»Was hast du vor, Sundquist? Willst du dich umbringen?«
Den spöttischen Worten folgte ein harsches Lachen, das von den nackten Betonwänden der Schulsporthalle widerhallte und sich in Michael Sundquists Ohren zu verstärken schien. Was sollte er tun? Mit den Liegestützen aufhören und sich dem Idioten stellen?
Keine gute Idee. Der Idiot hieß Slotzky - Vorname unbekannt, zumindest kannte Michael ihn nicht - und war ungefähr einen Kopf größer als er. Darüber hinaus wog er bestimmt zwanzig Kilo mehr, ohne fett zu sein. Mit Slotzky Streit anzufangen bedeutete unweigerlich, den Hintern versohlt zu kriegen, und das war das letzte, was sich Michael an diesem Morgen wünschte.
Er wünschte sich allerdings sehr, seine Übungen zu Ende bringen zu können: fünfzig Liegestützen, fünfzig Rumpfbeugen und in der restlichen Zeit so viele Runden, wie er auf der Laufbahn der Sporthalle schaffte, bis die Pausenglocke läutete und er unter die Dusche musste. Wenn er Slotzky ignorierte und sich nicht auf eine Schlägerei einließ, musste das leicht zu schaffen sein.
Er hatte ein großes Ziel.
Er wollte unbedingt in die Schulauswahl.
Für Basketball war er nicht groß genug und würde es auch nicht mehr werden, und für Football mangelte es ihm an Gewicht. Also blieb Leichtathletik. Und ein guter Läufer war er schon immer gewesen. Selbst als sein Asthma so schlimm geworden war, dass er kaum atmen konnte, hatte er seine Klassenkameraden auf den Sprintstrecken geschlagen. Sie hatten ihre Witze gemacht: Versuch erst gar nicht, Sundquist beim Start zu überholen. Du musst nur so lange hinter ihm hertrotten, bis er zusammenklappt.
An dem Scherz war einiges dran. Noch vor einem Jahr war er nicht in der Lage gewesen, mehr als eine Viertelmeile zu laufen. Auch wenn er zu Beginn eines Laufs stets vorne lag, hatte er schon bei fünfzig Yards seine Schwierigkeiten, und auf hundert kam er stets als letzter an.
Aber auch als sein Asthma immer schlimmer wurde, hatte er nie aufgegeben. Als seine Mutter ihn damit zu trösten versuchte, dass es in seiner Familie niemals Sportler gegeben habe, stachelte ihn das nur noch mehr an. Was wusste sie schon? Das war Männersache. Sein Vater hätte es verstanden; aber sein Vater lebte nicht mehr.
Jedesmal, wenn Michael um Atem ringend lief und seinen Körper zwang, bis an die äußersten Grenzen zu gehen, um die beängstigende Krankheit zu besiegen, an der er schon als kleiner Junge gelitten hatte, stellte er sich vor, wie sein Vater an der Laufbahn stand und ihm zujubelte. Auch wenn das Gesicht seines Vaters im Lauf der Zeit immer verschwommener wurde und er sich manchmal gar nicht mehr an die volle, tiefe Stimme erinnern konnte, hielt Michael am Bild seines Vaters fest. Er zog seine Kraft aus diesem Bild, und schließlich, vor einem Jahr, begann er aus seinem Asthma herauszuwachsen.
Er beendete die Liegestützen und machte fünfzig schnelle Rumpfbeugen, bevor er - kaum außer Atem - zum Reck lief, um fünfzig Klimmzüge folgen zu lassen. Als er an dem Fenster vorbeiging, das die Sporthalle vom Trainingsraum trennte, warf er einen raschen Blick auf sein Spiegelbild. Ja, seine Brust war tatsächlich breiter geworden - man konnte es deutlich sehen.
Und mit jeder Rumpfbeuge, jeder Liegestütze, jeder Runde zahlte sich seine Besessenheit aus.
Die anderen Jungs lachten ihn schon lange nicht mehr aus. Nur noch Slotzky. Und auch der würde ihn in Ruhe lassen, wenn er in das Leichtathletikteam der Schule kam.
Und zwar nicht als Kurzstreckenläufer.
Nein, Michael hatte sich höhere Ziele gesetzt - den Langstreckenlauf, wo Ausdauer mindestens soviel zählte wie Schnelligkeit, wenn nicht mehr.
Nach dem letzten Klimmzug überprüfte er erneut seine Atmung. Er atmete etwas schwerer als zu Beginn seiner Übungen, war aber noch längst nicht aus der Puste. Kein Anzeichen, dass diese schrecklichen Asthmaattacken wiederkamen, die ihn umklammert hatten, bis er schweißnaß nach Luft schnappte. Er ging zu den Metallstufen, die zur Laufbahn hinaufführten, die in drei Meter Höhe längs der Wände verlief, über den Basketballkörben dicht unter der Decke. Zwei Schritte auf einmal nehmend, warf er einen Blick auf die Uhr am anderen Ende der Halle.
Noch zwanzig Minuten. Er konnte noch ein paar Meilen laufen, bevor er zum Duschen musste.
Er begann mit einem leichten Trab und achtete darauf, nicht zu schnell zu werden, damit er in den engen Kurven an den vier Ecken der Sporthalle nicht zu stark abbremsen musste. Außer ihm lief niemand. Seine Klassenkameraden hielten sich ein Stockwerk tiefer auf. Einige spielten Basketball, andere stemmten Gewichte, aber die meisten lümmelten einfach auf dem Boden herum und warteten darauf, dass die Stunde zu Ende ging.
»He, Sundquist!« rief Slotzky mit hässlichem Grinsen.
»Hast du keine Angst, dass du da oben zusammenklappst?« Slotzkys Freunde lachten gehorsam. Bei Slotzkys Ruf war Michael zusammengefahren, und ehe er auch nur darüber nachdenken konnte, hatte er Slotzky bereits den Finger gezeigt.
Keine gute Idee.
Slotzkys Grinsen erlosch. Er stand auf und rannte auf die Treppe zu, drei seiner Freunde folgten ihm. Während er nach einem Fluchtweg suchte, fragte sich Michael, welcher Teufel ihn geritten hatte, so etwas Dummes zu tun.
Er fragte sich auch, ob wirklich etwas Wahres an dem Gerücht war, dass Slotzky jemanden von einem Hausdach gestoßen hatte.
Während sich Slotzky und einer seiner Freunde von der einen Seite näherten, versperrten die beiden anderen Michael den Weg, so dass er sich in einer besonders unangenehmen Zwickmühle befand.
»Und was jetzt, Angsthase?« fragte Slotzky, der langsam näherkam.
Michael beobachtete den Schläger und seine Freunde. Es gab nur einen Ausweg. Er schwang sich über das Geländer und ließ sich herab, bis er sich nur noch mit den Fingern am Rand der Laufbahn festklammerte. Slotzky lief auf ihn zu, und obwohl er noch etwa zehn Meter entfernt war, spürte Michael bereits, wie ihm der größere Junge mit seinen Turnschuhen auf die Fingerspitzen trat. Ohne nach unten zu sehen, ließ er sich auf den Parkettboden fallen, wo er sich geschickt abrollte.
Ein Schmerz zuckte durch seine Schulter, aber er ignorierte ihn, rappelte sich auf und schaute nach oben, um zu sehen, was seine Verfolger nun vorhatten.
Slotzky lehnte sich über das Geländer und starrte düster auf ihn hinab. Dann spuckte er Michael ins Gesicht, mit einer Geschicklichkeit, die auf jahrelange Übung schließen ließ. »Wir sehen uns nach der Schule«, sagte er.
Michael wischte sich den schleimigen Klumpen von der Wange. Dann drehte er sich um und ging langsam zu den Umkleideräumen zurück.
Er fragte sich, ob Slotzky nach der Schule wohl mit einem Messer oder einer Schußwaffe aufkreuzen würde. Wahrscheinlich mit beidem.
Katharine Sundquist war sich bewusst, dass sie sich eigentlich auf ihre Arbeit konzentrieren sollte. Auf dem Schreibtisch ihres Büros im Natural History Museum lag das Fragment eines hominiden Kiefers, das bei einer Ausgrabung in Afrika gefunden und vor einer Woche zu ihnen geschickt worden war. Nicht, dass es noch allzu viel zu tun gegeben hätte. Sie hatte die Spezies sofort als Australopithecus afarensis identifiziert, und auch ihre späteren Untersuchungen hatten keinen Anhaltspunkt dafür ergeben, dass es sich um etwas anderes handeln könnte. Der Kiefer war in einem Gebiet entdeckt worden war, in dem der Fund eines Australopithecus afarensis vielleicht nicht alltäglich, aber keineswegs spektakulär war. Außerdem war der Knochen in einer Tiefe ausgegraben worden, die der Ebene entsprach, in dem dieser spezielle Vorfahr des Homo sapiens meistens entdeckt wurde. Falls die Karbontests nichts Außergewöhnliches ergaben, schien der Fall klar. Aber ihr Interesse wurde durch eine Reihe von Fotos in Anspruch genommen, die einen Tag nach dem Kiefer des Australopithecus eingetroffen waren.
Es handelte sich um ein halbes Dutzend Aufnahmen, begleitet von einem Brief mit näheren Angaben zur Fundstelle. Der Name auf dem Briefkopf - Rob Silver - hatte sofort Katharines Aufmerksamkeit erregt. Obwohl sie in den etwas über zwanzig Jahren, die seit ihrem gemeinsamen Universitätsabschluß vergangen waren, kaum noch Kontakt mit Silver gehabt hatte, wusste sie doch noch genau, wie er aussah: groß, kräftig, mit dichtem hellbraunem Haarschopf und blauen Augen, die ihr Herz - zumindest eine Zeitlang - hatten höher schlagen lassen. Aber als sein Interesse für polynesische Kultur ihn in die eine und ihr Interesse für Frühgeschichte sie in die andere Richtung führte, war ihre Romanze rasch erkaltet. Sie waren nicht nur durch verschiedene wissenschaftliche Interessen, sondern durch ganze Kontinente voneinander getrennt. Vier Jahre später hatte sie Tom Sundquist kennengelernt, ihn geheiratet und Michael zur Welt gebracht.
In Michaels sechstem Lebensjahr war Tom Sundquist tödlich verunglückt.
Er war in Afrika gestorben, an einem herrlichen Sommermorgen. Zehn Jahre war das jetzt her. Dennoch erinnerte sie sich daran, als ob es gestern geschehen wäre. Tom wollte nach Nairobi, um dort einen Flug nach Amsterdam zu erwischen, wo er einen Vortrag über die Ausgrabungsstätte halten sollte, an der sie seit fünf Jahren gemeinsam arbeiteten. Sie und Michael flogen nicht mit. Katharine leitete die Arbeiten während Toms Abwesenheit, und Michael war froh, weiter mit den afrikanischen Kindern spielen zu können, mit denen er sich angefreundet hatte. Sie hielt Michael an der Hand und sah zu, wie die einmotorige Cessna über die staubige Startbahn rollte und sich schließlich in den Morgenhimmel erhob. Wie immer zog der Pilot die Maschine herum, um noch einmal über sie hinwegzufliegen, aber diesmal wollte er noch ein bißchen angeben.
Katharine und Michael sahen zu - sie mit wachsender Besorgnis, er mit wachsender Begeisterung -, wie der Pilot mit dem kleinen Flugzeug eine Reihe von Loopings und Wendungen vollführte. Dann schwebte er eine Weile in der Luft, bevor er die Cessna plötzlich umdrehte, so dass sie mit der Nase voran immer schneller der Erde entgegen raste.
Katharine kannte das Manöver - es war eine der Spezialitäten des Piloten -, und es hatte sie immer schon geängstigt. In letzter Sekunde pflegte er die Maschine hochzureißen, mit den Flügeln zu wackeln und sich auf den Weg nach Nairobi zu machen, noch immer so niedrig, dass die Tierherden unter ihm in Panik davonstoben.
Doch an jenem Morgen mussten Katharine und Michael mitansehen, wie das Flugzeug mit der Nase auf die Erde krachte und sofort in einem riesigen Feuerball explodierte.
An jenem Tag hatte sie mit Michael die Ausgrabungsstätte verlassen und war nie mehr zurückgekehrt.
Ein Jahr später hatten Michaels Asthmaanfälle begonnen. Nach Katharines Überzeugung waren sie dadurch ausgelöst worden, dass Michael mitangesehen hatte, wie sein Vater gestorben war. In den zehn Jahren nach Toms Tod hatte sich Katharine vor allem auf zwei Dinge konzentriert: auf die Gesundheit ihres Sohnes und auf ihre Arbeit. Meistens hatte ihr das auch gereicht. Aber seit sich ihr Sohn von den lähmenden Asthmaanfällen befreit zu haben schien, fragte sie sich manchmal, ob sie nicht selbst zu einem der Fossilien wurde, die sie ständig untersuchte.
Und dann war letzte Woche der Brief von Rob Silver eingetroffen, zusammen mit den Fotos. Die Fundstelle, schrieb er, lag an der Flanke des Haleakala auf Maui. Er arbeite seit fünf Jahren auf Hawaii, wo er die Entwicklung der polynesischen Architektur untersuchte, ihre Ausbreitung vom Südpazifik zu den hawaiianischen Inseln. Aber der Fundort auf den Fotos, schrieb er, unterscheide sich vollkommen von allem, was er bislang auf Hawaii ausgegraben habe. Seine Mittel reichten aus, um einen wissenschaftlichen Berater zu bezahlen, und er fragte, ob Katharine vielleicht Interesse habe.
Immer wieder betrachtete sie die Bilder und studierte den Fundort, der unter einer dichten Vegetationsschicht entdeckt worden war.
Sie war bereits in die Museumsbibliothek gegangen und hatte die Fotos mit allen anderen Bildern von hawaiianischen Fundstellen verglichen.
Es gab nichts Vergleichbares.
Sie konnte den Fundort nur dann richtig analysieren, wenn sie ihn sah.
Wieder einmal schob sie das langweilige graue Fossil beiseite, zusammen mit den ebenso langweiligen Fotos der Ausgrabungsstelle, und betrachtete die Bilder von der Stelle auf Maui.
Der Fundort selbst schien nichts weiter als eine Ansammlung von großen Steinen zu sein. Er war von einem üppigen Wald mit riesigen Bäumen und blühenden Büschen und Ranken umgeben. Auf einigen Bildern sah man in der Ferne das schimmernde Türkis des Pazifischen Ozeans, auf anderen erkannte man, wie sich ein Wasserfall in einen kristallklaren Teich ergoß. All das wirkte in seiner Schönheit so unirdisch, als hätte ein Filmarchitekt aus Hollywood seine Vorstellungen vom Paradies verwirklicht.
Hatte Rob ihr vielleicht mit voller Absicht diese verführerischen Einblicke in den Garten Eden gewährt, in dem der Fundort lag?
Und warum verlor sie sich überhaupt in Tagträumen von tropischen Blumen und Passatwinden? Schließlich ging es um die Ausgrabungsstelle.
Doch während ihr Blick durch den fensterlosen Würfel in der düsteren Höhle wanderte, die sie ihr Büro nannte, und sie daran dachte, wie trübe das Wetter war, wusste sie genau, warum die üppige Natur, die Rob Silvers Fund umgab, sie genauso anzog wie seine Entdeckung selbst.
Noch einmal nahm sie den Brief in die Hand.
Dreißigtausend Dollar.
Rob Silver bot ihr dreißigtausend Dollar, wenn sie drei Monate mit ihm auf Maui arbeitete.
Plus Spesen.
Sie erinnerte sich an das frustrierende Gespräch, das sie letzte Woche mit dem Museumsdirektor geführt hatte. Ihre Mittel sollten um dreißig Prozent gekürzt werden.
Die Beihilfe der National Science Foundation, mit der sie gehofft hatte, im Sommer wichtige Feldarbeit durchführen zu können, war »bewilligt, aber noch nicht finanziert«.
Also bestand ihre Zukunft, abgesehen von dem Angebot auf ihrem Schreibtisch, aus dem folgenden: keiner Feldarbeit und einem praktisch nicht mehr existenten Budget.
Das Problem war allerdings, dass Rob Silver sie bereits zum Ersten des kommenden Monats brauchte. Länger konnte er den Posten nicht unbesetzt lassen. Sie würde Michael von der Schule nehmen müssen - und damit aus dem Leichtathletikteam, für das er in letzter Zeit eine solche Begeisterung entwickelt hatte -, und das würde ihm wahrscheinlich gar nicht gefallen. Nun, vielleicht würden sich seine Einwände in Luft auflösen, wenn sie ihm erzählte, wohin sie gehen sollten.
Sie griff zum Hörer und rief den Direktor an. »Ich möchte Urlaub nehmen«, sagte sie. »Für drei Monate.« Sie zögerte kurz. »Unbezahlten, natürlich.« Als sie fünf Minuten später wieder auflegte, fragte sie sich, ob Michael genauso leicht wie der Direktor zu überreden war.
Aber als sie am Nachmittag nach Hause kam und die Wunde am Arm ihres Sohnes sah sowie den hässlichen gelb-blauen Fleck, der sein schmerzhaft geschwollenes linkes Auge umgab, wusste Katharine, dass die Entscheidung gefallen war. New York für drei Monate hinter sich zu lassen war genau das, was sie beide brauchten.