Jack Peters wünschte sich, die passenden Worte für die zwölf Teenager zu finden, die ihn umringten. Heute alberten die Jungen nicht herum wie sonst vor Beginn der Trainingsstunde. Jeder schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen, aber als der Trainer seinen Blick über die Gesichter wandern ließ, entdeckte er etwas Gemeinsames:
Furcht.
Keiner von ihnen wusste, warum Kioki Santoya letzte Nacht gestorben war, und weil sie es nicht wussten, hatten sie Angst.
Er glaubte zu wissen, was sie dachten.
Was, wenn Kioki an einer dieser neuen Krankheiten gestorben war, Ebola oder so etwas, die einen innerhalb weniger Stunden töteten, während man sich das Hirn auskotzte und überall zu bluten begann?
Was, wenn jemand Kioki getötet hatte?
Was, wenn ... ?
Jack Peters kannte so viele Wenns, dass er sie unmöglich alle beantworten konnte. Solange sie nicht wussten, was mit Kioki geschehen war, konnte er im Grunde keine einzige Frage beantworten. »Ich schätze, keinem von uns ist heute nach Training zumute«, sagte er schließlich. »Mir jedenfalls nicht. Ich weiß, dass viele Leute in einem Fall wie diesem sagen, dass man sich ablenken soll, um nicht dauernd daran denken zu müssen. Aber ich vermisse Kioki, und ...« Seine Stimme verlor sich. Er räusperte sich laut. »Ich glaube, ich möchte einfach an ihn denken. Deshalb fällt das Training heute aus. Wer hierbleiben und reden will - ich bin da. Wenn nicht, auch okay.« Er sah die Jungen an. »Ich schätze, das ist alles, was ich zu sagen habe.«
Einige Sekunden lang bewegte sich niemand. Es war, als warte jeder darauf, dass einer der anderen sich irgendwie regte. Schließlich machte sich Rick Pieper mit gesenkten Schultern, die Hände in den Hosentaschen vergraben, auf den Weg zum Umkleideraum. Peters wusste, dass Kioki Ricks bester Freund gewesen war. Kurz darauf folgten Jeff Kina und Michael Sundquist. Als ließen sie sich von den dreien führen, die Kioki zuletzt lebend gesehen hatten, gingen nun auch die anderen langsam zu den Umkleideräumen. Das Schweigen, das über den Jungen gelastet hatten, löste sich auch dann nicht, als sie ihre Trainingssachen abstreiften und wieder ihre Straßenkleidung anzogen.
Zehn Minuten später kamen Michael, Jeff und Rick gemeinsam aus der Sporthalle. Josh Malani wartete auf sie.
»Sollen wir irgendwo was essen gehen?« fragte Josh. Michael merkte an seiner unsicheren Art, dass er sich fragte, ob irgendeiner der Freunde ihn für Kiokis Tod verantwortlich machte.
»Ich hab eigentlich keinen Hunger«, entgegnete Jeff.
Joshs Augen zogen sich zusammen. »Hört mal, was gestern mit Kioki passiert ist, war bestimmt nicht unsere Schuld.«
»Das hat auch keiner gesagt«, antwortete Jeff. »Ich will einfach wissen, was passiert ist. Ich meine ...« Ein Polizeiwagen fuhr auf den Schulparkplatz. »Oh, oh.«
Die anderen drei Jungen folgten Jeffs Blick.
»Glaubst du, sie wissen schon, dass wir in Kens Tauchladen eingebrochen sind?« fragte Rick Pieper. Der Wagen hielt an.
»Wir sind nicht eingebrochen«, sagte Josh schnell. Der Polizist stieg aus seinem Wagen und kam auf sie zu. »Er kann, es gar nicht wissen. Wir sagen, dass wir in der Spielhalle in Kihei waren. Okay? Wir haben nur Videospiele gespielt.«
Cal Olani trat auf sie zu, und Michael sah, wie es in Joshs Augen feindselig glitzerte.
Cal Olani sah es auch. »Nur die Ruhe, Josh«, sagte er. »Ich bin nicht hier, um euch Ärger zu machen. Ich will nur dir und deinen Freunden wegen letzter Nacht ein paar Fragen stellen.« Er sah die Jungen nacheinander an. Dann blieb sein Blick an Michael hängen. »Wir kennen uns, glaube ich, noch nicht.« Er streckte seine rechte Hand aus. »Ich bin Cal Olani.«
»Michael Sundquist«, antwortete Michael und schüttelte die Hand des Polizisten.
»Du warst also gestern abend auch mit Kioki zusammen?«
Michael nickte.
»Was dagegen, wenn ich ein paar Fragen stelle?«
Michael zuckte mit den Schultern.
»Was habt ihr denn gestern abend gemacht?«
Michael spürte, wie sich sein Magen vor Aufregung zusammenzog. Er war sicher, dass es der Cop merken würde, wenn er nicht die Wahrheit sagte. Aber noch bevor er etwas sagen konnte, schaltete sich Josh Malani ein.
»Kommen Sie, wir haben nur in der Spielhalle draußen in Kihei rumgehangen,«
»Stimmt das?« fragte Olani Michael.
Michael spürte, wie Joshs Blick ihn durchbohrte. Schließlich sagte er sich, dass er nicht log, wenn er nichts Konkretes sagte. Er zuckte lediglich nichtssagend mit den Schultern und setzte die gleiche abweisende Miene auf wie Jeff Kina und Josh.
Olani wandte sich an Rick Pieper. »Und du hast Kioki also abgesetzt?«
Rick nickte. »Ich bot ihm an, ihn ganz bis nach Hause zu fahren, aber er hatte Angst, dass ich mit meinem Wagen seine Mutter aufwecken würde. Also hab ich ihn an der Straße rausgelassen.«
»Und stimmte alles mit ihm?«
Rick zog die Stirn in Falten. »Sie meinen, ob ihm schlecht war oder so?«
Als der Polizist nickte, zuckte Rick mit den Schultern. »Ich denke, es ging ihm gut. Ich meine, er hat nichts gesagt, und da ich ihn nicht nach Hause bringen sollte, muss es ihm ja gut gegangen sein, oder?«
Cal Olanis Blick wanderte von einem Jungen zum anderen. »Wie sieht es mit euch aus? Geht es euch gut?«
»Seit wann interessieren Sie sich dafür, wie es uns geht?« entgegnete Josh.
Bevor Olani antworten konnte, fragte Rick Pieper: »Kioki war also krank? Deshalb ist er gestorben?«
Olani zögerte. Er wusste, dass sich jede Antwort, die er jetzt gab, wie ein Lauffeuer in der Schule verbreiten würde - und von dort über die ganze Insel. Dabei hatte Laura Hatcher nicht gesagt, woran Kioki gestorben war, sie hatte lediglich bestimmte Möglichkeiten ausgeschlossen. »Das wissen wir noch nicht. Aber er scheint keine äußeren Verletzungen zu haben.« Er wandte sich an Josh. »Hör mir gut zu, Malani. Ich will euch wirklich nichts Böses. Ich versuche nur herauszufinden, was mit eurem Freund geschehen ist, damit es nicht auch noch anderen passiert. Also ganz die Ruhe, okay?«
Josh schob die Hände in die Hosentaschen. »Alles klar«, sagte er. »Wir wissen nur einfach nichts.«
Noch einmal sah Olani die Jungen an. Er war sicher, dass sie ihm etwas verschwiegen. Andererseits hatte er dieses Gefühl immer dann, wenn er irgend etwas mit den Jugendlichen auf der Insel zu besprechen hatte. Und solange er nicht genau wusste, woran Kioki gestorben war, hatte es keinen Sinn, sie zu bedrängen. Ein anderes Mal vielleicht, aber heute nicht. »Na schön«, meinte er. »Macht nur keinen Ärger, okay? Ich habe erst morgen wieder Dienst.«
»Was glaubt ihr?« fragte Jeff Kina, als der Sheriff davonfuhr. »Weiß er, dass wir uns Kens Sachen ausgeliehen haben?«
»Natürlich nicht«, behauptete Josh. »Wenn doch, wäre er nicht so schnell gegangen.« Er wandte sich an Michael. »Soll ich dich nach Hause fahren?«
Michael zögerte. Er überlegte, ob es nicht besser gewesen wäre, dem Polizisten zu erzählen, was gestern geschehen war. Und als der Mann sie gefragt hatte, ob es ihnen gut ging, hatte er sofort an den Sportunterricht gedacht, als er ...
Aber das hatte er schließlich überstanden.
Na ja, nicht ganz. Selbst jetzt spürte er noch etwas in der Brust - nichts Schlimmes, aber irgendwie komisch. Und wenn die anderen sich gut fühlten, wollte er nicht derjenige sein, der herumjammerte. »Klar«, sagte er schließlich zu Josh. »Fahren wir.«
Als sie fünf Minuten später in die Makawao einbogen, merkte er, dass Josh sein Zögern nicht entgangen war. »Bist du sauer auf mich?« fragte er.
Michael zuckte die Schultern. »Eigentlich nicht. Aber ...«
»Dich haben die Bullen bestimmt noch nicht herumgeschubst, stimmt's?« fragte Josh. Michael sah seinen Freund an, aber der schaute nur geradeaus. »Du bist bestimmt nie von ihnen mitten in der Nacht am Strand aufgegriffen und gefragt worden, was du da zu suchen hättest. Und du hast dich bestimmt auch noch nie um die Antwort drücken müssen, weil du nicht zugeben wolltest, dass dein Vater so besoffen war, dass du nicht nach Hause getraut hast.«
Michael preßte die Lippen zusammen.
»Du musstest auch bestimmt noch keine Nacht auf der Polizeiwache verbringen, weil dich keiner von deiner Familie abholen wollte, oder?«
Michael schüttelte den Kopf und sagte noch immer nichts.
»Okay, vielleicht hätten wir es ihm sagen sollen«, räumte Josh schließlich ein. »Aber ich habe einfach keine Lust mehr, herumgeschubst zu werden. Also sei nicht sauer auf mich, okay?« Er zögerte und fügte dann hinzu: »Komm, Mike, laß uns was zusammen machen.«
»Was denn?« fragte Michael vorsichtig.
Joshs Stimme klang plötzlich fast schüchtern. Er starrte noch immer nach vorne. »Meinst du, deine Mutter hätte was dagegen, wenn du mir zeigst, was sie ausgegraben hat?«
Michael wandte den Kopf zu seinem Freund. »Du machst Witze. Du willst dir eine archäologische Ausgrabungsstätte ansehen?«
Josh Malani errötete. »Wieso nicht? Ich bin doch nicht blöd, oder was?«
Michael musste lachen. »Na ja, manchmal benimmst du dich schon blöd«, sagte er. In diesem Augenblick kamen sie an einer Telefonzelle vor einem der Häuser von Makawao vorbei. »Halt mal eben an.«
Josh fuhr an die Seite. »Also sind wir noch Freunde?«
»Natürlich sind wir noch Freunde«, versicherte Michael. »Ich rufe nur eben meine Mom an, damit sie uns am Tor erwartet.«
»Am Tor?« fragte Josh. »Welches Tor?«
»Hast du schon mal von einem Takeo Yoshihara gehört.«
Josh sah ihn verblüfft an. »Das ist der Mann, für den deine Mutter arbeitet?«
»Ist das so eine große Sache?« fragte Michael zurück.
Josh nickte. »Hier auf der Insel gibt es keine größere. Niemand hat ihn je gesehen, und niemand weiß, was er wirklich macht. Und kaum jemand weiß, wo er wohnt.«
»Nun, dann mach dich bereit«, sagte Michael. »Denn gleich wirst du das alles sehen.«
Warten wir's ab, dachte Josh, als Michael aus dem Truck stieg, um seine Mutter anzurufen. Warten wir's ab.
»Ach, du meine Güte«, flüsterte Josh, als sie den Regenwald hinter sich ließen und in den riesigen Garten fuhren, der zu Takeo Yoshiharas Anwesen gehörten. Sie folgten Rob Silvers Explorer. »Sieh dir das an! Was mag das gekostet haben?«
Auch wenn seine Mutter ihm das Gelände beschrieben hatte, war Michael doch so wenig auf den Anblick vorbereitet wie Josh. Sein Blick wanderte von einem Teich zu einem Wasserfall und von dort aus zu einem Zen-Garten, ohne dass er alles erfassen konnte. »Zehn Millionen?« schätzte er.
»Bestimmt viel mehr«, meinte Josh. »Sieh dir nur die Häuser an. Das ist alles Kao-Holz, Mann. Das kostet ein Vermögen.« Er fuhr langsamer und sah sich um. Plötzlich tauchte ein Albino-Pfau aus einem der Wäldchen auf, baute sich auf und spannte seinen riesigen Schwanz zu einem weißen Fächer auf. »Ich glaube es nicht«, hauchte Josh. »Was meinst du, wie viele Leute sich allein um diesen Garten kümmern?«
Michael grinste. »Vielleicht kriegen wir hier einen Ferienjob als Gärtner.«
»Vielleicht«, stöhnte Josh. »Aber ich glaube, hier musst du Landschaftsarchitekt sein, damit du den Rasen mähen darfst.«
Kurz darauf hatten sie das Anwesen verlassen und fuhren auf dem holperigen Weg, der zu der drei Kilometer entfernten Ausgrabungsstätte führte.
Stephen Jameson sah aus dem Fenster seines Büros in dem langen, niedrigen Gebäude, das am anderen Ende des Gartens der Privatresidenz seines Arbeitgebers stand. Er hatte zwar gesehen, dass ein Explorer, gefolgt von einem rostigen Pick-up, durch den Garten gefahren war, aber er hätte wohl nur mit Mühe die Farbe der beiden Fahrzeuge nennen können. Das Problem, mit dem er sich konfrontiert sah, hatte seine gesamte Aufmerksamkeit in Anspruch genommen.
Auf seinem Schreibtisch lag eine Kopie des Autopsieberichts. Daneben stand das Glas mit der Gewebeprobe von Kioki Santoyas Lunge, die dieser Krankenpfleger aus dem Leichnam geschnitten hatte. Jameson hatte kurz mit dem Gedanken gespielt, die Leiche des Jungen von dem Krankenhaus auf das Anwesen überführen zu lassen, aber wahrscheinlich würde das nur noch mehr Aufsehen erregen. Außerdem würde es nicht mehr viel bringen. Jameson war sich bereits sicher, was den Tod des Jungen verursacht hatte. Zwar hatte er erst einen flüchtigen Blick durch das Mikroskop in seinem Büro geworfen, aber die Laboranalyse der Gewebeprobe würde, davon war er überzeugt, seine Ergebnisse nur bestätigen.
Die Frage war nur, wie Kioki verseucht worden war. Eine ebenso wichtige Frage lautete: Waren die drei Jungen, die in dem Memo erwähnt wurden, das dem Bericht beilag, ebenfalls verseucht worden?
Stephen Jameson griff zum Telefon, wählte eine vierstellige Rufnummer und begann zu sprechen, kaum dass die Verbindung hergestellt war.
»Hier ist Dr. Jameson. Ich habe drei Namen: Jeff Kina, Josh Malani und Rick Pieper. Alle drei sind sechzehn oder siebzehn Jahre alt. Alle drei müssen beobachtet werden. Wenn irgend etwas mit ihnen sein sollte - wenn sie krank werden -, sollen sie sofort hierher gebracht werden. Haben Sie verstanden?«
Der Mann am anderen Ende der Leitung wiederholte die drei Namen. Stephen Jameson wollte gerade auflegen, als ihm noch etwas auffiel. »Es gibt da noch einen Namen«, sagte er. »Elvis Dinkins. Er hat das Anwesen vor wenigen Minuten verlassen. Es wäre am besten, wenn er nicht in Wailuku ankäme.«
Kaum einen halben Kilometer hinter dem Anwesen Takeo Yoshiharas war Josh Malani bereits zweimal von der Straße abgekommen und hatte sich zweimal von Rob Silver auf den Weg zurückziehen lassen müssen.
»Vielleicht sollten wir deinen Truck besser hier stehenlassen und den Rest des Weges mit dem Explorer fahren«, schlug Rob vor, als er das Abschleppseil von Joshs vorderer Stoßstange losband.
»Ich schaffe das schon«, beharrte Josh. »Ich bin schon auf viel schlechteren Straßen gefahren.«
Rob sah dem Jungen an, dass jedes weitere Argument sinnlos wäre. Er warf das Seil wieder in den Explorer und fuhr weiter, wobei er immer wieder durch besorgte Blicke in den Rückspiegel kontrollierte, ob Josh nicht neuerlich von der Straße abgekommen war.
Doch erstaunlicherweise gelang es Josh tatsächlich, seinen Pick-up in der Spur zu halten, und schließlich erreichten die Wagen die Lichtung, wo die Zeltbahnen heruntergelassen worden waren, um die Arbeitstische vor der Sonne zu schützen. Josh war deutlich die Enttäuschung darüber anzusehen, dass es hier nicht mehr zu sehen gab als ein paar alte Steine. »Das hier ist nicht die eigentliche Stelle«, sagte Katharine, die aus einem der Zelte gekommen war. »Sie ist da oben. Kommt mit.«
Als sie die Jungen den steilen Weg hinauf zu der Schlucht führte, spürte Michael wieder das seltsame Gefühl in der Brust.
Eigentlich war es kein richtiger Schmerz.
Nur ein komisches Gefühl, als bleibe einem die Luft weg. Dabei machte ihm das Atmen keine Schwierigkeiten.
Komisch.
Er bemühte sich, gegen das seltsame Gefühl anzugehen, und ging weiter, bis sie zu dem Vorsprung kamen, auf dem sich die Feuerstelle und das Skelett befanden.
»Mann«, flüsterte Josh, als er auf die Knochen herabblickte, die in ihrer ursprünglichen Position vor ihm lagen. »Was ist das? Ein Schimpanse?«
»Weder ein Schimpanse noch ein Gorilla«, antwortete Katharine. Sie kniete nieder und begann die Besonderheiten des Skeletts zu erklären, aber Michael hörte ihr gar nicht mehr zu. Kaum hatte er das Skelett gesehen, als ihn ein Gefühl überkommen hatte, das noch seltsamer war als das in seiner Brust.
Ein Gefühl, als ob eisige Finger seinen Rücken entlang strichen.
Furcht, aber irgendwie nicht schlimm.
Wie gebannt starrte er auf das Skelett und musste sich schließlich zwingen, den Blick abzuwenden.
Er sah sich um.
Vielleicht erinnerte ihn dies alles nur an etwas anderes - an eine andere Fundstelle, an der seine Mutter gearbeitet hatte, irgendwo in Afrika.
Aber die Orte, die er in Afrika gesehen hatte, ähnelten diesem hier überhaupt nicht. Sie lagen in trockenen Wüstengebieten, wo so selten Regen fiel, dass es praktisch keinerlei Vegetation gab. Hier jedoch umgab sie der Regenwald, dessen Blätterdach sich über ihnen wölbte. Ranken kletterten die Bäume hinauf, Farne sprossen aus Felsspalten, alles war von Moos bedeckt.
Afrika war anders gewesen - jeder Ort, an den er sich erinnerte, war anders gewesen.
Er schaute wieder auf das Skelett. Er beugte sich herab und legte seine Hand auf die steil abfallende Stirn des Schädels.
Warum? dachte er. Warum tue ich das?
»Vorsichtig«, hörte er seine Mutter.
Erschrocken zog er die Hand weg und schaute zu ihr auf. »Was ist das?« fragte er.
Katharine zog die Brauen zusammen und sah ihn halb verwundert, halb belustigt an. »Hast du gar nicht zugehört? Ich habe Josh gerade erklärt, dass es zu nichts zu passen scheint, was ich kenne.«
Michael konnte den Blick nicht von den Knochen abwenden. Erneut spürte er den seltsamen kalten Schauder, die Beklemmung in seiner Brust. Unwillkürlich griff er wieder nach dem Schädel, aber bevor er ihn erneut berührte, drang die Stimme seiner Mutter zu ihm durch.
»Michael? Junge, geht es dir gut?«
Michael zog die Hand zurück und richtete sich auf. Wie konnte er seiner Mutter erzählen, wie er sich fühlte? Wie konnte er es irgend jemandem erzählen, da er es ja kaum selbst verstand? Schließlich gelang es ihm, sich von dem seltsamen Schädel loszureißen. Er sah seine Mutter an.
»Was ist los?« fragte sie. »Irgendwas stimmt doch nicht.«
»Ein Freund von uns ist gestern nacht gestorben«, sagte Josh.
Sie sah ihn fassungslos an. »Ein Freund von euch?« wiederholte sie. Ihr Blick wanderte von Josh zu Michael. »Einer von den Jungen, mit denen du gestern abend zusammen warst?«
Michael nickte. »Kioki Santoya«, sagte er. »Er war im Laufteam.«
Katharine ließ sich auf einem Felsen nieder. »Wie?« fragte sie. »Was ist geschehen?«
Zögernd erzählten Michael und Josh ihr das wenige, das sie über Kiokis Tod wussten.
»Und er ist einfach gestorben?« fragte Katharine, als sie fertig waren. »Mitten im Zuckerrohrfeld?«
Michael und Josh nickten. Katharine erhob sich und legte die Arme um ihren Sohn. »Wie furchtbar«, sagte sie. »Du fühlst dich bestimmt ...«
»Ich bin okay, Mom.« Michael spürte, wie ihm die Röte ins Gesicht schoß, während er sich aus ihrer Umarmung löste. »Ich ... ich hab' ihn ja kaum gekannt.« Er sah Josh an und merkte sofort, wie seine Worte geklungen haben mussten. »Ich meine...« Er druckste eine Weile herum und stieß dann hervor: »Ach, ich weiß nicht, was ich meine!« Er wandte sich ab und lief den Weg hinauf, bis zu der tiefen Spalte in der Schlucht, der alten Fumarole. Das Blattwerk versperrte ihm fast völlig die Sicht. Er stolperte über einen umgestürzten Baum.
Mist.
Was, zum Teufel, war nur los mit ihm? Warum hatte er das gesagt?
Er sah, wie jemand ihm folgte. Großartig! Jetzt musste seine Mutter ihm auch noch hinterherlaufen wie einem Zehnjährigen.
Oder einem Asthmatiker!
Aber dann brach Josh durch die Büsche, und erneut spürte Michael, wie er errötete. »Hör mal, das mit Kioki hab' ich nicht so gemeint. Ich meinte ...«
»Schon gut«, sagte Josh und ließ sich neben Michael auf einen Baumstamm fallen. »Ich sage die ganze Zeit Sachen, die ich nicht so meine.«
Michael spürte, wie die Hitze aus seinem Gesicht wich. »Noch Freunde?«
Josh grinste. »So leicht wirst du mich nicht los.« Schweigend saßen die beiden Jungen eine Weile beisammen und lauschten dem Vogelgesang und dem Rauschen des Wasserfalls. »Wieso wolltest du nicht, dass deine Mom dich umarmt?« fragte Josh schließlich.
»Ich bin doch kein kleines Kind mehr«, stöhnte Michael. »Ich meine, Josh, wirklich. Findest du es gut, wenn deine Mom dich vor deinen Freunden umarmt?«
Josh sah Michael an. »Ich weiß es nicht«, sagte er. »Meine Mom umarmt mich nie.« Er stand auf. »Vielleicht gehen wir besser zurück, was?«
Michael und Josh machten sich gerade auf den Weg, als Rob Silver auftauchte. »He, was treibt ihr denn hier?«
»Nichts«, sagte Michael. »Wir reden nur.«
»Hier oben?« fragte Rob und rümpfte angeekelt die Nase. »Hier wabern die Schwefeldämpfe ja förmlich durch die Luft. Wie haltet ihr bloß den Gestank aus?«
Michael und Josh sahen einander an. »Welchen Gestank?« fragte Michael.
»Die Fumarole«, antwortete Rob. »Riecht ihr den Schwefel nicht? Deine Mom und ich mussten praktisch den ganzen Nachmittag über husten.«
Michael wollte gerade etwas sagen, als Josh ihm zuvorkam. »So schlimm ist es nicht. Ich habe schon ganz andere Sachen gerochen.«
Rob Silver lachte. »Ja, vielleicht, wenn man auf einer Müllkippe wohnt. Kommt, verschwinden wir hier.«
Sie gingen zur Lichtung zurück. Michael fühlte sich auch dieses Mal wieder auf unerklärliche Weise von dem Schädel angezogen. Das seltsame Gefühl ergriff ihn stärker als je zuvor, und es schien ihm zu befehlen, sich erneut niederzuknien und den Schädel näher anzusehen. Als er sich abwandte, sich dazu förmlich zwingen musste, fiel ihm auf, dass das seltsame Gefühl in seiner Brust - diese Atemnot - verschwunden war.
Als sie fünf Minuten später wieder in Joshs Truck einstiegen, rief Katharine hinter ihnen her: »Soll ich euch Steaks zum Abendessen machen?«
Michael sah zu Josh hinüber. Er nickte. »Klar.«
»Würdet ihr dann bitte in Makawao anhalten und welche besorgen?«
»Kein Problem!« rief Josh. Er ließ den Motor aufheulen und brauste davon.
Katharine sah ihnen kopfschüttelnd hinterher. »Glaubst du, er fährt immer so, oder wollte er nur ein bißchen angeben?«
Rob legte Katharine seinen Arm um die Schulter. »Wann hörst du endlich auf, dir ständig Sorgen zu machen. Glaub mir, Josh ist ein richtig guter Fahrer. Auf dem Weg hierher musste ich seinen Truck nur zweimal wieder auf die Straße ziehen.«
Katharine erkannte weder an Robs Stimme noch an seinem Gesicht, ob er sie auf den Arm nahm oder nicht.
Michael hielt sich am Armaturenbrett fest, während der Pick-up durch die Schlaglöcher hoppelte. Wenn er wenigstens einen Sicherheitsgurt gehabt hätte! »Fahr doch langsamer«, forderte er Josh schließlich auf. »Du brichst dir noch die Achse.«
Josh lachte nur. »Niemals! Aber selbst wenn, könnten wir zu Fuß zu deinem Haus gehen.«
»Spinnst du?« entgegnete Michael. »Das sind doch noch viele Kilometer.«
Josh schüttelte den Kopf. »Wir sind einen Bogen gefahren. Wenn man die Lichtung auf der anderen Seite verläßt, kommt man nach kurzer Zeit zu einem Pfad. Dann braucht man nur noch über ein, zwei Zäune zu steigen und kommt an einer Stelle raus, die weniger als einen Kilometer von eurem Haus entfernt ist. Ich bin schon oft hier oben gewesen. Aber dass hier etwas begraben liegt, wusste ich nicht.«
Es dämmerte, als Josh aus dem Eukalyptuswald bog und den Wagen vor dem Haus der Sundquists parkte. Aber Michael stieg nicht sofort aus, sondern betrachtete gedankenverloren die Abenddämmerung im Tal tief unter ihnen. »He, Josh«, sagte er.
Etwas in seiner Stimme machte den anderen Jungen stutzig. »Ja?«
»Dort oben an dem Schwefelschacht ...« Michael sah seinem Freund ins Gesicht. »Hast du da tatsächlich etwas gerochen?«
Josh zögerte. Dann schüttelte er den Kopf. »Ich habe gar nichts gerochen.«
»Warum hast du das nicht gesagt?«
»Ich hatte keine Lust auf ein Gespräch. Ich fand, es war besser, ihm zuzustimmen.«
»Glaubst du, dass Rob es gerochen hat?«
Josh runzelte die Stirn. »Sicher. Warum sollte er lügen?«
Michael beschlich eine böse Ahnung. »Warum haben wir es dann nicht gerochen?« fragte er. »Warum haben wir gar nichts gemerkt?«
Josh sah Michael fragend an. »Was ist mit dir los, Mann? Hört sich an, als hättest du Angst, oder so.«
Michael schüttelte den Kopf. »Ich habe eigentlich keine Angst. Aber ich muss immer an Kioki denken, und ...«
Josh drückte den Türgriff runter und schwang sich aus dem Pick-up. »Hör endlich auf, dir Sorgen zu machen. Ich sage dir, was auch immer Kioki zugestoßen ist, mit uns hatte es nichts zu tun. Alles ist in Ordnung.«
Aber als Michael aus dem Wagen stieg, konnte er einen Gedanken nicht abschütteln.
Wenn alles in Ordnung war, warum war Kioki dann tot?