Aus einem großen Riß in der Bergflanke stiegen Rauch und Dampf auf, und vor dem schwarzen Nachthimmel hing ein Vorhang aus Feuer. Es schien, als wolle der Berg explodieren. Schaudernd starrte Katharine auf den Bildschirm.
Rob Silver, der neben ihr auf dem Sofa saß, spürte ihr Unbehagen. »Nimm's leicht«, sagte er. »Es sieht viel schlimmer aus, als es ist.«
Seit einer halben Stunde verfolgten sie den Live-Bericht über den jüngsten Vulkanausbruch auf der Großen Insel, und obwohl Rob sie die ganze Zeit über beruhigte, betrachtete Katharine wie erstarrt vor Schreck die Höllenbilder, die von der Nachbarinsel übertragen wurden - eine Insel, die plötzlich viel näher schien als noch vor einer halben Stunde.
»Ich höre sehr gut, was du mir sagst«, entgegnete sie. »Und ich weiß jetzt auch, dass diese Vulkane nicht explodieren. Aber du musst zugeben, dass es furchterregend aussieht.«
Josh Malani, der neben Michael auf dem Boden lag, blickte wie gebannt auf die lodernde Szenerie. »Wäre es nicht toll, jetzt dort zu sein? Man kann auf den Lavamassen bis ganz nach oben gehen und in die Krater sehen, dort, wo sie rotglühend sind.«
»Vielleicht könnten wir rüberfliegen«, sagte Michael. »Vielleicht...«
»Vielleicht kann Josh jetzt nach Hause gehen, und du gehst ins Bett«, unterbrach ihn Katharine und schaltete den Fernseher mit der Fernbedienung aus. »Ihr habt beide morgen Schule, falls ihr euch erinnert.«
»Oh, Mom, bitte, schalt wieder ein«, bettelte Michael. »Es ist doch erst kurz nach zehn, und ...«
»Und man lernt was dabei?« nahm Katharine das Argument ihres Sohnes vorweg. »Ich glaube nicht, dass wir das diskutieren müssen.«
Josh Malani hatte die leichte Schärfe in Katharines Stimme durchaus mitbekommen. Er rappelte sich hoch. »Ich glaube, ich muss jetzt langsam nach Hause«, sagte er. Als er ein paar Minuten später mit Michael zu seinem Pick-up ging, sagte er: »Ich mag deine Mom.«
»Aber sicher«, stöhnte Michael. »Dich hat sie gerade rausgeworfen, und mich schickt sie ins Bett.«
»Na und?« entgegnete Josh. »Aber ich durfte bei euch essen, und keiner hat sich betrunken und herumgebrüllt.«
Michael sah seinen Freund an. »Passiert das bei dir zu Hause?«
»Na ja, nicht jeden Abend«, sagte Josh ein wenig zu schnell. Er wünschte, er hätte den Mund gehalten. »Ich denke, das kommt überall mal vor, nicht?«
»Klar«, antwortete Michael, obwohl so etwas in seiner Familie noch nie vorgekommen war. Dann fügte er hinzu: »He, wenn du willst, kannst du heute nacht hier schlafen.«
Josh überlegte kurz und schüttelte den Kopf. »Ich fahre besser. Ich möchte nicht, dass deine Mom denkt, ich will hier einziehen.« Er lächelte. »Außerdem bin ich noch nicht müde. Ich glaube, ich fahre noch ein bißchen durch die Gegend. Hast du Lust?«
Michael verdrehte die Augen. »Als ob Mom das erlauben würde.«
Josh stieg ein und ließ den Motor an. »Okay, dann bis morgen.« Er setzte den Pick-up zurück und fuhr dann so heftig an, dass er eine dicke Staubwolke aufwirbelte. Lachend sah er im Rückspiegel, wie Michael den Kopf wegdrehte. Doch als er auf die Olinda Road einbog, war sein Lachen erstorben, und die seltsame Unruhe, die er schon den ganzen Abend gespürt hatte, ergriff wieder Besitz von ihm.
Unruhe war vielleicht nicht das richtige Wort.
Es war etwas anderes, etwas, das er nicht verstand.
Irgendwie hatte er ein komisches Gefühl in der Brust. Es tat nicht weh, und es waren auch nicht die Anzeichen, die er spürte, wenn er eine Erkältung bekam.
Es war einfach ... komisch.
Er fuhr den Berg hinauf. Trotz der kalten Nachtluft ließ er das Fenster auf. Als er die Spitze erreicht hatte, bog er links ab und fuhr die kurvenreiche Straße nach Makawao hinunter. Plötzlich tauchte im Licht seiner Scheinwerfer eine vertraute Gestalt auf.
Jeff Kina ging die Straße entlang, mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern. Josh hielt neben ihm an. »He! Was machst du denn hier?«
Jeff zuckte zusammen und blinzelte in die Dunkelheit. Jetzt erst schien er Josh zu erkennen. »Ich laufe nur so rum«, sagte er. »Mir war nicht nach Schlafen und außerdem ... ich weiß auch nicht ... fühlte ich mich irgendwie komisch. So als müsste ich durchdrehen, wenn ich nicht gleich nach draußen käme.« Er schwieg einen Augenblick und sagte dann: »Ich weiß nicht. Vielleicht ist Kioki das gleiche passiert.«
»Kein Mensch weiß, was mit Kioki passiert ist«, ent-gegnete Josh. »Sollen wir ein bißchen rumfahren?«
»Von mir aus«, sagte Jeff. Er öffnete die Beifahrertür, stieg in den Pick-up, und Jeff fuhr weiter in Richtung Makawao.
Keiner der beiden Jungen achtete auf den Wagen, der hinter der nächsten Kurve am Straßenrand stand.
Der Fahrer des Wagens hatte sie allerdings gesehen, und kaum war der Pick-up an ihm vorbeigefahren, wendete er. Den Anweisungen entsprechend, die er vor ein paar Stunden erhalten hatte, folgte er Jeff Kina.
Der Fahrer des Pick-up - wer immer das sein mochte - interessierte ihn nicht. Für den war ein anderer zuständig.
Josh fuhr auf den Haleakala Highway auf. Er wusste nicht, dass ihm jemand folgte. In der Ferne sah er den Schein eines brennenden Zuckerrohrfeldes. Der Rauch, der über den Nachthimmel zog, erinnerte ihn an den Vulkan auf der Großen Insel. Gleichzeitig spürte er eine seltsame Erregung.
»Bist du jemals in der Nähe eines Zuckerrohrfeuers gewesen?« fragte er Jeff. Als der andere Junge keine Antwort gab, sah Josh zu ihm hinüber. Jeff starrte verloren auf die fernen Flammen, wie eben noch er selbst. »Jeff?« sagte er lauter, und schließlich drehte Jeff den Kopf. Doch es schien, als würde sein Freund durch ihn hindurchsehen. »Alles okay?«
Jeff nickte. »Bist du mal ganz nah an einem Zuckerrohrfeuer gewesen?« wiederholte er genau die Frage, die Josh ihm gerade gestellt hatte.
Josh schien es ratsam, das seltsame Verhalten seines Freundes zu ignorieren. Er schüttelte den Kopf. »Sollen wir hinfahren?«
Wieder nickte Jeff, aber er sagte nichts und wandte seinen Blick wieder dem Feuer zu, das sich in der Ferne rasch ausbreitete. Josh trat auf das Gaspedal, und der Pick-up schoß den fast leeren Highway entlang.
Der Fahrer sah, wie Joshs Truck schneller wurde, und drückte die Wahlwiederholungstaste seines Handys. Ungeduldig wartete er, dass sich jemand meldete. »Mein Mann hat mich möglicherweise entdeckt«, sagte er. »Irgendwas muss ihn jedenfalls nervös gemacht haben, denn der andere, der den Wagen fährt, drückt gerade auf die Tube wie ein Kaninchen mit einer Feuerwerksrakete im Arsch. Haben wir jemanden in Kahului?«
»Kein Problem«, sagte der Mann am anderen Ende der Leitung. »Ich brauche nur eine Beschreibung.«
»Es ist ein Pick-up, reichlich alt, reichlich verrostet und verbeult. Zwei Kids sitzen drin.«
»Die Nummer?«
»Bin nicht nahe genug rangekommen.« Der Fahrer beendete das Gespräch und beschleunigte, bis er die Rücklichter des Pick-up wieder sehen konnte.
Josh steuerte den Truck in einen schmalen Feldweg, der zu der Stelle führte, wo das Feuer glühte.
»Mein Gott«, flüsterte Jeff. »Hast du so was schon mal gesehen?«
»Wir haben das schon tausendmal gesehen«, antwortete er, aber auch er spürte, dass es heute abend irgendwie anders war.
Sonst hatte er immer alles getan, um den Folgen der Zuckerrohrfeuer zu entgehen. Er hatte die Fenster fest geschlossen, damit Rauch und Ruß nicht eindringen konnten, und sogar die Luftschächte geschlossen, damit die ätzenden Dämpfe nicht in den Wagen gelangten.
Einmal, das war erst ein paar Monate her, hatte er auf dem Rückweg von Pukalani an einem brennenden Feld vorbeifahren müssen. Er hatte noch erwogen umzukehren, aber das hätte einen Umweg von fast dreißig Kilometern bedeutet. Also war er weitergefahren, hatte seinen Entschluß auf halber Strecke aber bitter bereut. Die Hitze auf seinem Gesicht schien ihm fast die Haut zu versengen, und das Brüllen des Feuers hatte ihn noch mehr geängstigt als das Knistern der Flammen.
Aber heute abend faszinierte ihn das feurige Inferno mehr als die Bilder der speienden Krater auf der Großen Insel.
Er drückte das Gaspedal durch, und der Truck schoß vorwärts.
»Yippie!« rief Jeff neben ihm. »Los!«
Der Truck brauste weiter, und der Straßenstaub vermischte sich mit der schwarzen Asche, die vom Himmel regnete und durch die offenen Fenster wirbelte. Die Luft war von Rauch erfüllt, und Jeff, der noch immer neben ihm jauchzte, atmete diesen Rauch tief ein.
Josh fuhr weiter. Der Truck donnerte durch das eigentliche Brandgebiet. Auf beiden Straßenseiten brannten die Felder. Die Zuckerrohrstangen glänzten kohlschwarz, das Blattwerk leuchtete in zornigem Rot. Josh hielt den Wagen an und starrte fasziniert auf das Inferno um sie herum.
Das seltsame, beklemmende Gefühl, das er den ganzen Abend verspürt hatte, war wie weggeblasen.
Jeff Kina starrte auf den feurigen Wirbelwind, der durch die Felder raste. Wohin er auch sah, loderten die Flammen, und während er die rauchige Luft tief einatmete, schwappte eine Welle der Euphorie über ihn hinweg, die jeden Nerv in seinem Körper elektrisierte und jeden seiner Sinne schärfte. Seine Haut genoß die Hitze, und auf der Zunge spürte er die Süße des brennenden Zuckerrohrs. Die Flammen wirbelten um ihn herum, und während der Rauch aus dem verkohlten Feld aufstieg, schien es ihm, als sehe er seltsame Geistergestalten, die über dem Inferno tanzten. Es war fast, als ob er high wäre. Er fühlte sich großartig, und die seltsame Unruhe, die ihn vor einer Stunde aus dem Haus getrieben hatte, wurde nun selbst vertrieben. Und als der Feuersturm höher und höher wirbelte, hörte er einen neuen Klang - den verführerisch flüsternden Gesang einer Sirene.
Es war, als spreche die Sirene zu ihm, als dränge sie ihn, auszusteigen und sich dem Tanz anzuschließen, den die Flammen im Feld darboten.
Der Rauch selbst schien nach ihm zu rufen. Jeff Kina öffnete die Tür des Trucks und glitt hinaus ...
Das Heulen der Sirenen riß Josh Malani aus seiner Trance, und als die Tür des Trucks zuschlug, befand er sich endgültig wieder in der Wirklichkeit. »Was machst du da?« schrie er. Jeff stand neben dem Wagen und starrte wie hypnotisiert in die Flammen. Josh rutschte über den Beifahrersitz und packte Jeffs Arm. Die Warnsirenen wurden lauter, und durch die Schwaden sah man die Lichter eines nahenden Lastwagens. Jeff wollte sich losreißen, aber Josh verstärkte seinen Griff. »Jeff, komm zurück in den Wagen. Die Feuerwehr kommt! Was, zum Teufel, ist mit dir?«
Mit kreischenden Bremsen hielt der gelbe Lastwagen direkt vor dem Pick-up. Ein Mann sprang vom Beifahrersitz, zwei andere von der Ladefläche. Die beiden packten Jeff und schleppten ihm zum Wagen, während der andere Josh anbrüllte:
»Seid ihr noch zu retten? Schaff den verdammten Pick-up hier weg, bevor er in die Luft fliegt!«
Josh rutschte auf den Fahrersitz zurück, legte den Rückwärtsgang ein und fuhr los. Ein Funke flog durch das Seitenfenster und versengte ihm die Stirn. Erschrocken ließ er das Lenkrad los, und der Truck brach nach rechts aus. Für den Bruchteil einer Sekunde wollte Josh gegenlenken, doch dann ließ er die Räder sich drehen. Der Truck kam von der Straße ab und rutschte mit dem Heck auf das brennende Feld zu, doch noch bevor er zum Stillstand kam, hatte Josh den Gang eingelegt und preßte den Fuß aufs Gaspedal. Die Reifen drehten kurz durch, dann fanden sie Halt, und Josh raste davon. Er verlangsamte erst, als er den asphaltierten Highway erreicht hatte.
Jeff!
Wo war Jeff?
Sollte er nicht zurückfahren und ihn suchen?
Vor ihm leuchteten Autoscheinwerfer auf. Jetzt erst bemerkte Josh, dass auf der anderen Straßenseite ein Auto parkte. Als der Motor des Wagens aufheulte und er die Straße hinunterschoß, aus der Josh gerade gekommen war, sah er, dass sich aus Richtung Kahului ein zweiter Wagen näherte.
Auf dem Dach rotierte Blaulicht.
Die Bullen!
Mist! Was sollte er jetzt machen?
Was konnte er machen?
Er sah die Straße hinunter, entdeckte aber keine Spur von Jeff Kina oder dem Lastwagen, in den die Männer ihn gezerrt hatten. Auch das Auto, das auf der anderen Straßenseite geparkt hatte, sah er nicht mehr. Josh fasste einen Entschluß.
Jeff würde schon nichts passieren. Die Männer waren bestimmt von der Feuerwehr. Sie hatten Jeff in Sicherheit gebracht.
Und jetzt wurde es Zeit für ihn, sich selbst in Sicherheit zu bringen. Er fuhr los. Ein paar Sekunden später kam er an dem Wagen mit dem Blaulicht vorbei, ohne zu bemerken, dass es sich gar nicht um einen Polizeiwagen handelte.
Ängstlich sah er in den Rückspiegel. Er war sicher, dass die Bullen jeden Augenblick wenden und ihn verfolgen würden. Aber der Wagen bog vom Highway ab, hinein in das brennende Zuckerrohrfeld.