KAPITEL 16

Michael bewegte sich behende durch die dunklen Schatten der Wälder, welche die Straße säumten. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren und wusste weder, wie lange es her war, seit er von zu Hause geflohen war, noch, wie spät es wohl sein mochte.

Kaum konnte er sich daran erinnern, wie er aus dem Fenster geklettert und über das Verandageländer gesprungen, über die Lichtung gelaufen und im dunklen Eukalyptuswald verschwunden war, so sehr hatte ihn der Schrecken des Traums gebannt. Er hatte nur vor dem Licht fliehen wollen und vor der Gestalt, die ihm darin erschienen war. Aber selbst nachdem er die schützende Dunkelheit erreicht hatte, war er weiter gerannt, unter Ästen sich hinweg duckend, bis er den Wald hinter sich gelassen hatte und auf eine Wiese gestolpert war. Japsend hatte er sich zu Boden fallen lassen.

Fliehen!

Er musste fliehen.

Aber wohin? Kaum hatte er sich die Frage gestellt, wusste er die Antwort. Er dachte an die Spalte in der Schlucht, wo seine Mutter in der Nähe das seltsame Skelett ausgegraben hatte.

Dorthin würde er gehen.

Nur, wie kam er dorthin?

Während der Schrecken des Traumes langsam von ihm wich, fiel ihm wieder ein, was Josh am Nachmittag gesagt hatte. Irgendwo die Straße hinauf gab es einen Pfad.

Mehr oder weniger folgte er nun der Straße und ihren engen Kurven. Manchmal jedoch kürzte er ab, indem er die steile Böschung hinaufkletterte. Er kam an einem halben Dutzend Abzweigungen vorbei, und eine von ihnen ähnelte auch einem Fußpfad, aber eine innere Stimme sagte ihm, dass er noch weiter aufwärts gehen müsse. Nach einigen weiteren Metern blieb er plötzlich stehen.

Zunächst wusste er gar nicht, warum, aber dann sah er es - einen schmalen Pfad, der in die ungefähre Richtung von Takeo Yoshiharas Anwesen und der Ausgrabungsstelle seiner Mutter führte. Aber wie konnte er sich vergewissern? Was, wenn ihn der Pfad in die falsche Richtung führte?

Trotz seiner Zweifel folgte er dem Pfad. Irgend etwas sagte ihm, dass er in die richtige Richtung ging. Nach zwanzig Minuten mündete der Pfad in einen unebenen Weg. Ohne zu zögern, wandte sich Michael nach links.

Er ging jetzt schneller, und die Gewißheit, den Weg gefunden zu haben, wuchs mit jedem Schritt. Kurz darauf kam er an ein Tor. Er kletterte darüber, ebenso wie über den Zaun, auf den er ein paar Minuten später traf. Es war, als folge er einem Leitstrahl, denn der von vorbeiziehenden Wolken verdeckte Mond spendete nur wenig Licht.

Schließlich betrat Michael die Lichtung, auf der die Arbeitstische unter den Zeltplanen standen. Der letzte Rest Furcht wich von ihm.

Er ging weiter und stand kurz darauf an der alten Lagerstätte, wo das Skelett lag. Er kniete sich nieder. Seine Augen richteten sich auf die Umrisse des bleichen Schädels, und als die Wolkendecke aufriß und ein silbriger Streifen Mondlicht die leeren Augen des toten Wesens erhellten, spürte Michael erneut dieses seltsame Gefühl, das ihn am Nachmittag beschlichen hatte, diese sonderbare Mischung aus Vertrautheit und Furcht.

Dann verschwand der Mond wieder hinter den Wolken. Michael erhob sich und begab sich in den Schutz des seit langem erloschenen Vulkanschlots.

In dieser Nacht war es warm in diesem Schacht - weitaus wärmer als an der frischen Luft -, und Michael fühlte, wie ihn ein sanfter Nebel umhüllte. Er sank nieder und lehnte sich gegen die moosigen Felsen.

Bald darauf versank er in traumlosen Schlaf.

Er wusste nicht, was ihn aufgeweckt hatte - vielleicht ein Geräusch, vielleicht ein sechster Sinn.

Er wusste auch nicht, wie lange er geschlafen hatte.

Aber als er erwachte, waren auch all seine Sinne hellwach. Er kauerte sich zusammen und lauschte mit angehaltenem Atem.

Die Wolkendecke war noch dichter geworden. Dennoch konnte er die Umrisse der Bäume deutlich erkennen. Die schlanke Gestalt eines Mungo glitt auf dem schmalen Pfad vorbei, der ihn zu seinem Versteck geführt hatte.

Michael bewegte sich nicht, denn in das Zirpen der Insekten und das Murmeln schläfriger Vögel mischten sich andere Klänge.

Stimmen.

Menschliche Stimmen, so leise, dass er die Worte nicht verstand.

Aber sie kamen näher.

Langsam erhob sich Michael. Die sich nähernde Gefahr aktivierte seine Sinne.

Er lauschte intensiver und verstand schließlich einen Satz:

»Etwa dreihundert Meter vor uns - dort oben, wo diese Freundin von Dr. Silver arbeitet.«

Sie sprachen von ihm!

Sie suchten ihn!

Instinktiv duckte sich Michael wieder in die Felsspalte, aber sogleich erkannte er, in welcher Falle er steckte. Wenn sie wussten, wo er sich verbarg, blieb ihm hier keine Fluchtmöglichkeit.

Er stürzte hinaus in die Dunkelheit und blieb einen Augenblick zitternd in der Nachtkälte stehen. Dann vergaß er die Kälte. Er musste an anderes denken.

Flucht.

Er bewegte sich schnell, viel schneller als bei seinem Hinweg, bog kurz hinter dem Eingang zur Felsspalte ab und schlängelte sich durch das dichte Blattwerk des Regenwaldes, bis er hundert Meter hinter der Lichtung, auf der die Arbeitstische standen, wieder den Fahrweg erreichte.

Noch immer konnte er die Stimmen hören, aber sie kamen nicht näher, sondern entfernten sich. Er wusste, dass sie sich auf die Stelle zu bewegten, wo er sich noch vor wenigen Minuten aufgehalten hatte.

Er überlegte nicht lange, sondern drehte sich um und lief davon, so schnell er konnte, trotz der Dunkelheit.

Als er wieder zu dem Zaun kam, kletterte er darüber, ebenso schwang er sich kurz darauf über das Tor; dann lief er weiter. Seine Beine bewegten sich in gleichmäßigem Rhythmus, seine Füße verursachten kaum ein Geräusch, während sie über den Weg flogen. Er gelangte zu dem Pfad, der nach rechts abzweigte, aber er lief weiter. Erst später verließ er den Weg, kletterte am Berg entlang und kehrte erst wieder zum Pfad zurück, als er nur noch wenige Meter von dem Punkt entfernt war, wo er die Straße verlassen hatte.

Aber wann war das gewesen?

Er hatte keine Ahnung.

Mit einemmal fühlte er sich müde und erschöpft. Seine Oberschenkel brannten, und seine Knie und Knöchel taten weh, als wäre er stundenlang gelaufen. Er japste, und als er stehenblieb, um wieder zu Atem zu kommen, lauschte er.

Nichts.

Wieder war er allein in der Nacht.

Als er die schmale Straße verließ, die durch den Eukalyptuswald führte, sah Michael seine Mutter. Sie stand auf der Veranda und hatte noch immer ihren dünnen weißen Bademantel an. Erst in diesem Augenblick verstand er, warum er beim Aufwachen so in Panik geraten war.

Er hatte durchaus keine Geistererscheinung aus seinem Traum gesehen.

Es war nur seine Mutter gewesen, die das Licht eingeschaltet hatte.

Wie hatte er nur so dumm sein können!

Er holte tief Luft, trat aus dem Wald hinaus und in den Lichtkreis, der sich von der Veranda über die Lichtung erstreckte.

Katharines Augen weiteten sich. Sie öffnete den Mund. »Michael? Mein Gott, Michael, ist alles in Ordnung?« Sie kam auf ihn zugelaufen. »Michael, was ist passiert? O Gott, ich hatte solche Angst. Als du aus dem Fenster bist ...«

»Mir geht es gut, Mom«, beruhigte er sie. »Ich habe nur ... ich weiß auch nicht... es war so seltsam, und ...« Sie standen auf der Veranda, und seine Mutter hielt ihn am Arm. »Es tut mir wirklich leid«, sagte er.

Katharine zog Michael ins Haus und betrachtete ihn ängstlich. »Bist du sicher, dass es dir gutgeht?« fragte sie noch einmal. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht. Du klangst, als könnest du kaum atmen, und dann bist du plötzlich verschwunden ...«

Michael machte sich von ihr los. »Ich komme mir wirklich dämlich vor«, sagte er, ließ sich auf das Sofa fallen und sah zu ihr hinauf. »Du wirst sauer auf mich sein.«

Katharine sank in den Sessel gegenüber. »Erzähl mir einfach, was passiert ist.«

Er versuchte ihr von dem Alptraum zu berichten, doch das meiste hatte er bereits wieder vergessen. Aber er erinnerte sich an das, was er gesehen hatte, als die Angst ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. »Du warst es«, sagte er. »In deinem Morgenmantel. Ich war irgendwie noch nicht wach, und in dem Mantel sahst du aus wie eine der Gestalten aus meinem Traum.«

»Das ist ja verrückt«, meinte Katharine. »Und ich wollte dir helfen. Ich konnte ja nicht ahnen ...«

»Ist ja egal, Mom«, sagte Michael. »Es tut mir wirklich leid, dass ich dir solchen Kummer gemacht habe.«

»Aber wo warst du?« fragte Katharine.

Sollte er ihr die Wahrheit sagen? Aber wie konnte er? Er hatte ja selbst kaum begriffen, was er getan hatte. Plötzlich kam es ihm fast unmöglich vor, dass er nicht nur den Weg gefunden hatte, von dem Josh ihm erzählt hatte, sondern auch noch einem unmarkierten Pfad bis zur Ausgrabungsstelle selbst gefolgt war.

Und was war mit den Leuten, die nach ihm gesucht hatten? Mit einemmal wusste er, wer sie waren und woher sie gewusst hatten, dass er da war.

Die Grabungsstelle lag auf Takeo Yoshiharas Besitz, und dort waren bestimmt überall Alarmanlagen.

Sie mussten ihn von dem Augenblick an beobachtet haben, als er über das Tor geklettert war. Und wenn sie ihn erwischt hätten ...

Dann hätte seine Mom womöglich ihren Job verloren!

Aber sie hatten ihn nicht erwischt - er war davongekommen.

Er traf eine Entscheidung.

»Ich bin eigentlich nirgendwo hin«, sagte er. »Als ich schließlich aufwachte - ich meine, wirklich zu mir kam -, lag ich in einem Feld.« Er zögerte. »Und irgendwie fand ich es ganz witzig, dort draußen zu sein, mitten in der Nacht. Ich habe die Sterne angesehen, und dabei bin ich wahrscheinlich wieder eingeschlafen.« Nahm sie ihm das ab? Schwer zu sagen. »Du bist sicher ziemlich wütend auf mich, was?«

Katharine holte tief Luft und seufzte laut. »Ich weiß nicht«, sagte sie schließlich. »Ich habe mir solche Sorgen gemacht, weil du so komisch geatmet hast, und als du nicht zurückgekommen bist...« Sie schüttelte den Kopf. »Und es geht dir wirklich gut?«

»Aber ja«, antwortete Michael.

»Wenn es dir gutgeht, warum fiel dir dann das Atmen so schwer?« fragte Katharine, deren Angst sich langsam in Zorn verwandelte. »Hast du eine Vorstellung, wie oft ich schon den Hörer in der Hand hatte, um die Polizei anzurufen?«

Michael unterdrückte ein Stöhnen.

»Aber ich habe es nicht getan«, fuhr Katharine fort.

»Ich habe mir immer wieder gesagt, dass du kein kleiner Junge bist und dass ich aufhören muss, dich zu behandeln, als wärst du immer noch krank.« Sie sah ihn an. »Also habe ich nicht angerufen. Statt dessen habe ich hier gesessen und mich halb zu Tode geängstigt.«

»Es tut mir wirklich leid, Mom«, wiederholte Michael. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich ...«

»Sag gar nichts«, unterbrach ihn seine Mutter. »Versprich mir nur, dass wir morgen früh zum Arzt gehen, okay?«

Scheinwerferlicht drang durch die Fenster. »Ich dachte, du hättest niemanden angerufen.« Michael stand auf und eilte in sein Zimmer. Plötzlich war es ihm peinlich, dass ihn jemand in Unterwäsche sehen könnte.

»Ich habe nicht die Polizei gerufen«, sagte Katharine. »Aber mit irgend jemandem musste ich sprechen.«

Eine Autotür wurde zugeschlagen, und kurz darauf erschien Rob Silver vor der Haustür. »Ich habe es mir überlegt«, begann er. »Wir sollten vielleicht doch besser die Polizei anrufen. Wenn er dort draußen ...«

»Er ist wieder da«, unterbrach ihn Katharine. »Er ist vor ungefähr fünf Minuten wieder aufgetaucht. Aber morgen früh gehe ich mit ihm zu einem Arzt.«

Rob nickte. »Ich rufe morgen als erstes Stephen Jameson an. Er ist der beste Arzt auf der Insel. Er arbeitet für Takeo Yoshihara.«

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