KAPITEL 23

Katharine bog gerade vom Hana Highway auf den Fahrweg ab, der zu Yoshiharas Anwesen führte, als sie das unverkennbare satte Geräusch der rotierenden Blätter eines Hubschraubers hörte. Die Maschine selbst konnte sie jedoch nicht sehen, obwohl sie ganz in der Nähe sein musste. Sie bremste ab und schaute zum Himmel hinauf, wobei sie ihre Augen mit der Hand vor der strahlenden Morgensonne schützte.

Wie eine schillernde Libelle tauchte auf einmal der Helikopter auf. Er flog in niedriger Höhe über den Bäumen und schien den Buckeln und Wellen der Landschaft zu folgen. Als er über sie hinwegflog, glaubte Katharine in der Plexiglaskuppel Stephen Jameson und Takeo Yoshihara zu erkennen. Sie sah dem Helikopter nach. Gleich würde er nach links fliegen, in Richtung des Flughafens bei Kahului.

Statt dessen bog er rechts ab und verschwand hinter einem Felsen, der sich fast siebzig Meter vom Boden des Regenwaldes erhob.

Erst als das Geräusch der Rotorblätter verebbte, ließ Katharine den Wagen wieder an und fuhr weiter die schmale Straße entlang. Wie jeden Morgen öffnete sich das Tor, als sie sich näherte, so dass sie fast ohne abzubremsen hineinfahren konnte. Aber an diesem Morgen spürte Katharine, wie sich ihre Nackenhaare sträubten, denn jetzt wusste sie, dass sie von Kameras beobachtet wurde, und während sie über das Gelände fuhr, musste sie sich zwingen, nicht auffällig nach weiteren Kameras Ausschau zu halten. Sie näherte sich dem Forschungspavillon, in dem Robs Büro untergebracht war, als ihr auffiel, dass die meisten Parkplätze dahinter heute leer geblieben waren.

Sie blickte über den vereinsamten Parkplatz, und ein Gedanke nahm langsam Gestalt an. Ein Gedanke, der die düstere Stimmung vertrieb, in die sie geraten war, nachdem sie stundenlang wach gelegen und gegrübelt hatte, wie sie in den Nordflügel gelangen konnte. Letzte Nacht war ihr gar nichts eingefallen. Aber jetzt hatte sich einiges geändert.

Erst der Hubschrauber, nun der fast leere Parkplatz.

Offensichtlich ging hier irgend etwas vor.

Sie beschloß, heute nicht zu ihrer Ausgrabungsstelle in der Schlucht zu gehen, und parkte den Explorer in einer freien Box. Dann betrat sie die Lobby - nicht nach Überwachungskameras suchen! - und ging auf die Tür zu Rob Silvers Büro zu. Plötzlich blieb sie stehen, als sei ihr etwas eingefallen. Sie ging auf den Tisch zu, an dem der Wachmann saß, der sie überrascht ansah. Vielleicht brauchte sie ihn gar nicht allzusehr ausquetschen, vielleicht würde er ihr auch so sagen, was sie wissen wollte. Eine Sekunde später tat er es. »Ich dachte, alle würden zu dem Treffen in Hana fahren«, sagte er.

Sie musste sich Mühe geben, ihre Verblüffung zu verbergen. Hana? Wovon sprach er? Was ging da vor?

»Ich fahre erst heute nachmittag hin«, sagte sie freundlich.

Warum hatte sie gelogen?

Sie wusste es. Die Paranoia, die von ihr Besitz ergriffen hatte, als sie die heimliche Lieferung beobachtet hatte und dann mit dem Gefühl, von unsichtbaren Augen beobachtet zu werden, nach Hause gefahren war, schlich sich wieder an sie heran und wand sich wie eine Schlange um sie.

Aber sie war ja gekommen, um ihre Idee in die Tat umzusetzen. »Ist Dr. Jameson schon fort?« fragte sie und bemühte sich, ein bißchen aufgeregt zu klingen.

Der Wachmann nickte. »Vor ein paar Minuten mit Mr. Yoshihara im Hubschrauber davongeflogen.«

»O nein«, murmelte Katharine und setzte eine Miene ärgerlicher Enttäuschung auf.

»Was gibt's denn?« fragte der Mann.

Katharine seufzte. »Ach, mein Sohn hat seine Schlüssel verloren, und vielleicht sind sie ihm aus der Tasche gefallen, als Dr. Jameson ihn gestern untersucht hat. Ich wollte Dr. Jameson fragen, ob er sie gefunden hat.« Sie öffnete den Mund, als wolle sie noch etwas hinzufügen, und schloß ihn wieder.

Nach einer Weile fügte sie hinzu: »Natürlich bin ich jetzt schuld. Teenager!« Sie wandte sich ab, als erwarte sie von dem Wachmann sowieso keine Hilfe. Aber als sie auf die Doppeltür zum Nordflügel zuging, spürte sie förmlich, wie der Mann ihren Köder umkreiste und sich überlegte, ob ein Haken an der Sache war.

»Vielleicht könnte ich Sie kurz in Dr. Jamesons Büro lassen«, schlug er schließlich vor.

Katharine wandte sich um und sah ihn an, als könne sie gar nicht glauben, was er da eben gesagt hatte. »Das kann ich doch nicht von Ihnen verlangen«, flötete sie. Sie hatte ihn am Haken. »Wo er nicht da ist ...«

»Das ist doch gar kein Problem«, sagte der Wachmann. »Ich habe auch einen sechzehnjährigen Sohn. Ich weiß, wie die sein können. Wenn die Schlüssel im Büro sind, haben wir sie ja in ein, zwei Minuten gefunden.«

Sie folgte dem Mann durch den Nordflur. Als sie vor Dr. Jamesons Tür stehenblieben und der Wachmann nach dem passenden Schlüssel suchte, warf Katharine einen Blick zum Fahrstuhl am Ende des Ganges. Das rote Licht an der grauen Platte über dem Rufknopf leuchtete ihr hämisch zu.

»Wo sollen wir anfangen?« fragte der Mann.

Katharine zuckte hilflos mit den Schultern. »Im Untersuchungszimmer, schätze ich. Dort kann er sie doch am ehesten verloren haben, nicht wahr. Warum schauen Sie nicht dort nach, während ich mir den Stuhl ansehe, auf dem er in Dr. Jamesons Büro saß. Es ist ein Ring mit sechs Schlüsseln.« Nachdem sie das Büro betreten hatten, machte sich Katharine auffällig an dem Stuhl zu schaffen, während der Wachmann ins Untersuchungszimmer ging. Als sie allein war, schlich sie zum Aktenschrank und betete, dass er nicht verschlossen war.

Er war unverschlossen. Und da lag auch schon die graue Plastikkarte, nicht einmal unter einem Blatt Papier verborgen. Sie schnappte sich die Karte, schob die Lade lautlos wieder zu und ging zu dem Wachmann im anderen Zimmer. »Nun, auf dem Stuhl waren sie nicht.«

»Ich kann hier auch nichts finden.« Er wandte den Kopf zu einem Schrank mit einem halben Dutzend Schubladen. »Warum schauen Sie nicht mal da rein? Haben Sie in seinem Schreibtisch nachgesehen?«

»Also, wenn hier jemand fremde Schreibtische durchwühlt, dann Sie und nicht ich«, entgegnete Katharine. »Ich bin die Neue hier, vergessen Sie das nicht. Ich habe ja gerade erst die Karte für den Fahrstuhl bekommen, da werde ich nicht gleich anfangen, in anderer Leute Schreibtische zu stöbern.«

Ein paar Minuten später verließen sie, fröhlich miteinander plaudernd, Jamesons Büro.

Der Schlüssel zum Fahrstuhl steckte in Katharines Tasche.

Michaels Schlüssel steckten sicherlich in seiner Tasche. Soweit sie wusste, hatte er noch nie in seinem Leben irgendwelche Schlüssel verloren.

Sie ließ eine halbe Stunde verstreichen, bevor sie sich auf den Weg in den Nordflur machte, nicht ohne in der Lobby ein paar Worte mit ihrem neuen Freund, dem Wachmann, zu wechseln. »Runter geht's in die Salzminen«, sagte sie augenzwinkernd, bevor sie durch die Doppeltüren und zielstrebig auf den Fahrstuhl zuging. Sie musste sich zusammenreißen, um nicht zurückzuschauen und zu den Sicherheitskameras hochzusehen, die jetzt sicherlich auf sie zielten. Als sie die Karte aus ihrer Tasche nahm und über die graue Sensorenplatte hielt, betete sie, dass das Zittern ihrer Hand nicht auf dem Bildschirm sichtbar war.

Das Licht wurde grün, und die Fahrstuhltüren öffneten sich. Sie betrat die Kabine und drückte den Knopf nach unten. Als der Lift abwärts glitt, versuchte sie sich vorzustellen, wie weit es nach unten ging, aber die Bewegung der Kabine war so gedämpft, dass sie keine Vorstellung davon entwickeln konnte. Als die Türen Sekunden später wieder aufgingen, hätte sie zehn oder auch fünfzig Meter in die Tiefe gefahren sein können.

Oder hundert.

Der Flur lag verlassen vor ihr. Katharine ging ihn so zielstrebig entlang, wie sie den oberen Gang passiert hatte, obwohl sie nicht wusste, wonach sie eigentlich suchen sollte.

Natürlich wollte sie zunächst einmal das Objekt finden, das gestern nacht geliefert worden war. Vor ihrem geistigen Auge tauchte der Plan der unteren Stockwerke auf, wie sie ihn auf dem Sicherheitsmonitor gesehen hatte. Sie versuchte sich zu erinnern, in welchem Raum der sargähnliche Behälter geöffnet worden war.

Dritte Tür rechts, da war sie ziemlich sicher.

Als sie zu der Tür kam, musste sie sich noch einmal zwingen, nicht zu den Kameras über dem Fahrstuhl hinauf zu sehen. Dann drehte sie den Türgriff. Zu ihrer Erleichterung öffnete sich die Tür.

Sie erkannte den Raum wieder, kaum dass sie ihn betreten hatte. Makellos sauber, weiß gefliest. Ein weiß umrandeter metallener Untersuchungstisch stand in der Mitte, an einer Wand eine lange Laborbank, an einer anderen drei Schränke mit großen Schubladen.

Schubladen, die sie schon in vielen Filmen gesehen hatte, in Szenen, die in Leichenhallen spielten.

Katharine nahm ihren Mut zusammen und ging auf die Schubladen zu.

Selbstverständlich irrte sie sich. Hier unten konnte unmöglich eine Leichenhalle sein.

Beunruhigende Gedanken schossen ihr durch den Kopf. Was, wenn jetzt jemand hereinkam?

Was, wenn die Wachmänner sie beobachteten?

Was, wenn der Raum alarmgesichert war?

Verschwinde hier, flüsterte eine innere Stimme. Verschwinde, geh wieder nach oben und kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten. Du sollst dich lediglich um ein Skelett kümmern, ein Skelett, das Rob drei Kilometer von hier entfernt gefunden hat. Was hier geschieht, geht dich gar nichts an.

Verschwinde!

Aber noch während die Stimme ihr diese Warnungen zuflüsterte, zog sie mit zitternden Händen eine Schublade auf.

Leer.

Ihre Anspannung ließ dennoch kaum nach. Sie öffnete eine zweite Schublade.

Auch leer.

Ebenso wie die dritte und die vierte.

Ihr Hände hörten auf zu zittern, und sie kam sich ein bißchen töricht vor. Was immer sie letzte Nacht gesehen hatte, es war wohl doch kein ...

Der Gedanke zerstob, als sie die fünfte Schublade öffnete und in das Gesicht eines Jungen starrte.

Eines Jungen mit klaren Zügen, vielleicht siebzehn oder achtzehn Jahre alt, mit blondem Haar und einem Grübchen am Kinn.

Und mit toten blauen Augen, die sie regungslos anstarrten. Sie lagen tief in ihren Höhlen, in einem ausdruckslosem Gesicht.

Katharine stand wie angewurzelt da und kämpfte gegen die Übelkeit, die in ihr aufstieg. Zeig keine Regung, sagte sie zu sich. Wenn sie dich beobachten, darfst du keine Regung zeigen. Tu so, als gehörtest du hierher.

Sie zog die Schublade ganz heraus und blickte in den Torso des Jungen, der durch einen großen Y-förmigen Schnitt geöffnet worden war. Seine Organe schienen intakt, bis auf die Lunge, die vollständig entfernt worden war.

Seine Lunge?

Plötzlich fiel ihr der Text der einzigen Serinus-Datei, die sie hatte lesen können, wieder ein.

Luftverschmutzung? Konnte es sein, dass dieser Junge an einer Vergiftung durch verschmutzte Luft gestorben war?

Sie zog die Schublade noch weiter auf, in der Hoffnung, irgend etwas zu finden, womit sie den Leichnam identifizieren konnte. Ganz am Ende der Schublade fand sie es.

An dem großen Zeh des rechten Fußes war eine Karte angebracht. Katharine entfernte die Karte, steckte sie in ihre Tasche, schloß die Schublade und wollte gerade den Raum verlassen, als sie in der hinteren linken Ecke eine Tür bemerkte. Sie ging darauf zu und lauschte. Hinter der Tür hörte sie ein leises Summen. Nach kurzem Zögern drückte sie die Klinke herunter.

Die Tür war offen, und sie warf einen Blick in den angrenzenden Raum.

Sie erblickte irgendwelche Maschinen. Tanks von verschiedener Größe, die durch Schläuche und Röhren mit einem Haupttank verbunden zu sein schienen. Von dem Haupttank ging wiederum eine Reihe von Röhren aus, die durch zwei Wände liefen.

Dann entdeckte sie die Quelle des Summens: eine Pumpe neben dem Tank, die offenbar dessen Inhalt durch die Röhren beförderte.

An der rechten und an der Katharine gegenüberliegenden Wand befanden sich Türen. Sie ging schnell auf die am nächsten gelegene zu und versuchte sie zu öffnen.

Verschlossen.

Sie probierte es bei der anderen Tür, die ebenfalls verschlossen war.

Enttäuscht rüttelte sie am Türgriff. Sie suchte nach einem Kartenscanner, fand aber keinen. Sollte sie nach einem Schlüssel suchen? Was aber, wenn die Kameras sie beobachteten?

Nachdem sie sich noch einmal gegen die Tür gestemmt hatte, gab sie auf und ging in den Autopsieraum zurück. Sie wollte schon zum Fahrstuhl zurückkehren, um ihr Glück nicht weiter herauszufordern, doch als sie auf den Flur hinaustrat, zogen die geschlossenen Türen sie wie magnetisch an.

Sie ging nicht auf den Fahrstuhl zu, sondern wandte sich um und ging in die entgegengesetzte Richtung. Nach zehn Metern kam sie an einer Tür vorbei, auf der zu lesen war:

Serinus-Projekt

Noch während sie das Schild betrachtete, wurde ihr klar, dass sie das Paßwort zu der geschützten Datei, das sie gestern nachmittag so frustriert hatte, nicht mehr brauchte. Entschlossen drehte sie den Türgriff, ohne zu hoffen, dass die Tür offen sein könnte.

Zu ihrer Überraschung war sie es. Offenbar hielt Takeo Yoshihara das Sicherheitssystem des Fahrstuhls für ausreichend, zumindest für diesen Teil seiner Anlage.

Sie betrat ein holzgetäfeltes Vorzimmer, das nur einen Schreibtisch und eine Glasvitrine enthielt. Als Katharine erkannte, was sich in der Vitrine befand, schlug ihr Herz schneller.

Der Schädel?

Konnte das derselbe Schädel sein, den sie in Robs Büro auf dem Monitor gesehen hatte? Katharine ging auf die Vitrine zu, eine viereckige Plexiglasbox auf einem schwarz lackiertem Podest. Während sie den Schädel von allen Seiten studierte, wuchs ihre Aufregung. Diesen Schädel hatte sie gesehen. Er musste es sein. Und er sah genauso aus wie der Schädel, den sie in der Felsspalte gefunden hatte, in allen Details. Sie suchte nach etwas, das seine Herkunft verriet. Schließlich fand sie ein kleines Schild, auf dem stand, dass der Schädel in einem Dorf auf den Philippinen gefunden worden war, und zwar erst vor zwei Monaten. Katharine prägte sich den Namen des Dorfes ein und betrachtete den Schädel noch einmal, bevor sie weiterging.

Entsetzt blieb sie stehen, kaum dass sie den nächsten Raum betreten hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde hatte sie das Gefühl, in der Praxis eines Tierarztes zu stehen, denn an einer Wand waren Käfige mit Tieren aufgereiht. Aber es waren keine richtigen Käfige, sondern Boxen aus Plexiglas. Sie ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Die Zellen - irgendwie schien ihr diese Bezeichnung angebrachter - waren luftdicht verschlossen. Nahrung und Wasser für die darin eingesperrten Tiere gelangten durch ein offenbar ferngesteuertes System hinein.

Jede Zelle besaß ein Ventilationssystem, das die Luft in der Zelle gleichmäßig zirkulieren ließ. Auf großen Monitoren wurde die Zusammensetzung des Gemischs in den Plastikboxen angezeigt. Katharine begriff, dass die Tanks, die sie im Maschinenraum gesehen hatte, das Gemisch enthielten, das in die Zellen gepumpt wurde.

Sie ging näher an die Boxen heran.

Sie waren verschieden groß und beherbergten verschiedene Tierarten.

In den kleinsten waren Mäuse, einige allein, andere in Paaren. Eine Box enthielt ein Weibchen, an deren Zitzen ein halbes Dutzend Junge säugte.

In einer Reihe größerer Zellen sah sie Katzen und Hunde, jedes Tier für sich allein eingesperrt. Einige Katzen lagen zusammengerollt auf dem Boden ihres Gefängnisses, andere putzten ihr Fell, wieder andere schliefen.

Oder waren sie tot?

Katharine sah auf einen Bildschirm. Die Anzeige, eine Abfolge von Buchstaben und Zahlen, gab die Mischung der Atmosphäre in der Plastikbox an. Sie las vertraute chemische Bezeichnungen: NH3, CH4, CO.

Ammoniak.

Methan.

Kohlenmonoxid.

Zusammen mit einem halben Dutzend weiterer chemischer Formeln, von denen sie die wenigsten kannte.

Aber sie nahm an, dass es sich auch bei diesen um tödliche Gase handelte. Mein Gott, was ging hier vor?

Katharine stellte sich vor eine Zelle und klopfte gegen das Plexiglas. Die Katze dahinter bewegte sich kurz, um sofort wieder einzuschlafen.

Die Hunde waren wach, bis auf einen. Zwei sahen sie an, aber sie besaßen nicht die Energie von jungen Hunden, die spielen wollen. Ihre Augen wirkten leer, als wüßten sie, dass sie ihre durchsichtigen Gefängnisse nie mehr verlassen würden. Die anderen drei lagen auf dem Boden und starrten ins Leere. Schaudernd erinnerte sich Katharine an den Namen des Projekts. Kanarienvögel im Minenschacht - genau das waren diese armen Tiere! Instinktiv öffnete sie eine Zelle, nahm den kleinen Hund in den Arm und schloß eilig wieder die Box, um den ekelhaften Dämpfen zu entgehen, die daraus hervorquollen.

Der Hund winselte dankbar und kuschelte sich an ihre Brust. Sie strich über sein weiches Fell, voller Wut über dieses grausame Experiment. Wie konnte man so etwas tun, all diese unschuldigen Tiere ...

Der Hund in ihrem Arm begann plötzlich pfeifend zu keuchen. Dann strampelte er mit den Beinen, als wolle er sich aus ihrer Umarmung befreien, und sah sie angstvoll an. Mit weit aufgerissenem Maul rang er um Atem.

In ihren Armen starb der kleine Hund.

Sie drückte ihn an sich und versuchte ihn zu beruhigen, aber einen Augenblick später war alles vorbei. Der Hund lag in ihren Armen, stumm und regungslos. Entsetzt starrte Katharine ihn an.

Was sollte sie mit ihm machen?

Dann fiel ihr ein, wo sie war und was sie hier tat. Wenn jemand sie entdeckte ...

Eilig legte sie den toten Hund in seine Zelle zurück.

Sie sollte lieber verschwinden, bevor jemand sie sah. Aber hinter diesem Raum lag noch ein weiterer, und auch wenn sie sich sagte, dass es an der Zeit war zu verschwinden, wusste sie doch, dass sie erst herausfinden musste, was hier vor sich ging.

Wie war es überhaupt möglich, dass die eingesperrten Tiere lebten, obwohl sie diese tödliche Gasmischung atmeten?

Sie kam durch eine Reihe von Laboratorien, in denen nur einige wenige Techniker in weißen Kitteln arbeiteten, in ihre Aufgaben vertieft.

Sie blieb nicht stehen, stellte keine Fragen. Niemand sollte sie bemerken, sie wollte niemandem auffallen.

Schließlich gelangte sie in den letzten Raum.

Eine kleine Kammer. In der Mitte, eingeschlossen in einen Glasbehälter, befand sich eine Kugel mit einem Durchmesser von knapp einem Meter, eine grau-blaue Substanz, Metall oder Stein. Aus der Kugel ragte eine Röhre, die sich um sie herum wand und nach unten lief, durch den Behälter in ein Podest hinein.

Katharine ging um die Kugel herum und studierte sie von allen Seiten, ohne Unterschiede feststellen zu können.

Sie stand mit dem Rücken zur Tür. Plötzlich ließ eine Stimme sie zusammenzucken.

»Das erstemal, dass Sie es sehen?«

Sie drehte sich um und versuchte so schnell wie möglich ihren schuldbewussten durch einen lediglich überraschten Blick zu ersetzen. »Mein Gott! Wissen Sie eigentlich, wie sehr Sie mich erschreckt haben?«

»Tut mir leid«, sagte der Techniker. Dann lächelte er. »Ich nehme an, Sie brüten auch über der ewigen Frage.«

»Wie bitte?«

»Na, was es sein soll«, sagte der Mann.

Die Frage erwischte Katharine auf dem falschen Fuß. »Das wollte ich Sie gerade fragen«, brachte sie gerade noch hervor.

Der Techniker sah sie leicht zweifelnd an. »Nun ja, das herauszufinden ist unsere Aufgabe, nicht wahr? Ich dachte, ein neues Gesicht hätte vielleicht eine neue Idee.«

Katharine überlegte sich ihre Antwort gut. »Ich wünschte, ich hätte sie«, sagte sie. »Aber bis jetzt bin ich leider so ratlos wie alle anderen. Eigentlich suche ich ja Dr. Jameson.«

»Er ist nach Hana geflogen, zu der Besprechung.« Er sah sie plötzlich ernst und etwas mißtrauisch an. »Warum sind Sie nicht auch dort?«

Katharine versuchte es mit einer Halbwahrheit. »Mich hat keiner eingeladen«, antwortete sie. »Und da Dr. Jameson nicht hier ist, kann ich genausogut wieder in mein Büro gehen und etwas Sinnvolles tun, stimmt's?« Katharine ließ den Techniker stehen und ging zurück. Sie spürte seinen Blick in ihrem Rücken, hütete sich aber, sich umzudrehen.

Aber noch in Robs Büro hatte sie das Gefühl, dass unsichtbare Augen ihr folgten.

In einem privaten Konferenzraum im Hotel Hana Maui, am Ende des über fünfzig Kilometer langen, kurvenreichsten Highways der Welt gelegen, ließ Takeo Yoshihara seinen Blick über die sieben Mitglieder der Serinus Society schweifen, die im Verlauf der letzten sechsunddreißig Stunden aus allen Kontinenten eingeflogen waren.

»Ich habe gute Nachrichten für Sie«, begann er. »Drei unserer neuesten Kanarienvögel sind nicht gestorben. Einem der Probanden in Chicago sowie den beiden letzten aus Tokio und Mexico City scheint es gut zu gehen.«

Eine Welle anerkennenden Gemurmels lief durch den Raum. Yoshihara hob die Hand, und das Geräusch verstummte.

»Wir haben allerdings auch ein Problem. Hier auf Maui ist vor zwei Tagen ein Junge gestorben, und wie es aussieht, ist er mit unserer Substanz in Berührung gekommen.«

Nun herrschte betretenes Schweigen.

»Und dann gibt es da noch drei weitere Jungen, denen ...« Er zögerte, suchte nach dem richtigen Wort und lächelte verhalten, als er es gefunden hatte. »Denen es, jedem auf seine Weise, besser ergangen ist. Dr. Jameson wird Ihnen davon berichten.«

Unter dem besorgten Gemurmel der Mitglieder erhob sich Stephen Jameson. Auf einem Bildschirm an der Wand hinter ihm erschienen Fotos von Josh Malani, Jeff Kina und Michael Sundquist. »Wie Sie wissen, hatten wir niemals vor, so nah bei unserem Hauptquartier Menschenversuche durchzuführen. Aber wie es aussieht, sind mindestens vier Jungen auf Maui in Berührung mit der Substanz gekommen, mit der wir experimentieren.« Er sah zu den Gesichtern auf dem Bildschirm hinauf und richtete seinen Laserstab auf Jeff Kina. »Bei diesem Jungen handelt es sich um einen Siebzehnjährigen polynesischer Herkunft. Er ist 1,84 groß und wiegt fünfundneunzig Kilo. Vor sechsunddreißig Stunden wurde er in einem brennenden Zuckerrohrfeld aufgegriffen, wo er die mit Rauch vergiftete Luft ohne Schwierigkeiten atmen konnte. Jetzt befindet er sich in unserem Labor, und es geht ihm gut.« Der Stab bewegte sich auf Josh Malanis Konterfei. »Auch dieser Junge ist siebzehn Jahre alt, einen Meter sechzig groß und wiegt vierundsechzig Kilo. Gemischtrassige Herkunft. Vor weniger als vierundzwanzig Stunden brach er auf einem Parkplatz nahe einem unserer Strände zusammen. Zu diesem Zeitpunkt beobachteten wir ihn bereits. Er wurde durch Verabreichung einer Mischung aus Kohlenmonoxid, Methan und Ammoniak am Leben erhalten und befindet sich jetzt ebenfalls in gutem Zustand in unserem Labor.«

»Und der dritte Junge?« fragte jemand aus dem hinteren Teil des Raumes.

Jameson sah einige Sekunden schweigend auf das Bild von Michael Sundquist. »Dieser Fall ist der interessanteste«, sagte er schließlich. »Es handelt sich um einen sechzehnjährigen Weißen schwedischer Abstammung, und obwohl wir ihn sowenig für unser Projekt ausgewählt haben wie die drei anderen Jungen, erweist er sich als einer unserer faszinierendsten Probanden. Natürlich erwarten wir auch bei ihm noch keinen durchschlagenden Erfolg, aber ich bin sicher, dass uns eine Autopsie nach seinem Tod ein ganzes Stück weiterbringen wird bei unserer Untersuchung, wie genau die Substanz den menschlichen Körper beeinflusst.«

Eine Stimme mit einem schweren deutschen Akzent meldete sich: »Und wenn er zufällig nicht stirbt?«

Jameson lächelte kühl. »Glauben Sie mir, Herr von Schmidt, auf die eine oder andere Weise werden alle diese Jungen sterben.«

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