Um kurz vor sechs waren Katharine Sundquist und Rob Silver immer noch im Computercenter. Rob saß geduldig neben Phil und sah ihm bei der Arbeit zu, während Katharine nervös auf und ab ging. Ihre Frustration wurde mit jeder Minute größer. Es kam ihr vor, als sei der Computer mittlerweile ihr persönlicher Feind geworden. Sie hatte so lange auf den Bildschirm gestarrt, bis ihr die Augen weh taten. »Glaubt ihr mir jetzt?« seufzte sie. Während auf einem Bildschirmfenster der unendliche Strom willkürlicher Kombinationen der Buchstaben A, C, G und T vorbeizog, zeigte ein anderes Fenster, an dem Phil jetzt schon über eine Stunde arbeitete, noch immer die gleiche deprimierende Botschaft. Mehr hatte der Astronom noch nicht erreicht:
Passwort nicht korrekt.
Bitte geben Sie das Passwort ein:
Die senkrechte Linie am Ende der Nachricht blinkte provozierend, als wolle sie den Benutzer herausfordern, noch einmal zu versuchen, das geheimnisvolle Paßwort zu finden, das den Zugang zum Serinus-Verzeichnis erlaubte.
»Nun, es sieht ganz so aus, als wollte euer Boß nicht, dass wir in dieses Verzeichnis eindringen«, stimmte Howell ihr zu. »Aber ich kann immer noch nicht glauben, dass es nur durch ein Paßwort geschützt sein soll. Der Mann operiert weltweit, und ich wette, dass er vieles macht, wobei ihm niemand zusehen soll. Und selbst wenn all seine Geschäfte vollkommen legal sein sollten - was ich bezweifle -, müssen in diesen Datenbanken riesige Mengen an Geschäftsdaten zu finden sein.«
»Vergiß nicht, dass dieser Computer nur für den Forschungsbereich bestimmt ist«, erinnerte ihn Rob. »Das Geschäftszeug ist woanders. Wahrscheinlich in Japan.«
»Vermutlich eher auf den Kaiman-Inseln, wenn du mich fragst«, brummte Phil, gab »Kaiman« als Paßwort ein und drückte die Eingabetaste. Augenblicklich erschien wieder der bekannte Kasten mit der gleichen Nachricht auf dem Bildschirm. »Ich gebe auf«, seufzte er. »Für dieses Ding braucht ihr einen besseren Hacker als mich.«
»Wenn ich einen wüßte, würde ich ihn sofort anrufen«, sagte Rob. »Weißt du keinen?«
Howell dachte kurz nach. »Nein«, sagte er schließlich düster. Sein Blick wanderte zu dem Fenster auf dem Monitor, das sein eigenes Projekt zeigte, aber dessen Stand schien sich nicht verändert zu haben, und er spürte plötzlich ein unangenehmes Gefühl im Bauch, das ihm sagte, dass er völlig vergessen hatte, etwas zu essen. »Wir wär's, wenn wir eine Pause machen und irgendwas zu uns nehmen? Dann kommen wir zurück und versuchen es noch einmal.«
Katharine wollte schon protestieren, aber als sie die Ringe unter Phils Augen und seine eingefallenen Wangen sah, wurde ihr klar, dass er nicht mehr lange durchhalten würde. »Vielleicht ist das besser«, sagte sie und rieb sich den Nacken, der vom dauernden Starren auf den Monitor ganz steif geworden war. »Ich will nur eben mal hören, was Michael so macht... Hast du dein Handy dabei?« fragte sie Rob.
Rob holte das flache Telefon aus seiner Tasche. »Wir könnten irgendwo in Makawao essen gehen und Michael mitnehmen«, sagte er.
Als sich nach dem ersten Läuten der Anrufbeantworter einschaltete und anzeigte, dass Nachrichten hinterlassen worden waren, nahm Katharine an, dass Michael auf das Band gesprochen hatte, um ihr zu sagen, was er am Abend vorhatte. Doch als Katharine die Codenummer eingegeben hatte, meldete die unpersönliche elektronische Stimme: »Sechs - neue - Nachrichten.« Panik stieg in ihr auf.
Auf dem Anrufbeantworter waren nur selten Nachrichten, und schon gar nicht sechs an einem Tag. Hastig tippte sie den Code zum Abspielen der Nachrichten ein.
Kaum hörte sie die Stimme des ersten Anrufers, da wusste sie, dass es um Michael ging.
Und es war nichts Gutes.
»Dr. Sundquist, hier ist Jack Peters, der Leichtathletiktrainer der Bailey High. Ich ... ich wünschte, ich müsste nicht auf den Anrufbeantworter sprechen, sondern könnte mit Ihnen persönlich reden, aber ...« Er zögerte kurz. »Michael ist heute nachmittag auf der Laufbahn zusammengebrochen. Ich weiß nicht genau, was ihm fehlte, aber ich habe sofort die Ambulanz angerufen. Kurz bevor der Krankenwagen eintraf, tauchte Dr. Jameson in Takeo Yoshiharas Hubschrauber auf. Ich bin davon ausgegangen, dass sie ihn ins Maui Memorial Hospital bringen würden, aber ich habe vorhin dort angerufen, und er ist bis jetzt nicht eingeliefert worden. Ich versuche es später noch einmal, aber wenn Sie diese Nachricht hören, können Sie mich unter 555-3568 erreichen. Ich weiß auch nicht, was passiert ist. Ich meine, er lief besser als je zuvor, und dann ...« Wieder brach er den Satz ab. »Jedenfalls werde ich es weiter im Krankenhaus versuchen«, fuhr er fort. »Wenn ich etwas erfahre, rufe ich noch mal an. Ich ... äh ... Herrgott, ich hasse diese Apparate.«
Als die nächste Nachricht begann, stand Rob an Katharines Seite. Er hatte den leisen Schrei gehört, den sie ausgestoßen hatte, als sie die schreckliche Botschaft von Peters vernahm. Sie stellte den Ton lauter, und sie hörten die Stimme eines verängstigt klingenden Jungen.
»Mr. Sundquist? Hier spricht Rick Pieper.« Der Junge wiederholte mehr oder weniger das, was der Trainer gesagt hatte. Dann folgte die nächste Stimme.
»Hier ist Yolanda Umiki aus Mr. Yoshiharas Büro. Dr. Sundquist, Mr. Yoshihara hat mich gebeten, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Sohn krank ist und er so schnell wie möglich mit Ihnen sprechen möchte. Bitte, rufen Sie mich an, sobald Sie können. Ich werde Sie dann direkt mit Mr. Yoshihara verbinden.«
Die Panik, die Katharine gepackt hatte, als sie hörte, dass Michael krank sei, machte schierem Entsetzen Platz, als sie erfuhr, dass Yoshihara irgend etwas damit zu tun hatte. Und warum war Dr. Jameson in dem Hubschrauber mitgeflogen?
Yolanda Umiki hatte noch einmal angerufen, und dann ertönte noch einmal die Stimme von Rick.
»Hier ist noch mal Rick Pieper, Mrs. Sundquist. Ich bin hier im Maui Memorial. Ich bin hergekommen, um zu hören, wie es Michael geht, und er ist gar nicht hier! Ich meine, sie sagen, er sei überhaupt nie hier gewesen! Aber wo sollten sie ihn sonst hingebracht haben? O Mann, es tut mir leid, ich meine, Verzeihung, ich mache mir halt nur Sorgen. Ich meine, ich dachte, sie bringen ihn hierher und jetzt ... es tut mir wirklich leid, Mrs. Sundquist, aber Michael hat etwas gesagt, bevor er bewusstlos wurde, und ich dachte, das sollten Sie wissen. Er sagte irgendwas über Ammoniak. Ich meine, keine Ahnung, was er damit gemeint hat, er hat nur das eine Wort gesagt. Ammoniak.«
Die letzte Nachricht kam wieder von Jack Peters, und diesmal klang er fast wie ein Duplikat von Rick. »Ich verstehe das nicht, Dr. Sundquist. Wenn sie ihn nicht ins Maui Memorial gebracht haben, wohin ...« Er brach mitten im Satz ab. »Mein Gott, ich muss Sie ja zu Tode erschrecken. Wahrscheinlich ist er einfach aufgewacht, und es hat sich herausgestellt, dass es nichts Ernstes ist, und sie haben ihn gar nicht erst ins Krankenhaus gebracht. Jedenfalls wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mich darüber unterrichten könnten, wie die Dinge stehen.«
Die elektronische Stimme ertönte: »Ende - der - letzten - Nachricht.«
»Er ist auf dem Anwesen von Yoshihara«, sagte Katharine. »Sie haben ihn nicht ins Krankenhaus gebracht. O Gott, Rob, was, wenn er ...« Auch wenn Rob nicht den Finger auf seine Lippen gelegt hätte, sie hätte es nicht über sich gebracht, den Satz zu Ende zu sprechen. Michael konnte einfach nicht tot sein. Niemals.
»Ruf die Frau in Yoshiharas Büro an«, sagte Rob. Als es Katharine vor lauter Nervosität nicht gelang, die Verbindung zu ihrem Anrufbeantworter zu unterbrechen, nahm Rob ihr das Telefon aus der Hand, beendete die Verbindung und gab die Nummer von Yoshiharas Büro ein, die er sich bei dem zweiten Anruf aufgeschrieben hatte. Er drückte auf die Ruftaste, dann reichte er Katharine wieder das Handy.
Die Sekretärin meldete sich, und Katharine nannte ihren Namen. »Ist mein Sohn da?« fragte sie erregt. »Ist er auf dem Anwesen?«
»Dr. Jameson dachte, dass er ihn hier besser behandeln könnte als ...«
»Nein!« unterbrach Katharine sie. »Ich möchte, dass er ins Maui Memorial Hospital gebracht wird. Oder nach Honolulu. Ich möchte nicht, dass Dr. Jameson ...«
»Ich fürchte, ich bin nicht befugt, derartiges zu veranlassen, Mrs. Sundquist«, antwortete Yolanda Umiki, und ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran, dass sie nur von Takeo Yoshihara Anweisungen entgegennahm. »Wenn Sie herkommen, Mrs. Sundquist, wird Mr. Yoshihara Ihnen die Situation erklären.«
Katharine zögerte. Sie wusste nicht, ob sie auf ihre nächste Frage eine ehrliche Antwort bekommen würde. Aber sie konnte das Gespräch nicht beenden, ohne diese Frage gestellt zu haben. Schließlich brachte sie die Worte hervor. »Sagen Sie mir eines, lebt Michael noch?«
Takeo Yoshiharas Assistentin antwortete nicht sofort. Doch dann sagte sie: »Ich habe nichts gegenteiliges gehört.«
Als Katharine die Verbindung unterbrach, glaubte sie, eine gewisse Sympathie in Yolanda Umikis Stimme gehört zu haben. Aber warum hatte sie sich so seltsam ausgedrückt?
Hatte sie ihr sagen wollen, dass Michael noch lebte, ohne gegen eine Anweisung Yoshiharas zu verstoßen, dass sie keinerlei Informationen weitergeben sollte? Oder hatte sie sich einfach nicht getraut, ihr die schlimme Nachricht mitzuteilen? Katharine sah Phil Howell mit tränenfeuchten Augen an. »Bitte«, flüsterte sie. »Versuchen Sie es weiter. Ich weiß nicht, was sie vorhaben, aber wenn wir es nicht herauskriegen, wird mein Sohn sterben.«
Wie in Trance ließ sich Katharine von Rob aus dem Gebäude führen. Weniger als eine Minute später saß Rob am Steuer ihres Wagens, während sie zitternd auf dem Beifahrersitz saß. In rasender Fahrt jagten sie über die Insel zurück zu Yoshiharas Anwesen.
Josh Malani lehnte an der Wand aus Plexiglas. Durch den bräunlichen Nebel, der um ihn herum waberte, starrte er in den leeren Raum, in dem der Kasten stand, worin er und Jeff Kina gefangen waren. Er wusste nicht, wie lange er schon hier war. In dem Raum gab es kein Fenster, und die Beleuchtung änderte sich nie.
An der Wand hing keine Uhr.
Das letzte, woran er sich noch erinnerte, war, dass er nach Sprecklesville gefahren war, weil er gedacht hatte, es werde ihm guttun, an der frischen Luft zu sein und vielleicht etwas zu schwimmen.
Schwach erinnerte er sich, dass er neben dem Truck zusammengebrochen war. Er hatte sich so schlecht gefühlt wie noch nie in seinem Leben.
Er hatte sich gefühlt, als müsse er sterben.
Dann war plötzlich jemand gekommen, hatte ihm aufgeholfen und ihn auf den Rücksitz eines Wagens gesetzt.
Als nächstes erinnerte er sich daran, dass er aufgewacht war und sich wieder gut gefühlt hatte.
Das beklemmende Gefühl in seiner Brust war verschwunden, und sein ganzer Körper schien mit Energie geladen. Doch dann hatte er die Augen geöffnet und gemerkt, dass etwas nicht in Ordnung war.
Zunächst einmal war da der Nebel; außerdem war er nackt.
Er lag auch nicht in einem Krankenhausbett.
Er lag überhaupt nicht in einem Bett.
Er lag auf einer Koje, und der braune Nebel erschwerte ihm die Sicht. Abgesehen davon fühlte er sich gut. Er richtete sich auf und sah, dass er nicht allein war.
Auf einer anderen Koje, etwa zwei Meter von ihm entfernt, lag noch jemand. Nachdem er die letzten Reste von Schläfrigkeit abgeschüttelt hatte, erkannte Josh, wer es war. Jeff Kina. Jeff schlief noch. Josh erhob sich, ging auf ihn zu und berührte ihn leicht. Jeff erwachte, ließ sich auf den Boden rollen und kauerte dort, als wolle er sich jeden Augenblick auf Josh stürzen.
»He, Jeff, ich bin's«, sagte Josh und wich unwillkürlich zurück. Zuerst hatte er geglaubt, dass Jeff ihn gar nicht erkannte, aber dann wurde der andere langsam wieder ruhiger und setzte sich auf den Betonboden. Er starrte Josh nur an, und als er endlich etwas sagte, klang seine Stimme rauh, fast guttural. Auch wenn er offenbar nicht mehr vorhatte, Josh anzugreifen, sah er ihn doch mit dem starren Blick eines Raubtiers an, das seine Beute im Visier hat.
»Dich haben sie also auch.«
Zunächst verstand Josh gar nicht, was Jeff überhaupt meinte, aber dann fiel es ihm wieder ein - das Zuckerrohrfeld!
Der Wagen, der an der Einmündung der Straße geparkt hatte und in das Feld gerast war, als er selbst davonfuhr.
Und der andere Wagen, der mit dem Blaulicht. Er hatte ihn für ein Polizeiauto gehalten, das ihm aber nicht gefolgt war, obwohl er auf seiner Flucht vor dem Feuer mit viel zu hoher Geschwindigkeit an ihm vorbeigefahren war.
Vor dem Feuer, in dem er Jeff im Stich gelassen hatte.
»Es ... es tut mir leid«, flüsterte er. »Ich hätte dich ...« Er zögerte und sagte dann: »Ich hätte dich nicht allein lassen dürfen.«
»Du meinst, du hättest dich nicht aus dem Staub machen dürfen«, murrte Jeff. Er funkelte Josh böse an und spannte seine Muskeln. Josh bereitete sich auf einen Angriff vor.
Jeff Kina war fast zwei Köpfe größer und viel schwerer als er, aber bislang hatte Josh noch nie Angst vor ihm gehabt.
Doch jetzt spürte er, dass Jeff sich zusammenreißen musste, um sich nicht auf ihn zu stürzen. »Was haben sie getan?« flüsterte er, und man sah ihm die Furcht an, die tief in ihm saß. »Wer sind sie? Was haben sie mit uns gemacht?«
Einen schrecklichen Augenblick lang sah Josh, wie es in Jeff brodelte, doch dann sackte der Junge zusammen.
»Wir werden sterben«, sagte er. »Wie Kioki. Wir werden sterben.«
»Warum?« fragte Josh. »Was weißt du?«
»Ich weiß gar nichts. Ich weiß nichts, und wir können niemanden fragen.«
Josh begann die Plexiglaswand abzusuchen. Jeden Zentimeter tastete er auf der Suche nach einem möglichen Ausgang ab. Immer wieder drehte Josh seine Runde in dem Rechteck, wie eine Ratte in einem Irrgarten. Er hörte nicht auf zu suchen.
Eine Stunde lang, vielleicht zwei.
Vielleicht auch länger.
Am Anfang hatte Jeff ihn beobachtet, seine Bewegungen verfolgt, und Josh hatte darauf geachtet, ihm nicht den Rücken zuzukehren. Aber die Zeit verstrich, und als Jeff regungslos auf dem Boden sitzen blieb, hatte sich Josh mehr auf das Gefängnis aus Plexiglas konzentriert als auf seinen Freund.
Schließlich war Jeff wieder auf seine Koje gekrochen und eingeschlafen.
Trotzdem schien es Josh, als seien noch Augen auf ihn gerichtet, und er suchte den Raum außerhalb der durchsichtigen Wände ab.
Dann sah er die Kameras.
Es waren vier. Alle waren auf die Box gerichtet und verfolgten jede seiner Bewegungen aus jedem Winkel.
Vor diesen alles sehenden Augen konnte man sich nicht verstecken.
Nach einer Weile war auch Josh eingeschlafen, doch plötzlich wurde er mit einem Schlag hellwach. Er rollte sich zusammen und ließ sich von seiner Koje fallen. Dann kauerte er sich auf den Boden.
Jeff Kina hatte sich über seine Koje gebeugt. »Schon gut«, sagte er. »Ich wollte dir nichts tun, Mann.«
Von diesem Zeitpunkt an hatten sie sich mißtrauisch wie zwei Käfigtiere beäugt. Immer wieder waren sie aus dem Schlaf aufgeschreckt, und wenn sie nicht auf dem Boden oder ihren Kojen dösten, schlichen sie durch ihr Gefängnis.
Zweimal war ein weißgekleideter Mann in den Raum gekommen, hatte Essen in die Luftschleuse der undurchdringlichen Box gestellt und war wortlos davongegangen.
Schließlich hatte der Hunger gesiegt, und sie hatten gegessen.
Irgendwann - Josh hatte keine Ahnung, wie lange es her war - hatte jemand von außen die Klinke an der Tür heruntergedrückt, die in einen anderen Raum führte.
Diesmal war die Tür jedoch nicht aufgegangen, und der weißgekleidete Mann hatte auch kein Essen gebracht. Josh wurde klar, was die Bewegung des Türgriffs bedeutete - jemand versuchte hereinzukommen, aber er hatte keinen Schlüssel.
»Hilfe!« rief er. »Helfen Sie uns!« Aber noch während er die Schreie ausstieß, hatte er das Gefühl, als könne ihn sowieso niemand hören. Wenn sie nicht nach draußen sehen sollten, wenn sie nicht wissen sollten, wo sie waren und wie spät es war, dann würden ihre Entführer auch zu verhindern wissen, dass man sie hörte.
Trotzdem hatte er es noch einmal versucht.
»Bitte! rief er. »Bitte, lassen Sie uns raus.«
Der Griff hatte sich noch einmal gesenkt, aber dann war alles wieder ruhig geworden.
Seitdem hatte Josh auf dem Boden gesessen und die Tür angestarrt.
Er hatte das Gefühl, als würde bald etwas geschehen, auch wenn sich in dem Raum nichts geändert hatte. Das Licht blieb grell und schattenlos, die Wände leer und der Nebel in der Box graubraun. Er wusste, dass auch Jeff Kina seine Anspannung spürte.
Jeff saß auf dem Boden, den Rücken an die Wand gelehnt. Er hatte die Knie gegen die Brust gedrückt.
Auch er beobachtete die Tür.
Die Zeit stand still. Sie schwiegen.
Josh ließ die Tür nicht aus den Augen.
Als sich der Griff bewegte, merkte Josh es sofort. Er richtete sich etwas auf und spürte, wie das Adrenalin heiß durch seinen Körper schoß.
Der Türgriff senkte sich, das Schloß klickte, und die Tür ging auf.
Zwei Männer kamen herein. Der Mann, der das Essen brachte, war nicht dabei.
Einer der beiden Männer war ein haole, der andere ein Japaner.
Beide trugen Anzüge. Auch wenn Josh den Japaner noch nie gesehen hatte, strahlte er doch eine solche Autorität aus, dass er sofort wusste, um wen es sich handelte.
Takeo Yoshihara.
Josh zog die Augen zusammen und spannte die Muskeln an.
»Sind sie gefährlich, Dr. Jameson?« fragte Takeo Yoshihara. Er schien die Frage jedoch nicht aus Angst, sondern lediglich aus beiläufigem Interesse zu stellen. Schließlich war auch das Plexiglas zwischen ihnen.
»Eher nein«, antwortete Jameson. »Sie sind beide nervös und erschöpft, aber keiner der beiden hat bislang wirklich aggressives Verhalten gezeigt. Es scheint eher so, als wären einige ihrer Sinne besonders angeregt.«
»Interessant«, murmelte Yoshihara. Er ging um die Box herum, und Josh folgte ihm mit seinem Blick und drehte sich dabei mit dem Mann, bis dieser seinen Kreis abgeschritten hatte. »Sehr interessant«, sagte Yoshihara anschließend. »Ich habe vor Jahren in Indien einen Tiger im Käfig gesehen. Er hat mich mit der gleichen Intensität angesehen.« Er lächelte, aber es war ein kaltes Lächeln. »Ich nehme an, er wollte mich verspeisen.« Sein Blick fiel wieder auf Josh. »Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit für psychologische Studien. Aber vielleicht erfahren die Ärzte ja auch bei der Autopsie eine ganze Menge. Sie sollen der Hirnstruktur besondere Aufmerksamkeit zuwenden.«
Als die Worte bis zu Josh durchdrangen, traf es ihn wie einen Schlag. Er zitterte am ganzen Körper.
Aber dann sah er zu Jeff hinüber und wusste, dass auch sein Freund die Worte verstanden hatte. Wut verzerrte sein Gesicht, und seine Muskeln traten hervor. Mit einem heiseren Schrei warf er sich gegen das Plexiglas, so kraftvoll, dass der Kasten erzitterte. Mit blutender Nase sackte er auf dem Boden zusammen. Doch sofort rappelte er sich wieder auf und warf sich gegen die durchsichtige Barriere.
»Nein!« schrie Josh. Blut quoll aus dem Mund seines Freundes. »Jeff, laß es sein!«
In seiner Raserei hörte ihn Jeff nicht mehr. Wieder stürzte er zu Boden, nur um ein drittes Mal gegen die Wand anzurennen. Er fuhr mit den Fingernägeln an dem Plexiglas entlang, hinterließ aber kaum sichtbare Spuren. Schließlich trat er mit bloßen Füßen gegen die Wand und stieß einen verzweifelten Schrei aus, als der Schmerz von seinen gebrochenen Zehen durch seinen Körper schoß.
»Hör auf, Jeff!« Josh warf sich auf seinen Freund und versuchte ihn auf den Boden zu ziehen.
Jeff schüttelte ihn ab wie ein Kind und warf sich erneut gegen die Wand.
Takeo Yoshihara und Stephen Jameson standen vor dem Käfig und beobachteten ihn.
Schließlich sagte Yoshihara: »Spülen Sie den Käfig.«
Josh, dem Jeffs nicht einmal allzu heftiger Schlag den Atem genommen hatte, lag auf dem Boden und schnappte nach Luft. Jeff warf sich noch immer gegen die Wände. Seine blutenden Hände hinterließen schmierige, rotbraune Flecken auf dem Glas. Plötzlich veränderte sich die Luft in der Box.
Der braune Nebel klarte auf.
Und Josh Malani spürte den Schmerz in seiner Brust.
Er versuchte sich aufzurappeln, schaffte es aber nicht. Er kroch über den Boden und streckte eine Hand nach den Männern aus, die vor dem Käfig standen und sie ansahen. »Helfen Sie uns«, flehte er. »Bitte, helfen Sie uns doch ...«
Jeff Kina wand sich auf dem Boden. Er hielt sich den Hals und versuchte die sauerstoffreiche Luft einzuatmen, die nun in die Box strömte statt der giftigen Dämpfe, die ihr Gefängnis eben noch erfüllt hatten. Josh kroch auf ihn zu und umklammerte seine Hände.
»Sie bringen uns um, Jeff«, flüsterte er. »O Gott, sie töten uns!«
Noch einmal wollte Jeff sich aufrichten, um sich noch einmal zu wehren, aber er spürte bereits, wie seine Kräfte ihn verließen und Dunkelheit ihn umgab. »Mama ...«, flüsterte er. »Mama ...« Seine Stimme erstarb, er zuckte hin und her und lag dann völlig regungslos da.
Josh Malani hörte noch, wie Takeo Yoshihara sagte: »Interessant, dass der Größere zuerst stirbt.« Dann hüllte auch ihn Dunkelheit ein.