KAPITEL 3

Michael blickte auf die Inseln hinunter, die aus dem scheinbar unendlichen Blau des Meeres auftauchten. Drei Monate! Drei lange Monate! Was sollte er hier drei Monate lang machen? Ein, zwei Wochen, klar. Aber ein Vierteljahr? Er konnte es noch immer kaum glauben, dass seine Mutter ihn von der Schule genommen hatte, kurz vor seiner Aufnahme ins Leichtathletikteam. Immerhin konnte er sich denken, warum sie es getan hatte.

Der Schnitt und das blaue Auge hatten sie sicherlich in ihrem Entschluß bestärkt. Wenn es ihm an jenem Tag gelungen wäre, Slotzky zu entwischen ...

Aber er war ihm nicht entwischt, und deshalb war er jetzt hier, mitten im Ozean. Er kannte hier niemanden und hatte nie zu denen gehört, die schnell Freundschaften schlossen. Immer hatte er Angst gehabt, dass sein Asthma ihm irgendwie im Weg stehen könnte. Was also sollte er tun, solange seine Mutter an der Ausgrabungsstelle arbeitete? Nach dem, was sie erzählt hatte, gab es nicht mal eine größere Stadt auf Maui - nur ein paar Ortschaften, und sie würden nicht einmal in einem dieser Orte wohnen. Andererseits sah die Insel wirklich wunderschön aus, und es bestand immerhin die Möglichkeit, dass seine Mom ihm doch noch erlauben würde, einen Tauchkurs zu machen. Jetzt erinnerte er sich daran, dass sein Vater ihm versprochen hatte, mit ihm zu tauchen, sobald er kräftig genug wäre, die Flaschen zu heben. Aber dann ...

Das Bild des brennenden Flugzeugs, in dem Tom Sundquist gestorben war, stieg in Michael auf, und er spürte das flaue Gefühl im Magen, das er jedesmal empfand, wenn er sich an den Morgen erinnerte, an dem sein ganzes Leben buchstäblich vor seinen Augen explodiert war. Und gerade jetzt, als sich die Dinge wieder etwas zum Guten zu wenden schienen, musste er mit seiner Mom zu diesem Flecken am Ende der Welt fliegen. »Darf ich wenigstens tauchen lernen?« fragte er und sah aus dem Fenster auf die Insel hinab.

Die traurige Stimme ihres Sohnes versetzte Katharine einen Stich. Es war ihr nicht ganz gelungen, ihn davon zu überzeugen, dass diese Sache ein einziges großes Abenteuer werden würde. Aber immerhin hatte er schließlich zugestimmt und sich darauf verlegt, sie zu überreden, dass sie ihn tauchen lernen ließ. Anstatt sofort und strikt nein zu sagen, hatte sie den bequemen, aber feigen Ausweg gewählt. »Wir werden sehen«, wiederholte sie auch jetzt wieder, nicht ohne sich zu fragen, wie lange sie den Streit noch hinauszögern konnte, der unweigerlich kommen würde, wenn sie ihm klipp und klar sagte, dass sie die Vorstellung nicht ertragen konnte, wie er dreißig Meter unter Wasser sein Leben riskierte. Aber daran, wie er bei ihrer Ausflucht das Gesicht verzog, merkte sie, dass er die endgültige Antwort bereits kannte. Auch um das Thema zu beenden, beugte sie sich über ihren Sohn und blickte interessiert aus dem Fenster.

Eine Inselkette breitete sich unter dem Flugzeug aus. Es war ein vollkommen klarer Tag, und ein schneebedeckter Berggipfel erhob sich glitzernd vor einem Himmel, der noch blauer zu strahlen schien als das Meer. Während das Flugzeug herunterging, sah man die Inseln immer deutlicher, und dann hörten sie in den Lautsprechern die Stimme des Piloten:

»Rechts haben wir heute eine wunderbare Sicht auf Oahu. Die Passagiere auf der linken Seite können die Gipfel des Mauna Kea und des Mauna Loa auf der Großen Insel von Hawaii erkennen. In ein paar Minuten können wir in die Krater des Mauna Lao auf der Großen Insel und des Haleakala auf Maui schauen. Sie werden mühelos erkennen, welcher von beiden Vulkanen aktiv ist.«

Als das Flugzeug seine Höhe weiter verringerte, sah Katharine, wie der Rauch aus einer der aktiven Spalten an der Flanke des Haleakala aufstieg, aber dann lauschte sie wieder der Stimme des Piloten.

»Während wir Maui umfliegen, können die Passagiere auf der rechten Seite die Südwestküste der Insel sehen. Hier erstrecken sich die Ferienorte Wailea und Kihei, und viele Leute - darunter auch ich - meinen, dass es dort die schönsten Strände aller Inseln gibt. Denen, die hier Urlaub machen wollen, möchte ich ein erstes Aloha zurufen. Den Glücklichen, die hier leben - willkommen zu Hause.«

Das Flugzeug sank weiter und legte sich in die letzte Kurve. Durch das Fenster sah Katharine die Küste, die sich nach Lahaina wand, und dann kamen die wild zerklüfteten, in Grün gehüllten Vorsprünge der Berge West-Mauis in Sicht. Über dem Boden des Tals lag ein grüner Teppich.

Das Flugzeug landete, wurde langsamer und blieb nach einer Kurve vor dem langen, niedrigen Flughafengebäude von Kahului stehen. Kaum stand die Boeing 747, als Michael schon aus seinem Sitz gesprungen war. Er schob sich an Katharine vorbei, um nur ja schnell ihre Reisetaschen aus den Gepäckablagen über ihnen zu holen. Drei Minuten später verließ Katharine das Flugzeug und spürte zum erstenmal seit Monaten Luft auf ihrer Haut, die nicht künstlich erwärmt worden war. Schnell ging sie über die Gangway in den Ankunftsbereich. Michael stand schon vor den Glastüren, und als er sich umwandte, sah sie sein breites Grinsen.

Sie holte tief Luft, während die Türen vor ihr aufglitten, und als die blumige Luft ihre Lunge füllte, kam ihr nur ein Wort in den Sinn:

Sanft.

Nur dieses Wort konnte die Zartheit der weichen Brise ausdrücken.

Sanft.

»Kein bißchen wie in New York, soviel steht fest«, hörte sie ihren Sohn sagen.

Sie sah ihn fassungslos an. »Ich glaube es einfach nicht! Wir sind drei Monate im Paradies, und dir fällt nichts weiter ein als >es ist nicht wie New York

»Ach, Mom. Ich habe nicht gesagt, dass es mir nicht gefällt. Ich meine, das Wetter ist gar nicht schlecht. Es ist ...«

Aber Katharine hörte gar nicht mehr richtig hin. Sie hatte am Ende des langen Ganges jemanden entdeckt, den sie kannte.

Sie hatte ihn seit ihrem Examen nicht mehr gesehen, aber sie erkannte ihn sofort.

Rob Silver.

Er sah noch genauso schlank und kräftig aus wie vor zwanzig Jahren, aber seine attraktiven Züge waren etwas wind- und wettergegerbter, und in seinem wirren Haarschopf zeigten sich ein paar graue Strähnen. Seine funkelnden Augen, mit denen er sie ganz genau ansah, waren jedoch immer noch so blau wie in ihrer Erinnerung. Als er ihr einen duftenden Blumenkranz umlegte, sagte er genau die gleichen Worte, die auch ihr in den Sinn gekommen waren, als sie ihn gesehen hatte: »Mein Gott, du siehst noch besser aus, als ich dich in Erinnerung hatte.«

Während sie die Röte zu unterdrücken versuchte, die sich über ihre Wangen ausbreitete, reichte er ihrem Sohn die Hand. »Hi«, sagte er. »Du musst Michael sein. Ich bin Rob Silver.«

Michael zögerte. Sein Blick wanderte zwischen Rob und seiner Mutter hin und her, als versuche er ein Rätsel zu lösen, und als er schließlich die ihm dargebotene Hand schüttelte, spürte Katharine seine Zurückhaltung. »Schön, Sie kennenzulernen«, sagte er.

Als sie zur Gepäckabholung gingen, wusste Katharine, dass Michael sich keineswegs sicher war, ob er es schön fand, Rob Silver kennenzulernen.

Sie befürchtete sogar, dass er es eher nicht schön fand.

»Und du wirst tatsächlich noch dafür bezahlt, dass du hier draußen arbeiten darfst?« fragte Katharine, als Rob Silver seinen staubigen Ford Explorer auf einen vierspurigen Highway lenkte, der geradewegs auf den riesigen Berg hinauf zu führen schien, welcher die ganze südöstliche Hälfte von Maui einnahm. Die Fenster waren geöffnet, und obwohl die Passatwinde wehten, hatte die Brise nichts von dem beißenden Atem der Winterluft, die durch die Straßen von Manhattan gefegt war, die sie erst gestern verlassen hatten.

Rob sah sie schmunzelnd an. »Darf ich das als Hinweis verstehen, dass du umsonst arbeiten willst?«

»Das wohl kaum«, erwiderte Katharine. »Ich bin eine arme alleinerziehende Mutter, vergiß das nicht. Die arme, aber fröhliche Studentin von früher gibt es nicht mehr.«

»Oh, ich weiß nicht«, sagte Rob gedehnt. »Ich finde nicht, dass du dich sehr verändert hast.« Als er im Rückspiegel Michaels Blick begegnete, eine Mischung aus Mißtrauen und Ablehnung, hörte er sofort mit den Schmeicheleien auf. »Wie es nach diesem Projekt mit mir weitergeht, weiß ich allerdings auch noch nicht«, sagte er. »Ich habe meine Fühler zwar in Richtung Universität ausgestreckt, aber wahrscheinlich müsste ich erst zehn Leute umbringen, die vor mir dran wären.«

»Wie lange läuft dein Forschungsauftrag noch?« fragte Katharine.

Michael drehte sich auf dem Rücksitz um und sah aus dem Fenster auf die Zuckerrohrfelder, die sich an beiden Seiten der Straße entlangzogen. Er folgte dem Gespräch der beiden Erwachsenen nicht mehr. Konnten sie eigentlich immer nur über Geld reden? Manchmal kam es ihm vor, als wäre Geld das einzige, was seine Mutter und ihre Bekannten interessierte.

Aber Rob Silver schien sich noch für etwas anderes zu interessieren. Und der Blick, mit dem er seine Mutter angesehen hatte, verriet Michael, wofür. Er war davon überzeugt, dass seine Mutter und Silver auf dem College mehr als nur gute Freunde gewesen waren. Und offensichtlich wollte Rob Silver die alten Zeiten wieder aufleben lassen.

Seltsam, dass seine Mutter diesen Punkt nicht erwähnt hatte, als sie ihn davon überzeugen wollte, dass es eine gute Idee sei, nach Maui zu gehen. Während der Explorer nun durch die Felder rollte, begann Michael zu begreifen. Sicher, für seine Mutter war es großartig - sie hatte einen tollen Job, viel Geld und einen Mann, an dem sie auch nicht uninteressiert schien, so wie sie ihn am Flughafen angesehen hatte.

Jetzt saß er also hier, an einem Ort, wo er außer seiner Mutter keine Menschenseele kannte, und bis zu den Schulferien waren es nur noch sechs Wochen. Zu lange, um sich irgendwie von der Schule befreien zu lassen - er hatte es versucht, aber seine Mom wollte nichts davon hören -, und zu kurz, um neue Freundschaften zu schließen, egal was seine Mutter dazu sagte. Er hatte noch ihre Worte im Ohr. »Natürlich findest du dort schnell Freunde. Es ist nicht so wie in New York. Es wird ganz leicht.«

Aber es würde bestimmt nicht leicht werden. Michael wünschte, seine Mutter könnte verstehen, wie schwer es eigentlich war, sich einem Haufen Jugendlicher zu stellen, die man nicht kannte. Jugendliche, die einen vielleicht nicht leiden konnten. Oder die sich über einen lustig machten, so wie es ihm ergangen war, als er noch krank gewesen war. Nun, jetzt war er nicht mehr krank, das würde einiges ändern. Vielleicht blieb er doch nicht so allein, wie er befürchtete. Hoffentlich.

Eine riesige Rauchwolke, die links von ihm in den Feldern aufstieg, riß ihn aus seinen Gedanken. »Was ist das?« fragte er.

»Zuckerrohrfeuer«, erklärte Rob. »Sie brennen die Felder ab, weil es dann leichter ist, das Zuckerrohr zu ernten. So brauchen sie weniger Ballast herumzuschleppen. Wenn man hier wohnt, schließt man automatisch die Fenster, sobald man eine solche Rauchsäule sieht.«

»Aber wieso? Die ist doch ein paar hundert Meter entfernt«, sagte Michael. In diesem Augenblick wehte eine schwarze Rußwolke durchs Fenster, und als Michael sie wegwischen wollte, schmierte er sich sein ganzes Hemd voll. Rob lachte, und Michael spürte, wie er rot wurde.

»Das nennt man den Maui-Schnee«, sagte Rob.

Während der Wagen die Flanke des Haleakala hinaufstieg, wichen die Zuckerrohrfelder Ananasplantagen, die ihrerseits einige Kilometer weiter von Weideland abgelöst wurden. Aber dieses Land ähnelte kaum dem auf den Farmen im Staat New York. Diese Weiden leuchteten türkis-grün und waren mit Jacarandabäumen mit Lavendelblüten gesprenkelt.

Nach ein paar weiteren Kilometern bog Rob schließlich von der Straße ab. »Hier wirst du zur Schule gehen«, sagte er und nickte in Richtung einiger Gebäude zu ihrer Rechten. Michael sah aus dem Fenster auf ein Schulgelände, das keinerlei Ähnlichkeit mit seiner New Yorker Schule besaß. Dort hatte er einen riesigen Backsteinkasten besucht, mit eingezäuntem, asphaltiertem Schulhof, der zugleich als Sportplatz diente. Diese Schule hier bestand aus mehreren flachen Gebäuden, die im Schatten riesiger Bäume standen und von weiten Rasenflächen umgeben waren. Dahinter lagen ein Baseballfeld, Basketball- und Tennisplätze sowie ein Footballfeld und eine Laufbahn.

Ein halbes Dutzend Jugendliche liefen ihre Runden, und als sie an ihnen vorbeifuhren, schätzte Michael bereits ihre Schnelligkeit und ihre Ausdauer ein und verglich sich mit ihnen.

Seine Mutter drehte sich zu ihm um. »Gestehst du mir wenigstens zu, dass ich mit dem Leichtathletikteam recht hatte?«

Michael versuchte das Grinsen zu unterdrücken, das seine schlechte Laune bedrohte, aber er schaffte es nicht ganz. »Muss ich wohl, oder?« räumte er ein. »Und ich kann auch kaum behaupten, dass die Schule in New York schöner war.«

»Halleluja!« rief Katharine. »Vielleicht gibt es doch noch ein Leben nach New York.«

Nach etwa anderthalb Kilometern erreichten sie eine kleine Ortschaft. »Das ist Makawao«, sagte Rob. »Früher war es eine Cowboystadt, aber heute ist es die New-Age-Metropole von Maui. Hier sind alle möglichen Therapieschulen vertreten. Die meisten interessanten Leute wohnen hier, ich natürlich auch.«

Während der Explorer rechts abbog, sah Katharine zu ihrer Rechten eine lange Reihe mit Gebäuden, die aussahen, als dienten sie als Kulisse in einem Western.

»Sind die echt?« fragte sie.

Rob nickte. »Sie sind natürlich hergerichtet, aber im Grunde sind sie so geblieben, wie sie damals waren. Allerdings werden dort jetzt keine Sättel und kein Zaumzeug mehr verkauft, sondern Kräutertees und homöopathische Salben.«

Kurz hinter Makawao wurde die Straße schmaler und führte in einer Reihe von Haarnadelkurven steil den Berg hinauf. Bald wurde der tropische Wuchs um die Stadt herum von Eukalyptuswäldern abgelöst, dann kamen Pinien und Zedern. »Wohin fahren wir?« fragte Katharine schließlich.

»Zu eurem Haus«, sagte Rob. »Ich habe eins gefunden, das nahe bei der Ausgrabungsstelle liegt. Es ist nicht allzu prächtig, aber von dort ist es nur eine Viertelstunde bis zur Schulbushaltestelle.« Er sah in den Rückspiegel. Falls Michael zugehört hatte, hatte er jedenfalls nichts dazu zu sagen, und als Rob Katharine ansah, zuckte sie nur mit den Schultern. »Ich hoffe, es gefällt dir«, sagte Rob.

»Scheint ein bißchen weit weg von allem zu liegen, oder?« kommentierte Michael von hinten. »Ich meine, ich habe keinen Führerschein, und bis zur Stadt ist es furchtbar weit, oder?«

»Wie wär's mit einem Fahrrad?« schlug Rob vor.

Michael sah auf die steil ansteigende Straße hinaus. »Runter geht es vielleicht, aber wie soll man hier raufkommen? Mit fünfzig Gängen vielleicht.«

Mit dem Anflug eines schlechten Gewissen erkannte Rob, dass Michael recht hatte und er bei der Auswahl des Hauses seine Situation eigentlich gar nicht bedacht hatte. »Vielleicht habe ich tatsächlich einen Bock geschossen«, gab er zu. »Im Grunde habe ich wohl das Haus ausgesucht, das mir am besten gefallen hat. Aber wenn es euch wirklich nicht zusagt, könnt ihr euch ein anderes suchen, okay?«

Michael zuckte mit den Schultern, sagte aber nichts mehr.

Sie ließen einen Zedernwald hinter sich, und nachdem sie vorsichtig eine weitere Haarnadelkurve durchfahren hatten, bogen sie auf eine lange und schmale Straße, die von Eukalyptusbäumen gesäumt wurde. In einigem Abstand voneinander standen an beiden Seiten ein paar kleine, verwitterte Holzhäuser. Nach zweihundert Metern hatten sie das Ende der Straße erreicht. Dort war eine schmale Durchfahrt durch einen Zaun gebrochen worden, der gänzlich aus Eukalyptusscheiten bestand, die man zwischen die Stämme noch lebender Bäume geklemmt hatte. Hinter dem Zaun zeigte sich eine schattige Lichtung, in deren Mitte das zauberhafteste Haus stand, das Katharine je gesehen hatte.

Es war einstöckig und ganz von einer breiten Veranda umfasst. Das Dach war über der Vordertür leicht abgeknickt und ragte steil hinauf. Schon auf den ersten Blick erkannte Katharine, dass das Haus vollkommen rechteckig konstruiert war. Jede Seite des Daches wurde von einem kleinen Giebel durchbrochen. Die Pfeiler und Träger, welche die Veranda stützten, waren reich verziert, so dass das Haus trotz seiner grundlegend polynesischen Architektur etwas Viktorianisches ausstrahlte.

Drinnen gab es ein großes Wohnzimmer, eine Küche, zwei Schlafzimmer und ein Bad. Vor der Küche war ein Teil der Veranda umbaut worden und bildete so eine Art Wäscheraum.

Hinter dem Haus und dem Eukalyptuswald zog sich Weideland den Berg hinab, ein dichter Teppich, der hier und da von ein paar Eukalyptus- und Jacarandabäumen durchbrochen wurde. Hinter den Weiden öffnete sich der Blick auf beide Küsten der Insel, das Tal, das sie trennte, und die West-Maui-Berge, deren von Wind und Regen erodierte Flanken eine Wildnis von zerklüfteter Schönheit bildeten.

Katharine stand auf der Veranda und genoß die kühle, eukalyptusgetränkte Luft. Am westlichen Himmel ging die Sonne unter, die Vögel zwitscherten, und wohin sie auch blickte, leuchteten die üppig wachsenden tropischen Pflanzen in einer ganzen Palette von Farben.

Sie wandte sich Michael zu, der gerade aus dem Haus kam, eine Broschüre in der Hand. »Nun, was sagst du?« fragte sie.

Michael sah in die Ferne, und sie spürte, wie er sich förmlich dagegen wehrte, die Schönheit der Aussicht zu genießen. Schließlich musste er aufgeben. »Na ja, vielleicht hatte ich unrecht«, räumte er ein. »Vielleicht ist es doch nicht der schrecklichste Ort der Welt, okay?«

»Du hasst deine alte Mutter also nicht?«

»Ich hasse dich bestimmt nicht«, antwortete Michael. Er musste lächeln, weil sie so übertrieben erleichtert wirkte. »Und du bist nicht alt, okay? Und wenn du wirklich willst, dass ich das Handtuch werfe und zugebe, dass du mit allem recht hattest, dann ...« Er ließ den Satz unbeendet, während er ihr die Broschüre reichte. »Kann ich mich da anmelden?« fragte er. »Bitte.« In seiner Stimme schwang Hoffnung mit, aber auch die Erwartung, die alte Antwort zu hören.

Katharine nahm die Broschüre. Noch bevor sie einen Blick darauf geworfen hatte, wusste sie, dass es sich um Werbung für einen Tauchkurs handelte. Zuerst wollte sie schlichtweg nein sagen, aber noch ehe sie den Mund aufmachen konnte, tauchte Rob hinter Michael in der Tür auf.

»Es ist wirklich völlig ungefährlich«, sagte er. »Hunderte von Touristen machen das jeden Tag, von kleinen Kindern bis zu Leuten in den Achtzigern.«

Katharine blickte auf und sah Rob kurz in die Augen, bevor sie sich Michael zuwandte. Erinnerungen durchfluteten ihren Kopf, alptraumartige Erinnerungen daran, wie ihr Sohn mitten in der Nacht nach Luft schnappend aufgewacht war, kaum in der Lage zu atmen. Was, wenn er hundert Meter unter Wasser einen Anfall bekam? Was würde er dann tun? Wenn ihm irgend etwas zustoßen würde ...

Es schien, als habe Michael ihre Gedanken gelesen.

»Ich werde nicht ertrinken, Mom. Und ich werde auch keinen Asthmaanfall bekommen, ich schwöre es.«

Noch zögerte Katharine, doch dann erinnerte sich an etwas anderes. Auch Michaels Vater war ins Tauchen vernarrt gewesen, lange bevor Michael geboren wurde. Tom Sundquist war ein begeisterter Surfer, Skifahrer und Drachenflieger gewesen, er betrieb sämtliche Sportarten, die Katharine zu Tode ängstigten. Und wenn er jetzt hier wäre, sie wüßte genau, was er sagen würde. Sie holte tief Luft und sprach die Worte, die Tom nicht mehr sprechen konnte: »Also los. Man lebt schließlich nur einmal, stimmt's?«

Michael stieß einen Freudenschrei aus, umarmte sie so heftig, als ob er sie zerquetschen wollte, und verschwand im Haus, wahrscheinlich, um schnell das Anmeldeformular auszufüllen.

Rob streckte entschuldigend die Arme aus. »Vielleicht hätte ich die Broschüre nicht mitbringen sollen ...«, setzte er an, aber Katharine schüttelte den Kopf.

»Ich bin froh, dass du es getan hast, Rob. Dieser Umzug hat ihm gar nicht gefallen. Vielleicht wird es dadurch leichter.«

»Ich weiß, was er durchmacht«, sagte Rob. »Wie alt ist er jetzt, fünfzehn, sechzehn?«

»Sechzehn.«

»Schwere Zeiten für einen Jungen. Als ich ungefähr in seinem Alter war, lernte meine Mutter meinen ...« Er unterbrach sich, und nach ein paar Sekunden wechselte er abrupt das Thema. »Na ja, aber einem Jungen in dem Alter muss man eben auch manches durchgehen lassen. Ein Teil von ihm will immer Neues kennenlernen, aber ein anderer Teil mag es gar nicht, wenn sich Dinge ändern.«

Mittlerweile beendete Katharine im stillen den Satz, den Rob abgebrochen hatte: ... lernte meine Mutter meinen Stiefvater kennen, hatte er sagen wollen. Während die Sonne am Horizont unterging, stand sie auf der Veranda und sah ihn an.

Rob suchte ihren Blick.

Keiner von ihnen sagte etwas.

Es war auch nicht nötig.

Als Katharine aus einem unruhigen Schlaf erwachte, war es fast zwei Uhr nachts. Einen Augenblick lang wusste sie nicht, wo sie war, aber dann hörte sie, dass die Straßengeräusche New Yorks von leisem Insektenzirpen abgelöst worden waren, und stellte fest, dass sie statt stickiger Zimmerluft einen sanften tropischen Hauch einatmete. Ihr fiel ein, wo sie war. Sie stieg aus dem Bett und hüllte sich in einen dicken Frotteebademantel. Wegen der Höhe waren die Nächte hier empfindlich kühl. Als sie auf die Veranda trat, sah sie, dass auch Michael aufgewacht war und draußen saß. Schweigend stand sie eine Weile neben ihm und sah zum Himmel hinauf. So viele Sterne hatte sie seit ihrer Zeit in Afrika nie mehr gesehen. Schließlich legte sie eine Hand auf Michaels Schulter. »So schrecklich ist es doch gar nicht, oder, Liebling?«

Michael zögerte kurz und zuckte dann mit den Schultern. Als er etwas sagte, klang seine Stimme eher ängstlich als ungehalten. »Nein, es ist nicht schrecklich, im Gegenteil, es ist wunderschön. Es ist nur so, dass die Dinge in New York endlich gut für mich liefen, Mom, ich meine, wirklich gut. Was, wenn ich hier keine Freunde finde oder nicht ins Leichtathletikteam komme oder ...«

»Oder was, wenn du alles einfach mal auf dich zukommen läßt?« unterbrach ihn Katharine. »Morgen gehst du erst einmal tauchen. Das ist doch schon mal alles andere als schrecklich, oder?«

Schweigend blieben sie eine Zeitlang nebeneinander stehen, bis sich Katharine sagte, dass sein Schweigen vielleicht besser war als die Antwort, die er auch hätte geben können. Als er sich ihrem Gutenachtkuß nicht entzog, nahm sie das als Zeichen, dass schließlich doch noch alles gut würde.

Michael aber blieb noch lange auf der Veranda sitzen, nachdem seine Mutter wieder ins Haus gegangen war. Er dachte nach, und die widersprüchlichsten Gefühle wirbelten in seinem Kopf herum. Er hatte sich eigentlich gar nicht bei seiner Mutter beklagen wollen und bedauerte es, seine Ängste preisgegeben zu haben wie ein kleiner Junge. Aber er hatte wirklich Angst davor, am Montag in die neue Schule zu gehen. Und wie sollte er es hier drei Monate lang aushalten?

Hätten sie nicht zumindest näher an den Strand ziehen können?

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