum war er aus Pedro Santiagos Blickfeld verschwunden, dachte der Kurier bereits an seinen nächsten Job in Südafrika.

Diese Sache würde sicherlich um einiges interessanter werden als dieser langweilige Deal.

Nachdem der Hubschrauber am grünen Horizont des Regenwaldes verschwunden war, kehrte der Mann in das Gebäude zurück und machte die Tür hinter sich zu. Er ging wieder in das Zimmer, wo er die Transaktion mit dem Kurier getätigt hatte, den er nur als »Mr. Jennings« kannte. Nachdem er die Tür abgeschlossen hatte, öffnete er den Kosmetikkoffer.

Als er den Deckel hob, zitterten seine Hände ein wenig.

Im Koffer lag nur ein einziges Objekt.

Ein Totenschädel.

Die leeren Augen starrten ihn an.

Die kleine Alarmglocke in Pedro Santiagos Kopf begann zu läuten. Seine Nackenhaare sträubten sich. Gefahr!

Der Hubschrauber war sieben Kilometer von der Küste Mauis entfernt, und auch wenn er nicht wusste, was diesen inneren Alarm ausgelöst hatte, spürte er doch, dass sich irgend etwas in der Kabine verändert hatte. War etwas mit dem Piloten ?

Er war sich nicht sicher.

Ohne sich anmerken zu lassen, wie angespannt er war, sah er aus den Augenwinkeln zu dem Piloten hinüber, aber der Mann blickte starr geradeaus und schien glatt vergessen zu haben, dass er einen Passagier an Bord hatte.

Oder suchte er nach etwas?

Santiago wandte sich ebenfalls nach vorne und ließ seinen Blick über das Panorama von See und Inseln schweifen. Auf dem Ozean schwammen ein paar Boote, und bis auf ein einsames Flugzeug in der Ferne war der Himmel leer.

Aber Pedro Santiagos innere Alarmglocke schrillte immer lauter.

Er erstarrte förmlich, obwohl er immer noch nicht wusste, worin die Gefahr bestand und aus welcher Richtung sie kam.

Wieder sah er den Piloten an, und diesmal bemerkte er, wie angespannt der Mann auf seinem Sitz saß. Er hatte die Augen zusammengekniffen und umklammerte den Steuerknüppel des Hubschraubers.

Plötzlich wurde das Flackern einer Bewegung im runden Plexiglas reflektiert, so schnell und verzerrt, dass Santiago es fast nicht mitbekommen hätte. Aber dann wusste er Bescheid.

Hinter ihm!

Jemand war hinter ihm.

Doch es war bereits zu spät. Pedro Santiago wollte sich gerade umdrehen, als der Mann, der während des Aufenthalts auf der Lichtung in den Hubschrauber geklettert war und sich dort versteckt hatte, mit einer Hand die Tür neben Santiago aufriß und mit der anderen seinen Sicherheitsgurt löste.

Im gleichen Augenblick riß der Pilot seinen Steuerknüppel herum, und der Hubschrauber neigte sich steil nach rechts.

Noch bevor er ganz begriffen hatte, was geschah, raste Pedro Santiago in freiem Fall auf das Meer zu, das hundert Meter unter ihm leuchtete.

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