PROLOG

Los Angeles

Irgendwie hätte es anders sein sollen.

Alles sollte doch besser werden, nicht schlechter.

Das hatten sie ihm versprochen - alle hatten das getan.

Zuerst der Arzt: »Wenn du die Tabletten nimmst, geht es dir besser.«

Dann sein Trainer: »Du musst dich eben anstrengen. Ohne Fleiß kein Preis.«

Sogar seine Mutter: »Versuch einfach, jeden Tag ein Stückchen weiterzukommen, mach nicht alles auf einmal.«

Also hatte er die Tabletten geschluckt, und er hatte sich angestrengt und zugleich darauf geachtet, dass er sich nicht übernahm. Und es schien auch tatsächlich besser zu werden, letzte Woche. Obwohl der Smog so dicht über der Stadt hing, dass sich die meisten seiner Freunde früh aus der Schule verabschiedet hatten und an den Strand gegangen waren, wo der Küstenwind frische Luft vom Meer heranbrachte, hatte er alle seine Stunden absolviert. Nach dem letzten Läuten hatte er im Umkleideraum seine Laufshorts angezogen und sich auf der Laufstrecke an seine vier Aufwärmrunden gemacht, die der eigentlichen Arbeit an den Hürden stets vorangingen.

Denn im Hürdenlauf wollte er an seinem achtzehnten Geburtstag Sieger der State Championships werden. Dafür trainierte er.

Letzte Woche hatte es einen Tag gegeben, an dem die Tabletten endlich zu wirken schienen. Er war allein auf der Strecke gewesen. Eigentlich hatte er erwartet, dass ihm schon nach der Hälfte der ersten Runde die Luft ausgehen würde, aber noch als er durch die letzte Kurve lief, spürte er die Energie in seinem Körper, spürte, wie seine Lunge den Sauerstoff mühelos pumpte. Sein Herzschlag war kaum erhöht. In Runde zwei und drei lief er sogar noch etwas schneller, fühlte sich aber noch immer gut dabei - richtig gut. Deshalb hatte er in der vierten Runde noch einmal alles gegeben, und es war plötzlich wieder wie vor einigen Monaten gewesen, als er sich immer großartig gefühlt hatte. Aber an jenem Tag in der letzten Woche fühlte er sich besser als je zuvor. Seine Lunge hatte so viel Luft eingeatmet, und sein ganzer Körper hatte positiv darauf reagiert. Statt des schwachen brennenden Schmerzes, den er sonst nach der Aufwärmmeile spürte, fühlte er nur ein angenehmes Kitzeln in den Muskeln. Seine Brust hob und senkte sich in einem gleichmäßigen Rhythmus, der mit seinem regelmäßigen Herzschlag in Einklang war. Alle Teile seines Körpers schienen wieder zu harmonieren. Er war an diesem Tag sogar noch ein paar Extrarunden gelaufen, so sehr hatte er die neue Kraft genossen. Endlich zeigten die Tabletten Wirkung. Später, als er die Hürden aufbaute, setzte er sie im gleichen Abstand wie sonst, aber etwas höher.

Er flog förmlich über sie hinweg, ohne auch nur eine einzige zu streifen. Er fühlte sich nahezu schwerelos, während er mühelos die Hindernisse überwand.

Als er sich zwei Stunden später wieder auf den Weg zu den Umkleideräumen machte, war er nicht einmal außer Atem. Sein Herz schlug leicht, und seine Beine fühlten sich an, als wäre er vielleicht eine halbe Stunde leicht getrabt und hätte nicht zweieinhalb Stunden Spurten und Springen hinter sich.

Doch am nächsten Tag brach all das über ihm zusammen.

Kaum hatte er das erste Viertel einer Runde zurückgelegt, als er wieder dieses bekannte, beklemmende Gefühl in der Lunge spürte, und sein Herz schlug so heftig wie auf der Zielgerade eines Zehn-Kilometer-Laufs. Er machte weiter und versuchte sich einzureden, dass dies nur eine ganz natürliche Reaktion auf den gestrigen Tag sei, an dem er seinen Körper überanstrengt hatte. Aber als er die erste Runde beendete, wusste er, dass es keinen Sinn hatte. Er bog von der harten Erde der Bahn ab und ließ sich auf den Rasen fallen. Auf dem Rücken liegend, starrte er in den blauen Himmel und kniff die Augen zum Schutz gegen die grelle Nachmittagssonne zu. Was, zum Teufel, war nur los? Gestern hatte er sich großartig gefühlt. Heute fühlte er sich wie ein alter Mann.

Er weigerte sich, dem Schmerz in seiner Lunge nachzugeben, ignorierte sein heftig pochendes Herz und das Ziehen in seinen Beinen. Als sein Trainer zu ihm kam und fragte, ob alles in Ordnung sei, wehrte er ab. Es sei nur ein Krampf, sagte er und rieb sich den rechten Wadenmuskel, um seine Lüge glaubhafter zu machen. Der Trainer hatte ihm geglaubt - oder zumindest so getan, was ihm ebenso recht war -, und er war aufgestanden und wieder auf die Bahn gegangen.

Er schaffte vier Runden, die letzte jedoch nur in einem Tempo, das eher einem zügigen Gehen glich.

Der Trainer hatte ihn angeschnauzt: Er solle sich mehr anstrengen oder nach Hause gehen.

Er hatte sich angestrengt, aber schließlich gab er doch auf und ging nach Hause.

Und seitdem war es mit jedem Tag schlimmer geworden. Und mit jedem Tag musste er stärker gegen den Schmerz ankämpfen.

Vorgestern war er beim Arzt gewesen, das viertemal seit Silvester, und auch diesmal hatte der Arzt nichts finden können. Wieder einmal hatte er die gleichen Fragen beantwortet. Ja, es sei ihm gut gegangen, als er nach Silvester mit seiner Mutter von Maui zurückgekehrt sei. Nein, sein Vater sei nicht dabeigewesen. Er war mit seiner neuen Frau und ihrem Baby zum Grand Canyon gefahren. Nein, es mache ihm nichts aus, dass sein Vater nicht mit nach Maui gekommen sei - im Gegenteil, er war heilfroh, dass seine Mutter seinen Dad endlich in die Wüste geschickt hatte, weil es seinem Dad offenbar Spaß gemacht hatte, sie beide zu verprügeln, wenn er besoffen war, was in den letzten beiden Jahren praktisch jeden Tag passierte, bevor er endlich abhaute. Nein, er hasse seinen Vater nicht. Er möge ihn nicht besonders und sei froh, dass er fort sei, aber er hasse ihn nicht.

Er hasste nur die Schmerzen in seinem Körper.

Der Doktor hatte vorgeschlagen, dass er vielleicht einen Psychiater aufsuchen solle, aber das würde er bestimmt nicht tun. Nur Spinner und Verlierer gingen zum Psychiater. Was immer mit ihm nicht stimmte, er würde es allein überwinden. Doch in den vergangenen beiden Tagen war der Schmerz fast unerträglich geworden. Er hatte Alpträume und wachte nach Luft schnappend auf. Schließlich hatte er unablässig Schmerzen, überall in seinem Körper.

Irgendwann kam ihm der Gedanke, dass es besser sei, zu sterben als mit diesen Schmerzen leben zu müssen. An diesem Tag hatte er sich vorzeitig aus der Schule verabschiedet und war mit dem Wagen durch die Gegend gefahren, bis ihn ein Polizist anhielt und ihm wegen seines defekten Auspufftopfs einen Strafzettel verpaßte. Was, zum Teufel, sollte er jetzt tun? Er hatte nicht genug Geld, um den Strafzettel zu bezahlen, geschweige denn, den Auspuff reparieren zu lassen. Wozu eigentlich der ganze Aufstand? Der Auspuff machte doch kaum Krach, und im Wagen roch es auch nicht besonders stark. Aber seine Mutter würde ihm trotzdem die Hölle heiß machen, und sein Vater würde ihm einen endlosen Vortrag darüber halten, wieviel Geld es ihn kostete, zwei Familien zu unterhalten, wenn er ihn bat, ihm für die Reparatur etwas zu leihen.

Was für ein Mist!

Er bog in die von Bäumen gesäumte Straße ein, in der er sein Leben lang gewohnt hatte, und drückte auf den Knopf der Fernbedienung, die das Garagentor öffnete, als er noch zwei Häuser entfernt war. Er bog in dem Augenblick in die Auffahrt ein, als sich das Tor gerade ganz geöffnet hatte. Wie von selbst begann er das Spiel, das er jeden Nachmittag gegen sich selbst spielte. Er drückte erneut auf die Fernbedienung und versuchte so in die Garage zu fahren, dass sich das Tor gerade hinter dem Heck des Wagens herabsenkte.

Heute schätzte er die Geschwindigkeit falsch ein. Mit einem lauten Knall schlug das Garagentor gegen die hintere Stoßstange. Jetzt hatte er nicht nur für einen Strafzettel und einen kaputten Auspuff geradezustehen, sondern auch noch für die Kratzer am Wagen und an der Garagentür.

Und ihm tat alles weh.

Vielleicht sollte er nicht gleich ins Haus gehen, sondern erst mal ein Weilchen sitzen bleiben.

Einfach dasitzen und abwarten.

Ein Gefühl der Wärme breitete sich in ihm aus und vertrieb die Schmerzen, die er so lange ertragen hatte. Plötzlich sah alles rosiger aus.

Vielleicht hatte er die Lösung all seiner Probleme gefunden.

Ohne seine Mutter.

Ohne seinen Trainer.

Selbst ohne seinen Arzt.

Der Junge schloß die Augen und atmete tief ein. Zum erstenmal seit Wochen spürte er keine Schmerzen mehr.

Für seine Mutter war der Tag nicht viel besser gelaufen als für ihn. Angefangen hatte es mit einem morgendlichen Anruf ihres Exmannes, der sie bedrängte, die Höhe der Unterhaltszahlungen neu auszuhandeln. Mit anderen Worten: Die Blondine, mit der er sich aus dem Staub gemacht hatte, brauchte mehr Geld. Nun, diese Idee hatte sie ihm schnellstens ausgeredet. Gegen Mittag fand sie dann heraus, dass eine Kollegin, die ein Jahr weniger Berufserfahrung hatte, den Platz im Vorstand bekommen sollte, der eigentlich ihr zugestanden hätte. Jetzt hatte sie zwei Möglichkeiten: ein weiteres Jahr zu warten oder sich auf Jobsuche zu machen. Die Antwort kannte sie allerdings bereits: Sie würden sie auch in einem Jahr nicht zum Partner machen, und deshalb konnte sie sich auch gleich mit den Headhunters in Verbindung setzen.

Als sie gerade zu der Überzeugung gekommen war, dass jetzt das Schlimmste überstanden sei, rief der Arzt an, um ihr einen guten Psychiater für ihren Sohn zu empfehlen. Aber bevor sie ihn zu einem Seelenklempner schickte, würde sie ihn auf alle Fälle noch von jemand anderem untersuchen lassen. Doch wahrscheinlich würde die Krankenversicherung dafür nicht aufkommen, und die Reise nach Maui hatte ihre Kasse schon bis zum Limit strapaziert.

Aber ihr würde schon noch etwas einfallen.

Als sie in die Auffahrt bog, drückte sie auf die Fernbedienung, bremste den Wagen ab und wartete darauf, dass sich das Garagentor hob.

Mehr noch als die Gase, die aus der Garage drangen, sagte ihr das Geräusch des laufenden Motors, dass etwas nicht stimmte. Sie rammte den Automatikhebel in Parkstellung, riß die Tür auf und stürzte aus dem Wagen in die Garage.

Ihr Sohn saß in seinem Auto. Seine Beine ruhten auf dem Beifahrersitz, und er lehnte mit dem Rücken an der Fahrertür. Sein Kopf hing auf der Brust.

Sie unterdrückte einen Schrei und zerrte am Türgriff.

Verschlossen!

Sie lief um den Wagen herum und versuchte es an der Beifahrertür, während sie den Namen ihres Sohnes rief.

Nichts!

Halt!

Hatte er sich nicht bewegt?

Sie hielt die Hand über die Augen und starrte in den Wagen.

Seine Brust bewegte sich. Er atmete noch.

Die Gase in der Garage drangen in ihre Lunge, und sie musste husten. Nervös angelte sie nach dem Schlüssel, der an einem Nagel unter der Werkbank hing, schloß die Tür zur Küche auf und griff nach dem Telefon. »Mein Sohn!« schrie sie, als sich eine Stimme der Notrufzentrale meldete. »O mein Gott, ich brauche einen Krankenwagen!«

Eine bedächtige Stimme fragte sie ruhig nach ihrer Adresse.

Ihr Kopf war plötzlich vollkommen leer. »Ich ... ich kann nicht...« Schließlich fiel es ihr wieder ein, und sie platzte mit der Hausnummer heraus. »North Maple, zwischen Dayton und Clifton. Machen sie schnell! Er hat sich in seinem Wagen in der Garage eingeschlossen, und ...«

Die gelassene Stimme unterbrach sie. »Bleiben Sie ganz ruhig, Ma'am. Ein Wagen ist bereits unterwegs.«

Sie ließ den Hörer auf die Arbeitsfläche fallen und rannte in die Garage zurück. Sie musste den Wagen aufkriegen - irgendwie. Ein Hammer. Am anderen Ende der Werkbank hatte doch immer ein Vorschlaghammer gestanden. Sie zwängte sich zwischen Motorhaube und Bank hindurch und betete im stillen, dass ihr Exmann den großen Hammer nicht einfach mitgenommen hatte. Er hatte nicht - der Hammer stand genau da, wo er immer gestanden hatte. Sie packte den Griff mit beiden Händen, schwang den Hammer und ließ den breiten Metallkopf mit aller Kraft in das Beifahrerfenster des Wagens krachen. Das Sicherheitsglas zersprang in Tausende kleiner Splitter. Die Frau ließ den Hammer fallen, griff durch das zerbrochene Fenster und öffnete von innen die Tür. Sie riß sie auf, beugte sich über ihren Sohn und zog den Zündschlüssel ab. Das donnernde Motorengeräusch erstarb und wurde in der nächsten Sekunde vom durchdringenden Geheul einer sich nähernden Sirene abgelöst. Sie packte die Fußgelenke ihres Sohnes und versuchte ihn aus dem Wagen zu ziehen, aber noch bevor ihr das gelang, schoben sie zwei weißgekleidete Sanitäter sanft beiseite, schafften den Jungen heraus und preßten ihm eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht. Als sie sah, dass er sich bewegte, befreite sie sich langsam aus der Umklammerung der Panik.

»Er kommt zu sich«, versicherte ihr einer der Nothelfer, als sie den Jungen aus der Garage trugen und auf eine Bahre legten. »Sieht aus, als würde er es schaffen.«

Als die Sanitäter ihren Sohn in den Krankenwagen schoben und die Tür schlossen, wand sich der Junge hin und her.

»Ich will mitkommen!« bat die Frau. »Bitte! Es ist doch mein Sohn.«

Die Türen des Krankenwagens öffneten sich noch einmal, und die Frau stieg ein. Mit heulender Sirene raste der Wagen zum Cedars-Sinai Hospital, das fast zwanzig Blocks entfernt war.

Die Fahrt schien ewig zu dauern, und die Frau musste hilflos zusehen, wie ihr Junge sich gegen die beiden Sanitäter zu wehren schien, von denen der eine ihn festhielt, während der andere ihm die Sauerstoffmaske aufs Gesicht drückte. Sie ergriff die Hand ihres Sohnes und versuchte ihn zu beruhigen, und schließlich gab er seinen Kampf auf und lag ganz ruhig da. Gerade als der Krankenwagen in die Einfahrt zur Notaufnahme einbog, spürte die Frau plötzlich, wie die Hand ihres Sohnes erschlaffte. Er lag völlig regungslos auf der Bahre.

Einer der Sanitäter fluchte leise.

Alles in ihr spannte sich an, und als die Türen von außen aufgerissen wurden, stieg sie ganz langsam wie in Trance aus dem Krankenwagen.

Die Sanitäter eilten mit ihrem Sohn in die Notaufnahme, wo ein Ärzteteam darauf wartete, ihn zu übernehmen.

Hinter der Bahre ging sie ins Krankenhaus.

Schweigend sah sie zu, wie die Ärzte sich abmühten, aber sie ahnte bereits, was kommen würde.

Und schließlich hörte sie die gleichen Worte, die sie zum erstenmal vom Arzt ihres Sohnes und dann von den Sanitätern gehört hatte: »Ich verstehe das nicht - er müsste okay sein.«

Aber ihr Sohn - ihr geliebter, wunderbarer Sohn - war nicht okay.

Ihr Sohn war tot.

Загрузка...