KAPITEL 11

Bewundernd musterte Katharine Rob Silvers Büro auf dem Anwesen von Takeo Yoshihara. Es befand sich in einem der Pavillons, die auf dem Gelände verstreut standen. Katharine nahm an, dass es ursprünglich als Gästehaus gedient hatte. Es gab zwei große, helle Räume mit Fenstern zum Garten, die durch einen Wandschrank und das Bad getrennt waren. In dem Raum, der wahrscheinlich früher als Wohnzimmer gedient hatte, standen nun Aktenschränke und ein Schreibtisch, in dem ehemaligen Schlafzimmer dagegen mehrere Tische, auf denen Fotos, Zeichnungen und sogar einige Modelle traditioneller polynesischer Gebäude zu sehen waren. Das ganze sah nach einem heillosen Durcheinander aus, und Katharine hoffte, dass wenigstens Rob sich darin zurechtfand. Er hatte mindestens achtmal so viel Platz wie sie in ihrem Büro im New Yorker Museum. Offensichtlich stattete ihn Takeo Yoshihara mit allem aus, was er brauchte. An einer Wand des größeren Zimmers stand ein Tisch mit Robs Computer, Druckern, einem Scanner und ein paar anderen Geräten, deren Zweck Katharine hätte raten müssen.

»Kannst du eine Online-Verbindung herstellen?« fragte sie. »Ich möchte mit einigen Unterlagen im Museum beginnen. Ich erinnere mich an etwas, das unserem Schädel ähnlich sieht.«

»Ich habe eine bessere Idee«, sagte Rob. »Gib mir mal bitte die Polaroids.«

Mit fragendem Blick holte Katharine die Fotos von dem Schädel aus ihrer Tasche und sah dann zu, wie Rob sie auf das Scannerbett schob und ein Programm aufrief, mit dem er die Bilder bearbeiten konnte. In rascher Abfolge tippte er Befehle ein und klickte mit der Maus. Ein paar Minuten später erschienen auf dem Bildschirm acht verschiedene Ansichten des Schädels aus dem Regenwald. Jedes Bild zeigte ihn aus einem anderen Winkel.

Sechs weitere zeigten den Kiefer.

Rob erhob sich. »Jetzt musst du ein paar unverwechselbare Eigenschaften aussuchen, etwas, das dir helfen würde, wenn du ähnliche Schädel und Kiefer suchen müsstest.«

Katharine setzte sich auf seinen Stuhl und machte sich mit dem Programm vertraut. Bald war sie in der Lage, die einzelnen Bilder zu zoomen. Fünf Minuten später hatte sie eine Auswahl getroffen, und Rob zeigte ihr, wie man die kleinen Felder, die sie mit dem Cursor umrissen hatte, kopierte, so dass sie wie Teile eines Puzzles auf dem leeren Bildschirm erschienen. »Aber das sind nur Fragmente«, wandte Katharine ein. »Selbst wenn du sie alle zusammensetzt, hast du keinen vollständigen Schädel.«

»Willst du wetten?« fragte Rob grinsend. Offenbar würde sie diese Wette verlieren. »Wir sagen dem Computer, dass er grafische Entsprechungen für diese Teile suchen soll«, erklärte er. »Ich durchkämme jede Datenbank im Internet und ...«

»Bist du verrückt?« entfuhr es Katharine. »Das dauert Monate!«

»Vielleicht in deinem Museum«, entgegnete Rob gelassen. »Aber dieser Computer hier ist mit einem der beiden leistungsstärksten Rechner der Welt verbunden.«

»Du machst Witze«, sagte Katharine, aber sein zufriedenes Lächeln bewies das Gegenteil.

»Der Großrechner wurde installiert, um die Datenmasse vom Teleskop oben auf dem Berg zu bewältigen«, erklärte Rob, während er eine Reihe von Befehlen eingab, um Katharines Suche nach einer Entsprechung des ausgegrabenen Schädels einzuleiten. »Die Air Force führt dort oben ein Großprojekt durch, mit dem sie Spionagesatelliten, Raummüll, Asteroiden und was weiß ich noch alles orten können.«

Er drückte die Eingabetaste. Für eine Sekunde wurde der Bildschirm schwarz, und dann baute sich so schnell Text auf, dass Katharine gar nicht mehr mitkam. Rob drückte die Pause-Taste, und das Bild wurde gestoppt.

Auf dem Bildschirm stand eine Reihe von Internetadressen, jede mit einem Dateinamen endend, der eines von einem halben Dutzend grafischer Formate anzeigte. Danach folgte eine Prozentangabe.

Die Zahlen schwankten zwischen Eins und Hundert.

Rob betätigte die Eingabe-, dann die Pause-Taste, und weitere Dateien tauchten auf.

»Das sind ja Hunderte«, sagte Katharine.

»Schlecht gesucht«, entgegnete Rob, drückte auf Escape und gab einige weitere Befehle ein. »Er hat nach einer Entsprechung für jedes einzelne Bild gesucht. Wir schränken die Suche so ein, dass nichts mehr genannt wird, was nicht mindestens vier Entsprechungen zu dem Schädel und drei zu dem Kiefer aufweist.« Er startete eine neue Suche. Nach ein paar Sekunden erschien eine Liste mit 382 Dateien, jeweils mit der zugehörigen Prozentzahl. »Ordnen wir sie ein bißchen«, sagte Rob. Seine Finger glitten über die Tastatur. Kurz darauf blinkte der Bildschirm, und die Liste erschien wieder auf dem Monitor, nun nach Prozentzahlen geordnet. »Okay, schauen wir mal, was wir da haben«, sagte Rob und klickte zweimal auf die Datei am Anfang der Liste. Sofort erschien das grafische Bild eines Kieferknochens, der demjenigen, den sie ausgegraben hatten, erstaunlich ähnelte. Er befand sich in der Sammlung einer Universität in Schweden und war vor vierzig Jahren in Afrika gefunden worden.

Katharine sah verblüfft auf das Bild. »Das habe ich noch nie gesehen.« Sie studierte das Bild und die Beschreibung, die das Fossil als hominid identifizierte, Fundort war die Olduvai Gorge. Obwohl das Fossil keiner bestimmten Spezies zugeordnet war, glaubte Katharine eindeutig Ähnlichkeiten zum Australopitecus afarensis zu erkennen.

Sie klickte die zweite Datei an.

Diesmal erschien das Bild eines Schädels.

Eines Schädels, der demjenigen, den sie ausgegraben hatten, sehr ähnlich schien.

Zu dem Bild gab es keine Beschreibung außer der, dass der Schädel an den Hängen des Mount Pinatubo auf den Philippinen gefunden worden war. Neben dem Bild und dem kurzen Hinweis sah man in dem Fenster noch den Link zu einer anderen Datei.

Stirnrunzelnd doppelklickte Katharine auf den Link. Eine Sekunde später öffnete sich ein neues Fenster, und ein weiteres Bild erschien.

Oder, besser gesagt, mehrere Bilder.

Es handelte sich um einen Film oder ein Video, das offensichtlich jemand gemacht hatte, der mit einer Kamera ähnlich amateurhaft hantierte wie Katharine selbst. Die unbeholfene Kameraführung minderte jedoch nicht im geringsten die Faszination, mit der Katharine und Rob verfolgten, was auf dem Bildschirm gezeigt wurde.

Die Kamera richtete sich auf etwas, das nichts ähnelte, was Katharine Sundquist oder Rob Silver je gesehen hatten.

Es schien sich um eine Art Humanoid zu handeln und, obwohl man nicht sicher sein konnte, um ein junges männliches Wesen.

Sein Kieferknochen ragte vor, die Stirn neigte sich steil nach hinten. Seine Gesichtszüge waren breit und ungeschlacht, seine tiefliegenden dunklen Augen von Furcht erfüllt. Sein Mund hing herunter, und sein Körper, der nur mit einem Lendenschurz bekleidet war, schien gänzlich mit einem Haarflaum bedeckt.

Etwa fünfzehn Stammesangehörige standen im Kreis um den Jungen herum - wenn man ihn denn als Jungen bezeichnen konnte. Die Männer beobachteten das Wesen, das sie umringten, so vorsichtig, als wären sie nicht sicher, was er vorhatte.

Katharine sah, wie sich der Kreis zusammenzog, wie der Körper des Jungen sich anspannte und er von einem zum anderen sah. Auf einmal sprang er mit einer Bewegung, so plötzlich, dass die Kamera sie kaum zu erfassen vermochte, zwischen den Männern hindurch und verschwand im Dschungel. Die Männer sahen ihm erstaunt hinterher, sprachen eine Weile aufgeregt miteinander und eilten schließlich hinterher, offensichtlich in der Absicht, den geflohenen Jungen wieder einzufangen.

Der Bildschirm wurde schwarz, und einen Augenblick lang dachten Katharine und Rob, dass der Film zu Ende sei.

Sie irrten sich.

Nach ein paar Sekunden tat sich vor ihnen eine Dschungelszene auf. Das Dorf war verschwunden, und einen Augenblick lang geschah nichts, so dass sich Katharine fragte, ob der Kameramann vielleicht gerade seinen Apparat prüfte. Aber dann fand die Linse ihr Ziel, und schließlich konnte auch Katharine es erkennen.

Das Gesicht - das hominide Gesicht eines Jungen, wenn es denn tatsächlich einer war - schaute aus einem dichten Gestrüpp. Schaudernd erkannte Katharine, dass sie dieses Gesicht schon einmal gesehen hatte. Ein Gefühl von Deja vu lief durch sie hindurch. Aber dann wurde ihr klar, dass dieses Gefühl einen ganz konkreten Hintergrund hatte: Vor Jahren hatte sie in einer Ausstellung einmal ein Diorama gesehen, das eine Familie von Homo habilis gezeigt hatte - jener Hominiden, die vielleicht als erste Werkzeuge hergestellt hatten.

Abgesehen von der Hautfarbe und der Gesichtsbehaarung hätte die Gestalt auf dem Bildschirm aus dieser Ausstellung stammen können.

Aber natürlich war das absurd: Der Homo habilis existierte seit zwei Millionen Jahren nicht mehr.

Daraus ergab sich, dass es sich bei dem Video um einen Schabernack handelte.

»Kannst du das anhalten?« fragte Katharine. Die Kamera zeigte noch immer das Gesicht.

Rob klickte mit der Maus ein Symbol auf dem Bildschirm an. Das Bild gefror. Katharine beugte sich vor und betrachtete das Gesicht. Es musste sich um einen Schauspieler mit einer ganz hervorragenden Maske handeln, eine Arbeit, wie sie sonst nur Kosmetikzauberer der Hollywoodteams für Spezialeffekte hervorbringen konnten. Aber trotzdem - wie war es ihnen gelungen, die Neigung der Stirn so perfekt hinzukriegen? Natürlich wäre es kein Problem gewesen, Plastik und Make-up hinzuzufügen, bis die Gesichtszüge des Schauspielers authentisch aussahen, aber dann hätte der Kopf eigentlich proportional größer als der Körper sein müssen.

Und doch schien der Kopf dieses Jungen völlig zu seinem Körper zu passen.

Katharine griff zur Maus, brachte das Bild auf seine ursprüngliche Größe zurück und ließ es weiterlaufen.

Eine Sekunde später traf der erste Speer.

Die Kameralinse zeigte noch immer eine Nahaufnahme. Das Entsetzen im Gesicht des Jungen wirkte täuschend echt. Seine Augen weiteten und verdrehten sich, als suche er nach dem Werfer des Speeres, der aus seiner Brust herausragte.

Dann trafen ihn ein zweiter und ein dritter Speer, und das Entsetzen wich einem Ausdruck des Schmerzes, der in seiner Verzerrtheit so realistisch wirkte, dass Katharine froh darüber war, dass das Video ohne Ton war. Selbst in der Stille des Zimmers glaubte sie fast den Schrei zu hören, der sich seiner Kehle entrang.

Er riß den Mund weit auf, stürzte zu Boden, zuckte noch einige Sekunden und lag dann bewegungslos da.

Rob nahm Katharines Hand, als sie sich das restliche Video ansahen.

Die Männer des Stammes versammelten sich um den Körper und stießen ihre Lanzen in ihn, bis sie sicher sein konnten, dass der Junge tot war.

Sie banden seine Hände und Füße an einen Pfahl und trugen ihn zum Dorf zurück.

Dort nahmen die Männer die Leiche aus. Sie schnitten ihr den Bauch auf und warfen die Gedärme den Hunden zu, die danach schnappten, sich darum balgten und sich schließlich niederließen, um ebenso gierig wie wachsam an ihrem Festmahl zu kauen.

Der Stamm versammelte sich um ein Feuer, über dem die Männer die unerwartete Delikatesse brieten.

Für einen kurzen Augenblick schwenkte die Kamera auf das Gesicht einer Frau, die sich vom Rest des Stammes fernhielt. Mit feuchten Augen sah sie zu.

Der Stamm aß, warf die Knochen aber nicht den Hunden vor, sondern gab sie in einen großen Kessel, wo sie auskochten und eine nahrhafte Brühe ergaben.

Erneut wechselte die Szene. Das Dorf war nun in Dunkelheit getaucht.

Eine Gestalt tauchte in der Finsternis auf, und Katharine musste sich anstrengen, um alles erkennen zu können.

Es war die Frau. Mit einem Netz fischte sie die Knochen aus der Brühe und legte sie auf einem Tuch aus, das sie mitgebracht hatte. Erst als sie sicher war, dass sie alle Teile aus dem Kessel geholt hatte, hörte sie auf. Eine Weile zeigte die Kamera den grotesken Knochenhaufen, bevor die Frau das Tuch darum wickelte.

Es sah aus, als habe sie fast alle Knochen gefunden.

Aber der Schädel fehlte.

Plötzlich schloß sich ohne Ankündigung das Fenster, in dem das Video gelaufen war. Katharine und Rob starrten schweigend auf das Bild des Schädels.

Die Implikation war eindeutig.

Schließlich brach Rob das Schweigen. »Was meinst du? Kann es sein, dass der Film echt ist?«

Katharine schüttelte den Kopf. »Auf keinen Fall. So etwas hat nicht gelebt ...« Sie brach den Satz ab, als sie daran dachte, dass nur wenige Kilometer entfernt ein Skelett an einer Feuerstelle lag.

Ein Skelett, das zu der Gestalt hätte passen können, die sie soeben auf dem Bildschirm gesehen hatten.

Dennoch konnte sie es nicht glauben. Es musste sich einfach um eine aufwendige Fälschung handeln. »Sehen wir uns den Film noch mal an«, schlug sie vor.

Rob klickte den Link ein zweites Mal an. Aber noch während er den Cursor über den Bildschirm bewegte, schloß sich das Fenster, das den Schädel zeigte. »Verdammt«, fluchte er leise. »Tut mir leid.« Wo eben noch das Fenster gewesen war, sah man jetzt nur noch die Liste der Dateien. Rob suchte nach dem Dateinamen.

Aber mit dem Fenster war auch der Dateiname verschwunden.

»Wo ist die Datei?« fragte Katharine.

Sie suchten über eine Stunde nach der verschwundenen Datei, bevor sie schließlich aufgaben. Es schien, als habe die Datei nie existiert.

Takeo Yoshihara lehnte sich in seinem Sessel zurück. Er saß in seinem Privatbüro und betrachtete den Schädel, den der Kurier aus Manila geliefert hatte. Er hatte ihn persönlich mit einer digitalen Kamera fotografiert und den Inhalt des Videobandes, das der Lieferung beigefügt war, auf eine digitalisierte Grafikdatei übertragen.

Das Videoband lag mittlerweile im Safe in diesem Büro, und nur er kannte die Kombination.

Bevor er das Büro verließ, legte er den Schädel zu dem Video.

Die Grafikdatei in seinem Computer war ebenso sicher. Sie wurde durch Codes geschützt, die nur er und die wenigen verläßlichen Untergebenen kannten, denen er vor einer Stunde Kopien der Datei übergeben hatte.

Die Summe, die er für den Schädel ausgegeben hatte, war gut angelegt. Schade nur, dass der Junge hatte sterben müssen.

Aber es gab keinen Fortschritt ohne Kosten, und was bedeuteten schon ein paar Leben, wenn man bedachte, welches Ziel er vor Augen hatte?

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