Katharine war ernsthaft böse mit sich. Die Knochen des mittlerweile vollständig freigelegten Skeletts lagen vor ihr, in genau der gleichen Position, in der es gefunden worden war. Sie hatte ein paar davon bewegen müssen, um sie von Sedimenten zu befreien, aber neben den unzähligen 35-Millimeter-Aufnahmen, die sie gemacht hatte, existierten auch noch Dutzende Polaroids - eine vollständige fotografische Dokumentation der Ausgrabungsstelle und eine unersetzliche Hilfe bei der Rekonstruktion des Skeletts. Jetzt blickte sie auf die Knochen herab, und ihre Ungeduld mit sich selbst wuchs.
Sie hätte wissen müssen, was sie da betrachtete.
Eigentlich hätte sie schon vor Tagen wissen müssen, was sie da ausgrub, sofort nachdem Kopf und Kiefer freigelegt waren. Aber egal, welche Möglichkeiten sie in Betracht zog, immer stimmte irgend etwas nicht: Der Schädel war nicht breit genug, der Kiefer stand zu weit vor, oder die Zähne zeigten die falsche Konfiguration. Hier steckte der Teufel eindeutig im Detail, denn es waren die Einzelheiten, die nicht zusammenpaßten.
»Und - weißt du nun, was es ist?« fragte Rob Silver. Er war aus dem Regenwald gekommen und hatte sich neben sie gestellt.
»Ich bin absolut sicher, dass es kein Anthropoide ist«, antwortete sie und bemühte sich, gelassen zu wirken, ohne Rob wirklich täuschen zu können. »Und ich bin ziemlich sicher, dass er an einem Schlag auf den Kopf gestorben ist.«
Rob kniete sich nieder. »Darf ich ihn anfassen?«
»Bedien dich«, sagte Katharine und kauerte sich neben ihn. »Ich muss dir leider sagen, dass ich momentan das Gefühl habe, dass du eine Menge von Takeo Yoshiharas Geld an mich verschwendest. Entweder das, oder ich sehe den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr.«
»Geh nicht so streng mit dir ins Gericht«, entgegnete Rob. »Wenn es etwas Einfaches gewesen wäre, hätte ich dich schließlich nicht gebraucht, oder?« Er hielt den Schädel hoch, drehte ihn und steckte den Finger durch das Loch im linken Scheitelbein. »Wie ist das entstanden?«
Dessen zumindest war sie sich sicher. »Ein Speer. In Afrika habe ich diese Art von Wunden an Hunderten von Schädeln gesehen. An der Lage des Skeletts kann man außerdem erkennen, dass der Körper bewegt worden ist. Nach der tödlichen Kopfverletzung.«
»Ich kann das nicht erkennen«, sagte Rob. »Erklär's mir, bitte.«
»Erstens liegt das Skelett auf dem Rücken. Angenommen, es hätte jemand einen Speer geworfen, der dieses Wesen tötete, dann würde es anders liegen.«
»Den Speer hat jemand herausgezogen?«
Katharine nickte. »Und irgend jemand hat die Leiche in diese Position gelegt. Sieh dir die Arme an. Sie liegen nicht einfach an den Seiten.« Mit dem Zeigefinger fuhr sie den rechten Oberarm entlang, der parallel zur Wirbelsäule lag. Am Ellenbogen knickte der Arm ab, und seine untere Hälfte ragte in Richtung Becken. Die Knochen der linken Hand lagen spiegelverkehrt zu denen der rechten, und die kleinen Knochen, aus denen Hand und Finger bestanden, lagen aufeinanderge-häuft, als wäre die eine Hand auf die andere gelegt worden.
»Als wäre es begraben worden«, meinte Rob.
»Genau.«
»Sieht aus, als hätten wir es mit einem Mordfall zu tun«, sagte Rob und legte den Schädel vorsichtig in genau die Position, in der er geruht hatte. »Jemand hat diesen Burschen getötet, und dann hat ihn seine Familie hierher gebracht und bestattet.«
Katharine schüttelte den Kopf. »Leider ergibt das keinen Sinn. Zunächst einmal wurde er nicht begraben. Alles, was ich von dem Skelett entfernt habe, waren natürliche Überreste, die sich im Regenwald in Windeseile ansammeln. Ich finde nicht ein einziges Anzeichen für eine Bestattung. Hingelegt und liegengelassen - das sieht den Hawaiianern doch keineswegs ähnlich, oder?«
»Auf keinen Fall. Sie haben großen Respekt vor ihren Toten. Die Grabstätten sind heilig, egal, wie alt sie sind. Und jede Leiche ist beerdigt worden.«
»Was ist dann hier passiert?«
»Derjenige, der ihn getötet hat, hat diesen Kerl so hingelegt und ist weggegangen.«
»Vielleicht.« Katharine richtete sich auf, hielt den Blick jedoch auf das Skelett gerichtet. »Aber das ist nicht mein größtes Problem.« Rob sah zu ihr hoch. »Mein Problem ist, dass ich nicht einmal weiß, worum es sich handelt.«
»Aber es ist doch ein Mensch, oder?« fragte Rob.
»Nicht nach dem, was ich von Menschen weiß«, entgegnete Katharine. »Es ist kaum einen Meter zwanzig groß, und das ist ein bißchen wenig für einen erwachsenen Homo sapiens.«
»Vielleicht ist es ein Kind?«
»Der Schädel sieht nicht aus wie der eines Kindes, er ist voll entwickelt.« Sie kniete sich wieder hin und fuhr mit dem Finger über die Grenzen zwischen Schläfenbein und Hinterhauptbein. »Siehst du? Die Knochen sind vollkommen zusammengewachsen, es ist also der Kopf eines Erwachsenen. Aber das Skelett ist nicht größer als das eines Sechsjährigen. Und sieh dir die Stirn an - viel zu gewölbt für einen Homo sapiens. Mit dem Unterkiefer stimmt auch irgendwas nicht.«
»Dann ist es vielleicht doch ein Primat?« schlug Rob vor.
Katharine sah ihn mitleidig an. »Es gibt keine Primaten auf diesen Inseln, und es hat auch nie welche gegeben, außer im Zoo in Honolulu. Und wer würde schon einem Schimpansen oder Gorilla die Hände falten?«
Rob kaute nachdenklich auf der Unterlippe. »Wenn es ein Haustier war ...«
»Ich bitte dich!« Katharines Ungeduld mit sich selbst schloß langsam auch Rob ein. »Ich habe selbst das in Erwägung gezogen, aber das ist Unsinn.«
»Was ist es dann?« Rob zog es vor, ihre schlechte Laune zu ignorieren. »Komm schon, du hast doch bestimmt irgendeine Idee.«
Katharine atmete kräftig aus. »Also gut«, sagte sie. »Da wir unter uns sind, will ich es dir verraten. Aber du musst mir versprechen, nicht zu lachen.« Rob zog die Brauen hoch, versprach aber nichts, und Katharine gab sich damit zufrieden. »Es sieht nach etwas aus, das unmöglich ist. Du wirst sowenig daran glauben können wie ich.«
»Teste mich«, sagte Rob.
»Es ist ein Urmensch«, sagte Katharine.
Rob schüttelte den Kopf. »Du hast recht. Das ist unmöglich. Abgesehen von der Tatsache, dass es hier so etwas wie den Urmenschen nie gegeben hat - diese Inseln existierten noch nicht einmal, als der Urmensch auf dem Planeten herumlief. Selbst wenn es Maui gegeben haben sollte - was ich stark bezweifle -, dann gewiß nicht diesen Teil davon. Dies ist eine vulkanische Insel, Kath, sie besteht aus mehreren Lavaschichten. Ich wette, dass die Schicht, auf der wir stehen, nicht älter als zweitausend Jahre ist, eher viel jünger.«
»Ich habe ja gesagt, dass ich selbst nicht dran glaube«, sagte Katharine. »Und ich kann noch ein halbes Dutzend anderer Gründe hinzufügen, warum es unmöglich ist, angefangen damit, dass jede Spezies des Urmenschen, die ich bislang gesehen habe - und ich meine wirklich jede -, ein Fossil war. Und diese Knochen, das ist dir sicher aufgefallen, sind keine Fossilien. Sie sehen aus, als wären sie nicht älter als hundert Jahre, wenn überhaupt.«
»Was liegt dann hier vor uns?« fragte Rob erneut.
»Ich wünschte, ich wüßte es«, seufzte Katharine. »Ich brauchte einen Computer, um im Internet ein paar Punkte zu überprüfen.«
»Nun, zumindest das ist kein Problem«, sagte Rob. »Komm mit.«
Das komische Gefühl setzte ein, als Michael den Umkleideraum verließ und aufs Feld lief, wo der Sportunterricht beginnen sollte. Es war seine vierte Stunde. Zuerst nahm er es gar nicht richtig wahr, aber als er zum anderen Ende des Footballfeldes lief, wo sich seine Klasse für die Aufwärmübungen versammelte, spürte er es deutlich. Es war wie letzte Nacht, als er aus seinem Alptraum erwacht war und sich gefühlt hatte, als wäre da etwas in seiner Lunge, das ihn nicht richtig atmen ließ, das seine Lunge hinderte, sich mit Luft zu füllen.
Asthma.
Aber kaum hatte er daran gedacht, als er den Gedanken auch schon wieder verwarf.
Es fühlte sich nicht an wie Asthma, und außerdem hatte er diese Krankheit überwunden - er hatte seit Monaten keinen Anfall mehr gehabt.
Ignorieren, sagte er sich, dann geht es schon weg.
Er kam gerade noch rechtzeitig zu den herumstehenden Jungen. Der Lehrer rief seinen Namen, Michael antwortete »hier« und ließ sich auf den Boden fallen, um die zehn Liegestützen zu absolvieren, mit denen die Leichtathletikstunde stets begann. Die Jungen waren auffällig schweigsam, und jeder wusste, warum.
Kioki Santoya.
Den ganzen Morgen über hatten fremde Leute ihn gefragt, ob ihm gestern etwas an Kioki aufgefallen sei. Was konnte er antworten? Er hatte Kioki ja kaum gekannt - er hatte sogar jetzt Schwierigkeiten, sich an seinen Nachnamen zu erinnern. Während er seine Liegestützen machte, spürte er, wie die anderen Jungen ihn beobachteten und sich vielleicht fragten, ob er etwas verschwieg. Das komische Gefühl in seiner Brust verschwand nicht, aber er schaffte die Übung und fühlte sich danach nicht viel schlechter. Zusammen mit den anderen stand er auf und machte Hampelmänner. Nach fünfundzwanzig fing Michael an zu schwitzen und spürte, wie sich seine Muskeln erwärmten.
»Okay!« rief der Lehrer. »Auf der Stelle laufen!«
Michael ließ die Arme auf die Seite fallen und hob die Knie mit jedem Schritt sehr hoch. Seine Beine bewegten sich wie Kolben. Es war eine seiner Lieblingsübungen, denn in den langen Monaten, in denen sich seine Lunge aufgebaut hatte, waren auch seine Beine kräftiger geworden. Ihre Stärke war für ihn fast eine Art Barometer geworden, ein Beweis dafür, dass sein ganzer Körper mit jeder Woche kräftiger wurde und sich für immer von der schrecklichen Krankheit befreite.
Doch heute begannen seine Beinmuskeln schon nach wenigen Metern zu brennen. Aber das war unmöglich - er hatte sich doch gerade erst aufgewärmt! So würde er kaum eine einzige Runde schaffen.
»Okay, es geht los!« rief der Lehrer. »Eine Runde, und die ersten beiden können die Softballteams aufstellen.«
Die Klasse lief auf die Viertelmeilenbahn, die um das Footballfeld führte. Zwei Jungen - Zack Cater aus Michaels Englischklasse und jemand, dessen Namen Sky oder so lautete und der in seiner Straße wohnte - übernahmen die Führung. Michael wusste sofort, dass er gegen sie keine Chance hatte. Auf den ersten hundert Metern würde er zwar schnell genug sein, um sie zu überholen, aber nach den zweiten hundert würde er bereits zurückliegen. Er hätte seine Energie im Sprint verbraucht und würde mit den letzten der Klasse ins Ziel kommen.
Ziemlich peinlich für jemanden, der gerade gestern ins Laufteam aufgenommen worden war.
Und dazu würde sicherlich noch die Erniedrigung kommen, dass Zack und Sky ihn erst als allerletzten für die Baseballteams auswählen würden.
Es war besser, sich das Tempo einzuteilen und irgendwo im Mittelfeld ins Ziel kommen.
Er sah über die Schulter. Hinter ihm liefen nur noch zwei Jungen. Michael erhöhte sein Tempo etwas, überholte leicht drei Läufer und schloß zu zwei weiteren auf. Als er auch diese beiden hinter sich gelassen hatte, ließ er sich in einen gleichmäßigen Schritt fallen, der ihn leicht um die Kurve und durch die Gegengerade tragen sollte.
Doch das seltsame Gefühl in seiner Brust wurde schlimmer, und seine Beinmuskeln brannten so heftig, dass er fürchten musste, gleich einen Krampf zu bekommen.
Gestern war er doch eine ganze Runde gelaufen und hatte dann noch Jeff Kina im Sprint geschlagen. Was, zum Teufel, war nur los?
Erneut, wie schon so oft an diesem Morgen, wanderten seine Gedanken zur Tauchpartie zurück.
Aber er dachte nicht nur an das Tauchen. Er dachte auch an den langen Weg durch die Lava, wo er bei jedem Schritt fast gestolpert wäre.
Und an den Streit mit seiner Mutter und die Stunden, die er schlaflos verbracht hatte. Was erwartete er denn? Sein Körper bestrafte ihn lediglich für letzte Nacht.
Ihm kam ein seltsamer Gedanke: Hatte Kioki Santoya vielleicht das gleiche gehabt wie er? Wenn sie nicht tauchen gegangen wären, wenn sie wie geplant einen Film angesehen hätten und früh nach Hause gekommen wären, wäre Kioki dann noch am Leben?
Aber dann verwarf er diese Idee. Es hätte keinen Unterschied gemacht, wenn sie gestern abend etwas anderes unternommen hätten. Was mit Kioki passiert war ... war eben passiert.
Was ihn selbst betraf - er war den weiten Weg zum Strand gegangen, er hatte getaucht und zuwenig geschlafen. Na schön, dafür musste er heute büßen. Aber als letzter wollte er trotzdem nicht ins Ziel kommen.
Er nahm sich vor, die Schmerzen in Brust und Beinen zu ignorieren, und hielt während der Kurve sein Tempo. Als er in die Gegengerade einbog, tauchte einer der Jungen, die er überholt hatte, rechts neben ihm auf.
»Ich dachte, du wärst eine ganz große Nummer«, sagte der Junge. Lachend zog er an Michael vorbei und wirbelte dabei absichtlich eine gräuliche Staubwolke auf.
Michael wandte den Kopf ab, doch trotzdem atmete er eine Handvoll Staub ein und wappnete sich bereits gegen den sicherlich folgenden Husten. Aber dann war er durch die Wolke hindurchgelaufen und merkte, dass er schneller wurde.
Er hatte recht gehabt! Er hatte sich nur durchbeißen müssen. Seine Beine fühlten sich etwas besser an, und das Atmen fiel ihm wieder leichter. Sofort hatte er den Jungen wieder eingeholt und verfolgte ihn. Auch wenn ihm der Staub, den der andere aufwirbelte, in die Augen stach, spürte Michael, wie sein Kräfte zurückkehrten. Als sie in die letzte Kurve bogen, zog er an dem Jungen vorbei.
Jetzt war die Ziellinie nur noch wenige Meter entfernt. Michael lenkte all seine Energie in den letzten Sprint. Er überholte noch einen weiteren Läufer, bevor er die Ziellinie überquerte. Plötzlich spürte er wieder die Schmerzen in Brust und Beinen. Als er auslief und zu den anderen gehen wollte, sah er, dass der Sportlehrer ihn beobachtet hatte.
»Was ist mit dir los, Sundquist?« fragte er. »Jack Peters hat mir erzählt, wie gut du gestern nachmittag gewesen wärst, aber davon sehe ich nichts. Fühlst du dich nicht wohl?«
Michael zögerte. Sollte er dem Lehrer von dem komischen Gefühl in der Brust berichten? Oder dem Feuer in seinen Beinen? Dann würde der Sportlehrer bestimmt das gleiche machen, was alle Sportlehrer in New York auch gemacht hatten - ihn zur Krankenstation schicken.
Damit wollte er auf keinen Fall wieder anfangen.
»Ich bin okay«, antwortete er. »Bin gestern nur zu lange aufgeblieben, das ist alles.«
»Laß das ja nicht Peters hören, okay?« mahnte der Lehrer. »Wenn du im Team bleiben willst, musst du auf deine Form achten, verstanden?«
»Verstanden«, wiederholte Michael und dachte stumm über das Gesetz nach, das besagte, dass Sportlehrer Idioten waren. Er wollte sich gerade abwenden, als der Lehrer noch etwas sagte. Hatte er seine Gedanken gelesen?
»Dann lauf noch ein paar Runden. Und dabei denkst du bitte über den Wert ausreichenden Schlafes nach.«
Während der Rest der Klasse in zwei Baseballteams aufgeteilt wurde, begab sich Michael wieder auf die Bahn.
Kaum hatte er angefangen zu laufen, als der Schmerz wieder in seinem Körper brannte. Er schwor sich, nicht aufzugeben, egal wie schlimm es werden würde.
Er hatte es so weit gebracht, er war ins Laufteam aufgenommen worden, und egal, woher das komische Gefühl in seiner Brust kam, er würde es überwinden.
Und wenn er dabei sterben sollte.