KAPITEL 5

Katharine stellte gerade den letzten Koffer in ein Schrankfach, als sie eine Autohupe hörte. Sie sah aus dem Fenster und erkannte Rob Silvers Explorer, der aus dem Eukalyptuswald auf die Lichtung fuhr. Mit einem Blick auf die Uhr, die auf dem Nachttisch stand, stellte sie zufrieden fest, dass Rob offenbar wie früher auf die Minute pünktlich war. Er hatte gesagt, er würde um zwei Uhr kommen, und nun war es genau zwei. Sie nahm ihren verschlissenen Leinenrucksack, der ihr seit ihrer Zeit in Afrika als Feldtasche diente, und trat in dem Augenblick auf die Veranda hinaus, als Rob sich aus dem Explorer schwang.

»Laß mich raten«, sagte er lächelnd. »Du hast gerade die letzten Koffer verstaut, als ich gehupt habe, stimmt's?«

»Na schön, also sind wir immer noch die penibelsten Leute, die wir kennen«, sagte Katharine lachend, während sie in den Explorer stieg. »Obwohl ich es einfach als perfektes Timing bezeichnen würde. Muss ich das Haus abschließen?«

Rob schüttelte den Kopf. »Hier oben nicht. Hast du die Schlüssel gefunden? Sie lagen, glaube ich, auf der Arbeitsfläche in der Küche.«

»Ich hab' sie«, entgegnete Katharine. »Und jetzt nichts wie los. Ich kann es kaum erwarten, deine geheimnisvolle Fundstelle zu sehen.«

Rob wendete in einem weiten Bogen, steuerte auf den schmalen Weg durch den Eukalyptuswald und fuhr den Berg hinab. »Heute nachmittag wirst du deinen eigenen Wagen bekommen«, sagte er zu ihr, als sie ein paar Minuten später Makawao erreichten, wo er nach rechts abbog und in Richtung Haiku fuhr. »Es ist im Grunde der gleiche wie dieser hier, nur ein bißchen älter. Aber er ist umsonst.«

Katharine zog die Augenbrauen hoch. »Ein Gehalt, das doppelt so hoch ist wie das, was ich gewöhnlich kriege, Reisespesen für mich und meinen Sohn, ein Haus und jetzt noch ein Auto. Wer bezahlt dich? Die National Science Foundation sicher nicht.«

»Völlig richtig«, antwortete Rob. »Es ist nicht die NSF. Es ist ein Mann namens Takeo Yoshihara. Hast du den Namen schon mal gehört?« Katharine schüttelte den Kopf. »Seine Zentrale ist in Tokio, und er arbeitet weltweit, verbringt aber einen großen Teil seiner Zeit hier.«

»Wie bist du auf ihn gestoßen?« fragte Katharine. »Und gibt es noch einen wie ihn, der sich für Ur- und Frühgeschichte interessiert?«

»Er ist auf mich gestoßen«, entgegnete Rob. »Er interessiert sich für alles, was mit dem Pazifik zu tun hat, die eingeborenen Kulturen eingeschlossen. Er hat hier eine ziemlich beeindruckende Anlage bauen lassen. Du wirst sie auf dem Weg zum Fundort sehen.«

Sie fuhren durch eine verstreute Ansammlung von Gebäuden - Haiku - und erreichten ein paar Minuten später den Hana Highway. Kurz darauf fuhr Rob wieder ab, und nach einigen Kilometern wurde die Straße immer schmaler und schlängelte sich in engen Kurven. Einige führten steil zum Ozean hinunter, andere tief in den Regenwald. »Das ist die Wetterseite der Insel«, erklärte Rob. »So geht die Straße noch etwa sechzig Kilometer weiter. In der Regenzeit gleicht hier jede Felsspalte einem Wasserfall oder einem reißenden Bach.«

Plötzlich bog er scharf rechts ab, in einen schmalen Weg, den Katharine gar nicht bemerkt hätte, wenn sie selbst gefahren wäre. Zwei betonierte Fahrspuren führten durch einen dichten Wald mit umrankten Bäumen und endeten an einem Tor aus patinierter Bronze und Kupfer. Mit seiner bambusähnlichen Form hob es sich kaum von der Vegetation ab, und als sich der Wagen näherte, öffnete es sich wie von selbst.

»Jeder Wagen, der auf das Gelände darf, ist mit einem Leitstrahl ausgerüstet, der das Tor aktiviert«, antwortete Rob auf Katharines unausgesprochene Frage. Als sie sich umblickte, schloß sich das Tor bereits wieder lautlos.

»Wovor hat er Angst?« fragte Katharine.

Rob lächelte. »Ich habe das Gefühl, dass Takeo Yoshihara vor gar nichts Angst hat. Er legt nur Wert auf seine Privatsphäre, und glaub mir, er kann sie sich leisten.«

Katharine lehnte sich noch einmal zurück. Kurz darauf bog Rob erneut ab, und als sie den Regenwald hinter sich ließen, bot sich ihr ein atemberaubend schöner Anblick.

Das Gebiet vor ihnen erstreckte sich über eine Fläche von vielleicht fünf Morgen. Es schien, als habe die Natur selbst die Landschaft aus dem Wald gemeißelt, als seien die Grundstrukturen schon seit ewigen Zeiten vorhanden. Takeo Yoshiharas Anwesen lag in einer weiten Grünanlage, deren Hintergrund mit Farn bedeckte Felsenwände bildeten, über die drei Wasserfälle herabströmten, silbern leuchtende Bänder, die von einem hochgelegenen Plateau herabflossen und sich vor dem Haus mit sanftem, musikalischem Perlen in einen Teich ergossen. Der Rasen vor dem Teich sah so gepflegt aus wie das Grün eines exklusiven Golfklubs, eine smaragdene Fläche, die von Beeten mit bunten tropischen Blumen durchbrochen wurde. Streifen hoch aufragenden, rotblühenden Ginsters kontrastierten mit den farbig zartesten Orchideen, die Katharine je gesehen hatte. Große Lavafelsen waren so geschickt plaziert, dass es zunächst schien, als hätten sie schon immer dort gelegen. Aber während der Explorer den Kieselweg entlangfuhr, der die beiden Zementstreifen abgelöst hatte, erkannte sie, dass es sich um einen ins Gigantische vergrößerten Zen-Garten handelte. Die Steine, an denen sie vorbeikamen, schienen sich beinahe zu bewegen. In einem sich ständig ändernden Muster tauchten sie auf und verschwanden wieder.

Am Rand des riesigen Gartens standen einige Gebäude, die eine Art Innenhof begrenzten. Die Häuser hatten etwas Orientalisches, spiegelten aber auch alte hawaiianische Einflüsse wider. Die mit grünen Ziegeln gedeckten Dächer harmonierten mit dem Rasen und dem alles umgebenden Regenwald genauso, als habe man die traditionellen Palmenblätter verwendet, und auch wenn die Mauern mit Stuck bedeckt waren, erinnerten die riesigen Stützpfeiler, die an jeder Ecke offenlagen, an die Bauweise der alten polynesischen Hausboote. Als der Wagen vor dem größten Haus hielt, trat ein Mann auf die breite Veranda.

Rob brauchte Katharine nicht erst zu verraten, dass es sich um seinen Gönner, Takeo Yoshihara, handelte. Der Mann war groß und schlank, und noch bevor er mit ausgestreckter Hand die beiden Stufen hinab auf sie zuging, spürte sie, dass sie hier wenig von der steifen Formalität finden würde, die sie bei ihren seltenen Zusammentreffen mit Japanern im Laufe der Jahre kennengelernt hatte. Dieser Eindruck entstand zum Teil sicher durch seine Kleidung: ein buntes Blumenhemd mit offenem Kragen, weiße Baumwollhose und Sandalen.

»Dr. Sundquist!« Yoshiharas Stimme klang freundlich und warm. Er streckte seine Hand durch das offene Wagenfenster. Grinsend fügte er drei Worte hinzu. »Nehme ich an?«

Sein Charme war erheblich frischer als der etwas müde Scherz. Katharine hatte ihn so oft gehört, dass sie sich kaum mehr als ein müdes Lächeln abringen konnte. Aber diesmal wanderte ihr Blick durch den dichten Regenwald, der Takeo Yoshiharas Anwesen von der Außenwelt abschirmte, und sie musste unwillkürlich lachen. »Endlich sagt es mal jemand in der passenden Umgebung«, meinte sie. »Und ich fürchte, dass ich mir ähnlich verloren vorkäme wie Livingstone, wenn ich mich allzu weit in diesen Wald vorwagen würde.«

»Wieso fällt es mir schwer, das zu glauben?« fragte Yoshihara. »Vielleicht deshalb, weil Rob mir erzählt hat, Sie seien eine der besten Feldforscherinnen, die er kennt?«

Katharine hielt es nicht für angebracht zu erwähnen, dass sie Rob zwanzig Jahre lang kaum gesehen hatte. »Ich hoffe, ich enttäusche Sie nicht.«

Yoshihara trat einen Schritt zurück. »Bestimmt nicht. Ich bin sehr interessiert zu hören, was Sie von unserer kleinen Entdeckung halten.«

Sie fuhren weiter. Nachdem Rob den Explorer anderthalb Kilometer über einen Weg gelenkt hatte, der so uneben war, dass er selbst den Vierradantrieb des Explorers auf eine harte Probe stellte, erreichten sie eine weitere Waldlichtung. Diese hatte jedoch keinerlei Ähnlichkeit mit der, die sie gerade verlassen hatten. Hier gab es keinen Zentimeter manikürten Rasens, keine kunstvoll arrangierten Steine, perfekt bepflanzten Gärten oder architektonisch beeindruckenden Gebäude. Das Bild, das sich ihnen bot, kam Katharine dafür um so bekannter vor.

Sie sah zwei große Zelte, die aus wenig mehr als zwischen Bäumen aufgespannten Planen bestanden, mit Leintüchern als Wänden, die sich bei schönem Wetter hochklappen ließen. An diesem Nachmittag hatte der Himmel jedoch bereits eine bleigraue Farbe angenommen, und die Stoffbahnen hingen herab. Aber durch die Zwischenräume erkannte Katharine die gleichen groben Arbeitstische, die sie selbst so oft benutzt hatte. Die Lichtung sah aus, als sei sie erst vor kurzem gerodet worden. Die Baumstümpfe, die überall aus dem Boden ragten, waren noch frisch. Am Rand lagen Holzhaufen, die langsam vermoderten, und am anderen Ende der Lichtung hackte sich ein Mann mit nacktem Oberkörper mit einer gefährlich aussehenden Machete durch das Unterholz. Ein paar Meter neben ihm sah Katharine so etwas wie einen Plankenpfad. »Führt der zur Fundstelle?« fragte sie.

Rob nickte. »Ja, von hier aus gehen wir zu Fuß weiter. Es sind noch etwa zweihundert Meter bis dort, aber näher an die Fundstelle konnten wir die Station nicht legen.«

»Kann ich sehen, was ihr bislang gefunden habt, bevor wir weitergehen?«

»Aber natürlich.« Vor ihr trat er in ein Zelt, in dem zwei große Tische standen. Einer von ihnen war leer, aber auf dem anderen lagen etwa ein Dutzend Artefakte, die kaum mehr als primitiv bearbeitete Lavastücke zu sein schienen.

»Wie lange arbeitest du schon hier?« fragte Katharine und nahm ein glatt geschliffenes Objekt in die Hand, das nicht anders aussah als Hunderte primitiver Schleifsteine, die sie schon gesehen hatte.

»Zwei Monate«, antwortete Rob. »Seit du dich bereit erklärt hast zu kommen, habe ich mehr oder weniger Pause gemacht. Ich habe die meiste Zeit in einem Dorf bei Hana verbracht.«

Katharine nahm ein weiteres Objekt in die Hand und drehte es hin und her. Auch hier konnte sie nichts Ungewöhnliches entdecken. »Dann laß uns mal schauen, was du zu bieten hast.«

Der Pfad, der zur Fundstelle führte, war steil und felsig. »Wie hast du sie überhaupt entdeckt?« fragte Katharine, die gerade über einen vermodernden Baumstamm stieg. Vorsichtig prüfte sie den Boden auf der anderen Seite, bevor sie weiterging.

»Ich überhaupt nicht. Einer von Yoshiharas Gärtnern suchte hier oben nach einer bestimmten Farnart und fand eines der Artefakte, die du im Zelt gesehen hast. Aber selbst nachdem er mir die Stelle gezeigt hatte, dauerte es noch ungefähr eine Woche, bis wir überzeugt waren, wirklich etwas Wichtiges gefunden zu haben.«

Nach fünfzig Metern erreichten sie eine weitere Lichtung. Sie war kleiner als die andere, doch um so sorgfältiger aus dem Regenwald geschlagen worden. Katharine erkannte mit einem Blick, dass die Crew darauf geachtet hatte, den Waldboden völlig intakt zu lassen. Dabei lag die Fundstelle nicht einmal in der Erde, sondern auf einem erhöhten Vorsprung in einer der unzähligen kleinen Felsspalten, die diese Seite des Berges zernarbten. Katharine hörte das Rauschen eines Wasserfalls, der sich in einen Teich ergoß - offenbar das verlockende Bild, das Robs Brief begleitet hatte. Der Bach, der aus dem Teich abfloß, schlängelte sich am Boden der Schlucht entlang.

»Hier verlief damals ein Eruptionskanal, als der Haleakala noch aktiv war«, erklärte Rob. »Die meisten Felsspalten in diesem Gebiet sind durch Erosion entstanden, aber bei dieser hier ist es anders. Sie scheint von dem Vulkan selbst gebildet worden zu sein.« Er deutete auf einige gelbliche Ablagerungen an einem überhängenden Felsen. »Du kannst dort den Schwefel sehen, und der wäre nicht vorhanden, wenn der Felsen durch Erosion entstanden wäre.«

Katharine trat ein paar Schritte vor. »Man kann es sogar noch riechen. Bist du sicher, dass der Kanal nicht mehr aktiv ist?«

»In diesem Jahr wird der Haleakala offiziell für erloschen erklärt werden«, entgegnete Rob. »Seit über zweihundert Jahren ist keinerlei Aktivität mehr verzeichnet worden.«

»Geologisch gesehen sind zweihundert Jahre gar nichts«, wandte Katharine ein.

»Eine Nanosekunde auf der Uhr des Archäologen, stimmt. Aber wenn die Vulkanexperten sagen, er sei erloschen, kann ich auch nichts machen.«

Kopfschüttelnd wandte Katharine ihre Aufmerksamkeit einem unebenen Steinkreis zu. Er war noch nicht ganz freigelegt, aber auch so erkannte sie, dass es sich um eine Feuerstelle handelte. »Du musst sehr vorsichtig zu Werke gehen, wenn ihr das ausgrabt«, sagte sie zu Rob. »Daraus lassen sich eine Menge wichtiger Daten gewinnen.«

»Was meinst du mit >du musst vorsichtig sein

Katharine atmete heftig aus.

Knochen.

Auch sie waren erst zu einem kleinen Teil ausgegraben worden, so dass sie kaum aus der Oberfläche hervortraten. Trotzdem erkannte sie sofort den oberen Teil eines Schädels und Fragmente eines Kiefers. Sie ließ sich auf die Knie nieder und untersuchte die Knochen mit einem Zahnstocher, den sie aus ihrem Rucksack gefischt hatte. Rob kniete sich neben sie.

»Was meinst du?« fragte er.

Katharine konzentrierte sich bereits völlig auf die noch halb vergrabenen Knochen. Sie schien ihn kaum zu hören, und es dauerte einige Sekunden, bevor sie antwortete.

Sekunden, in denen sie von einem seltsamen Gefühl gepackt wurde.

Auch wenn sie nicht genau wusste, warum, und obwohl sie nur wenig von den Knochen sehen konnte, war sie sicher, dass mit ihnen etwas nicht stimmte.

Eine ganze Menge nicht.

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