Erwartungsfroh kehrte Katharine Sundquist auf Takeo Yoshiharas Anwesen zurück. Sie war überzeugt davon, dass sie nicht nur den Schlüssel zu den verschwundenen Computerdateien in Händen hielt, sondern auch den zur Erklärung des geheimnisvollen Schädels in der Felsspalte. Als sie eintraf, trugen Rob und einer seiner Helfer gerade die letzten sorgfältig beschrifteten Knochen aus dem Explorer in sein Büro. Sie musste ihre Ungeduld zügeln, bis der vollständige Fund auf einem Labortisch in dem Raum neben Robs Büro lag.
Aber ihre Zuversicht erlitt schnell wieder einen argen Dämpfer. Die Dateien waren längst nicht so einfach zu finden, wie sie erwartet hatte. Es hätte so leicht sein müssen. Sie hatten die Dateinamen, und Philip Howell war sicher, dass sie irgendwo auf Takeo Yoshiharas Computer sein mussten. Aber als Rob das Laufwerksverzeichnis aufrief, ließ sich keine Datei gleichen Namens finden. Er spürte ihre Enttäuschung und versuchte sie aufzumuntern. »Kein Problem. Das ist nur ein Laufwerk. Es muss mehrere geben. Ich starte eine Suche.«
Obwohl die Suche nur wenige Minuten in Anspruch nahm, schien sie Katharine eine Ewigkeit zu dauern. Endlich erschienen zwei Zeilen auf dem Bildschirm, welche die Resultate anzeigten, und sie fasste wieder Mut.
x:\serinus\artefakt\Philippinen\Schaedel.jpg
x:\serinus\artefakt\Phillipinen\video.avi
»Wenn die Verzeichnisse auf irgendeiner Logik basieren, wissen wir nun zumindest, woher der Schädel kommt«, sagte Katharine. »Aber was bedeutet ,serinus'?«
»Das ist eines von Yoshiharas Projekten«, antwortete Rob. »Es hat irgendwas mit Luftverschmutzung zu tun. Serinus ist die Gattungsbezeichnung für Finken, um genauer zu sein: serinus canaria - Kanarienvögel.«
»Kanarienvögel?« wiederholte Katharine. »Ich glaube, ich sehe den Zusammenhang nicht.«
»Der Zusammenhang besteht darin, dass man früher Kanarienvögel in die Minenschächte herabließ, um die Luft zu prüfen. Blieb der Vogel am Leben, konnten die Bergarbeiter hinuntersteigen. Starben sie, dann hieß das, dass gefährliche Gase im Schacht waren.« Er zögerte. »Sehr viel weiß ich über dieses Projekt nicht, aber es sieht so aus, als wolle Yoshihara neue Wege finden, um die Kanarienvögel vor dem Tod zu retten. Daher der Projektname. Eine etwas seltsame Art von Firmenhumor, wenn du mich fragst. Aber schauen wir mal, ob wir an diese Dateien rankommen.«
Mit wachsender Spannung sah Katharine zu, wie Rob einen Viewer startete und den Pfadnamen der jpg-Datei einkopierte. Gleich haben wir es geschafft dachte sie, wir sind fast am Ziel. Doch dann erlosch der Bildschirm, und ein Befehl wurde eingeblendet:
BITTE PASSWORT EINGEBEN
Rob probierte ein paar Möglichkeiten aus, von Ana-grammen aus »Artefakt« und »Serinus« bis hin zum rückwärts geschriebenen Namen von Takeo Yoshihara. Weder ihn noch Katharine wunderte es, dass nichts davon funktionierte. »Wer weiß?« sagte Rob schließlich seufzend. »Es könnte das Geburtstagsdatum von irgend jemandes Schwiegermutter sein oder eine zufällig gewählte Folge von Buchstaben und Zahlen. Und wenn ich es noch sehr viel öfter mit falschen Paßwörtern versuche, merkt der Computer vielleicht etwas und meldet mich.«
Mißmutig starrte Katharine auf den Bildschirm. Sie konnte die beunruhigenden Bilder auf dem seltsamen Video nicht vergessen. »Wahrscheinlich ist es sowieso nicht die richtige Datei«, sagte sie enttäuscht. »Was in aller in der Welt sollte auch ein Stamm, der eine Art Primaten abschlachtet, mit Luftverschmutzung zu tun haben?«
»Ich fürchte, darüber weißt du weitaus mehr als ich«, entgegnete Rob schulterzuckend. »Du bist schließlich die Knochenfrau.«
Aber Katharine wusste auch keine Antwort. Sie stocherten noch eine Weile in dem Verzeichnis namens Serinus herum, doch schon bald fanden sie heraus, dass nur eine einzige Datei ohne Paßwort zugänglich war.
Eine Datei, die ihre Vermutung bestätigte, dass Takeo Yoshihara und die Mishimoto Corporation das Problem der globalen Luftverschmutzung in der Tat durch ein gewaltiges Forschungsprojekt zu lösen versuchten. »In der Absicht, ein Vermögen mit ihren Entdeckungen zu machen«, kommentierte Rob, nachdem sie die Datei gelesen hatten.
Während des restlichen Nachmittags konzentrierte sich Katharine darauf, die Einzelteile des Skeletts zusammenzusetzen. Während sie arbeitete, begann eine Idee zarte Wurzeln zu schlagen. Erst als Rob sie schließlich bei der Arbeit unterbrach und vorschlug, zusammen essen zu gehen, bemerkte sie, wie schnell der Nachmittag vergangen war.
Sie hatte zwar noch immer keine Ahnung, wie sie die Datei mit dem Schädel und dem Video wiederherstellen konnte, aber dafür hatte sie zumindest das Skelett fast vollständig zusammengesetzt. Und die Idee nahm immer konkretere Gestalt an. »Ich glaube, ich mach' das hier noch zu Ende«, sagte sie Rob. »Geh nur. Wir sehen uns dann morgen.«
Nachdem Rob fort war, rief sie Michael an, um ihm mitzuteilen, dass es später werden würde.
»Wieviel später?« fragte er.
»Nur etwa zwei Stunden«, antwortete sie. »Und dann gehen wir eine Pizza essen, einverstanden?«
»Sicher«, sagte Michael, aber seine Stimme klang beinahe ängstlich.
»Alles in Ordnung?« fragte sie. »Oder ist was?«
Nach einem langen Schweigen sagte er: »Alles okay. Bis nachher.«
Sie legte auf und fragte sich, ob sie nicht lieber Schluß machen und nach Hause fahren sollte. Aber kaum hatte sie daran gedacht, als ihr endlich klar wurde, wie sie die Idee, die sie den ganzen Nachmittag beschäftigt hatte, in die Tat umsetzen konnte.
Noch einmal spielte sie das Video vor ihrem geistigen Auge ab. Aber diesmal fragte sie sich nicht, um was für ein Wesen es sich handelte, sondern wie alt es gewesen sein mochte.
Wenn es sich um einen kleinen Primaten gehandelt hatte, dann war es ausgewachsen.
Und wenn es kein Primat war?
Die Bilder liefen an ihr vorbei.
Wie die Stammesmitglieder es angestarrt hatten.
Wie seine Furcht zu wachsen schien und wie überrascht es gewesen war, als die Männer es jagten.
Das Wesen war viel kleiner als die Männer gewesen.
Und die Frau hatte sich verhalten wie ...
Wie eine unglückliche Mutter, die ein Kind verloren hat.
Ein Mutant?
Hatte sie auf dem Bildschirm etwa ein mutiertes menschliches Kind gesehen?
Aber wodurch mutiert? Durch Luftverschmutzung?
Noch während sich die Frage in ihrem Innern formte, bildete sich auch eine mögliche Antwort.
Mount Pinatubo.
Der Vulkan, der vor knapp zehn Jahren auf den Philippinen ausgebrochen war und so viel Asche und giftiges Gas in die Atmosphäre gespien hatte, dass Dutzende von Dörfern unbewohnbar wurden.
Wenn Alkohol und Tabak für Mißbildungen bei Föten verantwortlich waren, was konnten dann die Gase aus einem aktiven Vulkan anrichten? Katharine betrachtete das Skelett, aber sie dachte nicht an die Feuerstelle, neben der es begraben gewesen war, sondern an den Schwefelschacht etwas weiter die Felsspalte hinauf. Was, wenn die Überreste, die sie ausgegraben hatte, von jemandem stammten, der nur wenige Monate nach einem Ausbruch des Haleakala geboren worden war?
Sie wusste nun, dass sie das Alter der Knochen auf jeden Fall ganz genau bestimmen und mit einer der letzten Eruptionen auf Maui in Verbindung bringen musste.
Oder auf der Großen Insel, wo sich noch heute neue Eruptionskanäle öffneten und Gase aus den Eingeweiden des Planeten freigesetzt wurden.
Sie arbeitete noch drei Stunden, stellte Knochenproben zusammen und suchte im Internet nach Labors, welche die Analyse möglichst schnell und effizient durchführen konnten.
Dann spürte sie ihre Erschöpfung. Ihre Glieder taten weh, und ihre Gedanken verschwammen zu einem Nebel.
Sie hatte Michael versprochen, viel früher zurück zu sein.
Ohne aufzuräumen, verließ Katharine ihren Arbeitsplatz. Sie schaltete lediglich das Licht aus und wollte gerade die Tür abschließen, als das gleißende Licht von Autoscheinwerfern am Fenster vorbeiglitt. Im Dunkeln trat sie ans Fenster und sah hinaus.
Michael saß vor dem Fernseher und versuchte sich auf die Handlung des Films zu konzentrieren, doch immer wieder wanderten seine Gedanken in eine andere Richtung.
Er musste wieder und wieder an Josh denken, der sich auf der Toilette die Flasche mit Ammoniak ans Gesicht gehalten und die Dämpfe tief eingeatmet hatte. Und der wütend geworden war, als er ihm die Flasche weggenommen hatte.
Und er erinnerte sich an Joshs Blick, kurz bevor sein Freund aus dem Raum gerannt war. Eine Sekunde lang hatte Michael ihn nicht mehr wiedererkannt. Der Josh, den er kannte, war irgendwie verschwunden gewesen, und an seine Stelle war etwas anderes getreten ...
Ein wildes Tier.
Der Gedanke kam, ohne dass Michael ihn bewusst formulierte, aber je länger er darüber nachdachte, desto klarer wurde ihm, dass Josh tatsächlich so ausgesehen hatte: wie ein gefangenes Tier, das verzweifelt zu fliehen versucht.
Er erinnerte sich, dass er eine Sekunde lang gefürchtet hatte, Josh würde ihn angreifen und versuchen, die Flasche zurückzubekommen, die Michael ihm entrissen hatte.
Nach der Schule hatte Michael so lange wie möglich gewartet, in der Hoffnung, Josh würde wieder auftauchen, aber als der Schulbus schließlich zur Abfahrt bereit war, musste er einsteigen. Auf dem Heimweg hatte er immer wieder nach hinten geschaut. Vielleicht tauchte Josh doch noch auf, vielleicht überholte er den Bus mit wildem Gehupe und wartete dann an der nächsten Haltestelle auf ihn. Aber insgeheim wusste er, dass Joshs Pick-up nicht auftauchen würde. Seinem Freund war irgend etwas Schreckliches zugestoßen.
Sollte er die Polizei anrufen?
Aber was sollte er ihnen erzählen?
Sollte er die seltsame Geschichte wiedergeben, die Josh ihm erzählt hatte, von dem Feuer auf dem Zuckerrohrfeld, von Jeffs verrücktem Benehmen, von Joshs Flucht? Damit würde er Josh nur noch mehr Ärger machen. Und wenn Jeff Kina irgend etwas in dem Feld passiert wäre, dann hätte man doch bestimmt schon davon gehört. Immerhin hatte er in der Schule die Namen von zwei Männern gehört, die in dem Feuer gestorben waren - Feuerwehrmänner, die beim Einsatz auf tragische Weise ums Leben gekommen waren. Einer davon war der Onkel eines Mitglieds des Laufteams. Aber von Jeff Kina hatte niemand gehört.
Zu Hause angekommen, hatte er bei Josh angerufen, aber ein betrunkener Sam Malani hatte den Hörer abgenommen und krakeelt, dass er seinen Sohn schon zur Räson bringen werde, wenn der endlich nach Hause käme.
Michael hatte nicht wieder angerufen.
Dann, vor einer Stunde, hatte er wieder dieses komische Gefühl gespürt. Es war nicht so schlimm gewesen - nicht halb so schlimm wie damals, als er Asthma hatte -, aber beinahe hätte er seine Mutter angerufen. Er tat es dann doch nicht. Wenn sie ihn nicht gleich ins Krankenhaus brachte - »Vorsicht ist besser als Nachsicht« -, würde sie ihn spätestens morgen früh wieder zu Dr. Jameson schleppen.
Es war besser, wenn er schwieg. Morgen würde es ihm sicher wieder gutgehen.
Er drückte sich tiefer in das Sofa und versuchte sich wieder auf den Film zu konzentrieren.
Denk nicht mehr dran, sagte er sich, denk einfach nicht mehr dran. Mit deiner Lunge ist alles in Ordnung. Josh ist einfach nur sauer, und Jeff Kina hast du ja kaum gekannt.
Aber wie sehr er sich auch einzureden versuchte, dass alles in Ordnung sei, er musste doch immer an das eine Geschehnis denken, das diesem Gedanken so schrecklich widersprach:
Vorgestern nacht war Kioki Santoya gestorben.
Was, wenn auch Jeff und Josh tot waren?
Was dann?
Auf diese Frage wusste er keine Antwort.
Als sich Katharines Augen an die gedämpften Lichter gewöhnt hatten, die nachts Takeo Yoshiharas Anwesen matt beleuchteten, hielt das Fahrzeug soeben vor einer Tür am anderen Gebäudeflügel. Katharine sah, wie der Wachmann, der sonst immer hinter seinem Tisch in der Lobby saß, aus dem Gebäude trat und schnell auf das Fahrzeug zuging, das Katharine mittlerweile als kleinen Lieferwagen identifiziert hatte. Zwei Männer stiegen aus, ein weiterer kam aus dem Gebäude. Zu viert luden sie eine Kiste aus dem Heck des Lieferwagens aus.
Eine Kiste von etwa einem Meter Breite, einem Meter Höhe und zwei Metern Länge.
Unwillkürlich musste Katharine an einen Sarg denken, und auch wenn sie den Gedanken sofort verwarf, ließ er sich doch nicht so leicht abschütteln. In dem Raum neben ihr lag ein Skelett.
Das Skelett eines Wesens, das wie ein Mensch begraben worden war, auch wenn es nicht zur Gattung Homo sapiens gehörte.
Katharine ging den langen Flur von ihrem Büro zur Lobby entlang. Dann zögerte sie.
Was sollte sie tun? Die Tatsache, dass dieser Lieferwagen mitten in der Nacht vorfuhr, ließ darauf schließen, dass man es nicht sehr schätzen würde, wenn sie jetzt einfach hinausging und den Männern einen guten Abend wünschte.
Sie ging langsam zum Tisch des Wachmanns, der wie ein großer hölzerner Quader aussah und bis auf zwei Videomonitore völlig leer war. Vorsichtig umkreiste Katharine den Schreibtisch und glitt schließlich auf den Drehstuhl, der dahinter stand. Sie sah auf die Monitore.
Der linke zeigte das Haupttor des Anwesens. Katharine konnte sich nicht an irgendwelche Scheinwerfer erinnern, dennoch wirkte das Bild auf dem Monitor so hell, als sei es Tag.
Offenbar waren die Sicherheitskameras mit einer lichtverstärkenden Vorrichtung ausgestattet. Die Dunkelheit, in der das Tor lag, täuschte.
Auf dem anderen Bildschirm sah man nur eine Reihe grafisch dargestellter Knöpfe, von denen einige beschriftet waren, andere lediglich Symbole enthielten, und die anzeigten, wie man die Kameras bedienen konnte. Katharine berührte das Lupensymbol.
Sofort vergrößerte sich das Bild auf dem anderen Monitor, und die Kamera zoomte näher an das Haupttor heran.
Unter den beschrifteten Knöpfen wählte Katharine denjenigen aus, auf dem »Nordflügel« stand.
Die Knöpfe verschwanden, bis auf die, mit deren Hilfe die Kameras manipuliert wurden, und an ihrer Stelle tauchte ein Plan des Nordflügels auf. Katharine wählte den Raum, vor dem, wie sie glaubte, der Lieferwagen parkte, und berührte den Bildschirm.
Das Display reagierte sofort und zeigte ihr das Innere von Stephen Jamesons Büro.
Seines leeren Büros.
Sie berührte das Bild des Raums zwei Türen weiter und sah nun die beiden Männer aus dem Lieferwagen und die beiden Wachmänner auf dem Bildschirm. Sie stellten den Kasten auf einer Art Trage ab. Die beiden Wachmänner schoben nun die sargähnliche Kiste durch das Büro auf den Flur. Katharine schaltete auf eine Ansicht des Nordflurs um und erstarrte, als sie sah, dass die beiden Männer, der eine am vorderen, der andere am hinteren Teil des Sarges, direkt auf sie zukamen. Eine Sekunde später blickte der Wachmann, der sonst immer auf dem Stuhl saß, von dem Katharine aus nun die Monitore beobachtete, direkt in die Kamera, und Katharine beschlich das beklemmende Gefühl, dass er sie genauso deutlich sehen konnte wie sie ihn. Ihr Herz begann zu pochen, und sie musste dem Drang widerstehen, in die entgegengesetzte Richtung davonzulaufen, zurück in Robs Büro. Aber dann verschwanden die Männer und ihre Kiste - sie gingen nicht durch die Doppeltüren am Ende der Lobby -, und ihr wurde klar, dass sie keineswegs auf sie zugekommen waren. Sie bewegten sich genau in Gegenrichtung.
Aber wohin gingen sie?
Sie untersuchte den Kontrollmonitor und entdeckte einen Knopf mit der Aufschrift »UE«.
Untere Ebene? Was sonst. Dr. Jameson hatte am Morgen doch auch davon gesprochen, dass er »unten« noch etwas erledigen musste.
Sie berührte den Knopf, aber anscheinend ohne Resultat.
Auf dem rechten Bildschirm waren noch immer der Plan und die Kontrollknöpfe zu sehen, auf dem linken der jetzt leere Flur.
Doch Katharine war sicher, dass beide Bildschirme leicht geflackert hatten, als sie die Knöpfe berührt hatte. Als sie den Bildschirm näher untersuchte, fiel ihr auf, dass sich eines doch geändert hatte: Wo eben UE gestanden hatte, stand nun UE1.
Es gab also noch ein Stockwerk unter UE.
Wie um diesen Gedanken zu bestätigen, tauchten auf dem linken Bildschirm wieder die Wachmänner auf. Jetzt bewegten sie sich von der Kamera weg. Auf der Hälfte des Flurs öffnete sich eine Tür, und die beiden Männer schoben die Kiste hindurch. Wieder drückte Katharine einmal falsch, bevor sie den richtigen Raum fand, und wieder änderte sich das Bild auf dem Kameramonitor.
Offensichtlich handelte es sich um eine Art Labor.
Katharine beobachtete, wie zwei Männer in weißen Kitteln den Deckel der Kiste aufschraubten. Katharine betätigte einen der Knöpfe, welche die Kameras regulierten, und zoomte auf die Kiste. Als der Deckel hochgehoben wurde, stiegen aus dem Behälter Nebelwolken auf.
Trockeneis?
In der Kiste selbst war etwas in Plastik eingewickelt, was auch immer es sein mochte. Sie sah, wie vier Hände in Gummihandschuhen das Plastik entfernten.
Die Wachmänner sah sie nicht mehr.
Sie zog die Kamera auf den weitesten Winkel.
Sie waren verschwunden.
Katharine berührte erneut den Bildschirm und fand sie.
Sie kamen durch den Flur auf sie zu.
Nein, sie gingen in die andere Richtung, wahrscheinlich zum Fahrstuhl. Wie lange würde es dauern, bis sie wieder in diesem Stockwerk waren und in die Lobby zurückkehrten?
Eine Minute, zwei?
Mehr sicherlich nicht.
Sie berührte den Schirm und hatte wieder die Assistenten im Bild. Sie hatten die äußere Plastikhülle auseinandergewickelt und entfernten nun das Trockeneis, in dem der eigentliche Inhalt der Kiste steckte. Katharine hätte ihnen am liebsten zugerufen, sich zu beeilen, schneller zu arbeiten und die zweite Plastikhülle endlich zu entfernen, damit sie sah, was darunter lag. Sie bebte vor Ungeduld.
Mit zitterndem Finger schaltete sie wieder auf den Flur. Die Wachmänner warteten noch immer auf den Fahrstuhl. Gerade als sie ins Labor zurückschalten wollte, verschwanden die Männer aus dem Blickwinkel der Kamera.
Sie hatten den Fahrstuhl betreten und kamen hinauf.
Wie schnell, wusste sie nicht.
Sie schaltete zum Labor zurück. Endlich schienen die beiden Sanitäter mit dem Trockeneis fertig zu sein. Unbewusst den Atem anhaltend, blickte Katharine in die Kiste. Einer der Männer griff nach dem fast durchsichtigen Plastik, das einzige, was Katharine noch davon trennte, einen Blick auf die geheimnisvolle Ladung zu werfen, die mitten in der Nacht angeliefert worden war. Plötzlich hätte sie vor Frust fast aufgeschrien. Der Mann verschwand plötzlich aus dem Bild.
Der Zoom!
Mit zitternden Händen berührte sie die Abstimmungsknöpfe für die Kameras. Sie zoomten wieder heran, und das Bild wurde etwas schärfer. Doch dann beugte sich einer der Männer vor und versperrte ihr gänzlich die Sicht auf die Kiste. Aber kurz zuvor glaubte sie etwas gesehen zu haben.
Ein Gesicht.
Ein menschliches Gesicht?
Das zerknitterte Plastik hatte es zu sehr verzerrt, und sie hatte nur allzu kurz darauf blicken können.
Wieviel Zeit blieb ihr noch? Wenn sie wenigstens noch einen Blick auf die Kiste werfen könnte ...
Sie berührte den UE-Knopf und schaltete dann auf den Flur.
Die Wachen näherten sich bereits der Lobby.
Mit laut klopfendem Herz sprang Katharine auf und lief auf die Doppeltüren zu, die in den Südflur und schließlich in ihr Büro führten.
Der Bildschirm! Sobald die Wachen ihn sahen, würden sie wissen, dass sich jemand daran zu schaffen gemacht hatte. Sie drehte sich um und wäre in ihrer Hast, zu dem Schreibtisch zurückzukommen, fast gestolpert. Sie suchte den Bildschirm ab, bis sie den Knopf mit der Aufschrift »Zentral« fand. Sie drückte darauf, und augenblicklich erschien wieder das Menü, das sie vorgefunden hatte, als sie sich vor weniger als fünf Minuten an den Schreibtisch gesetzt hatte.
Das Tor!
Wo war der Knopf für das Tor?
Da, ganz unten, rechts.
Sie tippte mit dem Finger darauf, wartete noch ab, bis sich das Bild auf dem Monitor auch wirklich geändert hatte, und rannte dann durch die Lobby. Sie stieß die Doppeltüren auf, hielt sie hinter sich fest, damit sie nicht hin und her schwangen und lief dann den Flur hinunter zu ihrem Büro. Sie schloß auf, ging hinein und schaltete wieder das Licht an.
Nach Luft schnappend lehnte sie an ihrem Schreibtisch und wartete, bis sich Herz- und Pulsschlag beruhigt hatten. Dann nahm sie ihre Handtasche, schaltete das Licht aus, verließ ihr Büro zum zweitenmal innerhalb von zehn Minuten, schloß ab und ging abermals auf die Doppeltüren zu.
Einen Augenblick lang hatte sie das schreckliche Gefühl, dass die Wachen alles wussten und lächelnd auf sie warteten. Wenn sie ihr Fragen stellten, was sollte sie antworten? Dass sie sich Sorgen gemacht habe, weil der Wachmann nicht an seinem Schreibtisch gewesen sei?
Würden sie ihr das abkaufen?
Sie stieß die Türen auf und betrat die Lobby. Zu ihrer Erleichterung warteten die beiden Wachmänner nicht auf sie. Der, dessen Posten der Schreibtisch war, saß auf seinem Stuhl und blätterte in einem Magazin. Als er Katharine sah, schaute er auf.
»Dr. Sundquist, ich dachte, Sie wären schon gegangen.«
Klang seine Stimme mißtrauisch? »Ich musste noch was fertig machen«, entgegnete sie. Als sie die Lobby halb durchquert hatte, kam ihr plötzlich der Gedanke, wie sie jedes Mißtrauen ersticken konnte. »Was war das für ein Lieferwagen, der da vorhin gekommen ist?« fragte sie und drehte sich noch einmal um. »Ist es nicht furchtbar spät für eine Lieferung?«
Der Wachmann lächelte. »Das war einer von unseren Trucks. Der Fahrer hat hier nur gehalten, um uns zu fragen, wo er parken soll.«
»Nun, gut zu wissen, dass wir nicht die einzigen sind, die so spät noch arbeiten müssen«, sagte Katharine und erwiderte das Lächeln des Wachmanns. »Aber müde bin ich deshalb trotzdem.«
Der Mann lachte. »Ja, mich macht es auch nicht munterer, andere arbeiten zu sehen.«
Katharine sagte gute Nacht, verließ das Gebäude und ging schnell zu ihrem Wagen.
Der Mann hatte gelogen.
Offensichtlich sollte sie nicht erfahren, was hier vor sich ging. Aber was ging hier vor?
Und wie konnte sie es herausfinden?
Stand die Leiche - wenn es denn eine war -, die heute nacht angeliefert worden war, in irgendeiner Verbindung zu dem verstörenden Video und dem Skelett in ihrem Labor? Eine solche Verbindung herzustellen war doch lächerlich.
Aber sie hatte das Bild des anomalen Schädels von den Philippinen und die Bilder des ermordeten Wesens nicht vergessen. Ein Bild und ein Video, die hinter einem Paßwort in Dateien versteckt wurden, so wie das, was heute abend geliefert worden war, in einem Keller versteckt wurde, von dem sie bis eben nicht einmal gewusst hatte, dass es ihn gab.
Ihr Instinkt sagte Katharine, dass all diese Dinge miteinander zu tun hatten:
Die Leiche - wenn es eine war -, die eben geliefert worden war.
Der Mutant - wenn es einer war -, der auf den Philippinen getötet worden war.
Und das Skelett, das sie selbst hier auf Maui ausgegraben hatte.
Aber wie konnte sie herausfinden, worin die Verbindung zwischen alledem bestand? Während sie im Dunkeln auf das Haupttor zufuhr, überlegte sie nicht nur, wie sie sich Zugang zu den versteckten Dateien zu verschaffen vermochte, sondern auch, wie sie sich Zutritt zur unteren Ebene des Nordflügels verschaffen konnte. Sie fuhr langsamer und wartete darauf, dass das Tor sich öffnete. Illusionen machte sie sich keine mehr. Hier wurde alles weitaus strenger bewacht, als Rob Silver angenommen hatte.
Als sie diesmal durch das dunkle Tor fuhr, wusste sie, dass die Wache in der Lobby sie auf dem Monitor wie im hellen Tageslicht sah. Sie fröstelte. Und obwohl sie sich immer wieder sagte, dass es dumm sei, konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, beobachtet zu werden, bis sie die schmale Straße des Anwesens verlassen und den Hana Highway erreicht hatte. Selbst dann konnte sie das Gefühl nicht ganz abschütteln, und auf der Fahrt nach Makawao sah sie immer wieder in den Rückspiegel, um sich davon zu überzeugen, dass niemand sie verfolgte.
Obwohl sie niemanden sah, hatte sie Angst.
Als Katharine nach Hause kam, lief der Fernseher, aber Michael lag schlafend auf dem Sofa, und als sie sich über ihn beugte und ihn auf die Stirn küßte, rührte er sich nicht. Sie ließ ihre Ledertasche neben dem Sofa zu Boden fallen und schaltete den Fernseher aus. Dann ging sie in die Küche. Sie hatte Hunger. Die Überreste einer Pizza, nicht ganz die Hälfte, lagen in einer mittlerweile durchweichten Pappschachtel auf der Theke. Katharine schaufelte zwei Stücke auf einen Teller und stellte ihn in den Mikrowellenherd. Während die Pizza erhitzt wurde, goß sie sich ein Glas Wein ein. Sie nahm den Teller mit ins Wohnzimmer, stellte ihn auf dem Couchtisch ab und wollte sich schon auf den Boden setzen und essen. Doch dann ging sie durch das ganze Haus und schloß alle Fenster und Türen zu. Schließlich zog sie noch die Vorhänge zu.
Bevor sie den letzten schloß, sah sie in die Nacht hinaus. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass jemand sie beobachtete.
Lächerlich, sagte sie zu sich selbst. Dort draußen ist niemand. Dich beobachtet keiner.
Aber es gelang ihr nicht, die Paranoia zu vertreiben, die sie seit dem Verlassen des Forschungspavillons ergriffen hatte. Sie schloß den Vorhang und ging zurück, um die Pizza zu essen, die Michael ihr übrig gelassen hatte.
Gerade hatte sie das erste Stück verspeist, als Michael sich bewegte. Der Rhythmus seines Atems änderte sich, er klang unruhig und angestrengt. Plötzlich fuchtelte er mit Armen und Beinen in der Luft herum. Katharine fuhr zusammen. Sie fürchtete, dass sich die schreckliche Szene von gestern, als er in die Dunkelheit geflohen und erst Stunden später zurückgekommen war, wiederholen könnte. Sie stand auf und kniete sich neben ihn. »Michael«, sagte sie und legte ihm die Hand auf die Brust. »Michael, wach auf! Du hast einen bösen Traum.«
Er stöhnte und versuchte sich abzuwenden, aber sie hielt ihn an der Schulter fest und schüttelte ihn. »Michael! Wach auf!«
Michael zuckte zusammen und richtete sich abrupt auf. Überrascht starrte er sie an.
»Was war los?« fragte Katharine. »Wovon hast du geträumt?«
»Vom Nachttau ...«, begann Michael, unterbrach sich aber sofort.
»Wovon?« Katharine sah ihn streng an. Sie wusste nicht, was er meinte, aber sie würde es erfahren.
Michael wurde rot. Wenn seine Mutter ihn so ansah, hatte es keinen Sinn, sie anzulügen. »Ich war nachttauchen«, sagte er schließlich.
»Nachttauchen?« wiederholte Katharine verständnislos. Als ihr die Bedeutung der Worte klar wurde, weiteten sich ihre Augen. »Du meinst, du bist nachts tauchen gewesen?«
Michael zögerte kurz und nickte dann zerknirscht. »Mit Josh Malani und ein paar anderen Jungen.«
»Welchen anderen?« fragte Katharine.
Michael zögerte erneut. »Jeff Kina und Kioki Santoya. Und Rick Pieper.«
Katharine glaubte, die beiden ersten Namen schon einmal gehört zu haben. Aber noch bevor sie danach fragen konnte, gab Michael die Antwort.
»Kioki ist der Junge, den seine Mutter gestern morgen im Zuckerrohrfeld fand.«
Katharine erinnerte sich, dass sie im Radio davon gehört hatte. »Und in der Nacht davor warst du tauchen?« fragte sie. »Als du so spät nach Hause gekommen bist?«
Michael nickte.
»Und davon hast du vorgestern geträumt? Und eben?«
Michael nickte erneut.
Katharine sah ihn an. »Ist beim Tauchen irgendwas passiert?« fragte sie.
Michael überlegte, aber dann wurde ihm klar, dass allein sein Zögern ihr bereits sagte, dass es bei dem verbotenen Tauchen einen Zwischenfall gegeben hatte. »Nichts Ernstes«, sagte er. »Die Sauerstoffflaschen waren nicht ganz gefüllt, und deshalb mussten wir früher raus. Keine große Sache, wirklich.«
»Aber du hast deswegen Alpträume«, sagte Katharine. »Und nach dem, was mit Kioki geschehen ist...«
Michael stöhnte auf. »Ach, hör auf, Mom, sie wissen doch noch gar nicht, was Kioki passiert ist.«
Katharine sah ihren Sohn ernst an. Er hatte sie nicht nur angelogen, sondern auch etwas sehr Dummes und Unverantwortliches getan. Eigentlich sollte sie ihm Hausarrest verpassen, dachte sie, ihm sämtliche Strafen aufbrummen, die es gab, damit sie sicher sein konnte, dass er so etwas nie, nie wieder tun würde. Aber nachdem sie letzte Nacht kaum geschlafen hatte, fühlte sie sich einfach nicht in der Lage, das jetzt durchzuziehen. Außerdem war sie erleichtert, dass ihm nichts passiert war. Er lebte, und er war bei ihr. Und vielleicht war es zum Teil auch ihre Schuld, dass er ihr nichts erzählt hatte - schließlich hatte sie ihn jahrelang allzusehr behütet. Wenn Rob Silver sich nicht eingemischt hätte, hätte sie Michael das Tauchen sowieso verboten.
Die Erschöpfung, die sich den Tag über in ihr ausgebreitet hatte, gewann langsam die Oberhand, und sie kam zur der Einsicht, dass diese Sache auch bis morgen warten konnte. »Geh ins Bett«, sagte sie. »Geh ins Bett und schlaf dich aus.« Dann hatte sie eine Idee. »Hör zu, Michael, du bist derjenige, der Mist gebaut hat, und deshalb wirst du dir deine Strafe dafür selbst aussuchen. Ich bin jetzt einfach zu müde und zu zornig, um mich damit zu beschäftigen. Also, laß dir was einfallen.«
Michael sah sie an, und so wie er sie ansah, wusste sie, dass sie eine sehr gute Antwort gefunden hatte; was immer er sich schließlich aufbürden würde, es würde sicherlich alles übertreffen, was sie sich hätte ausdenken können.
»Okay«, sagte er schließlich. »Das ist wohl nur fair.« Er stand auf und hatte fast schon sein Zimmer erreicht, als er noch einmal zurückkam, sich hinabbeugte und ihr einen Kuß auf die Wange gab. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich hätte es nicht machen sollen, und ich hätte es dir sagen müssen.« Er richtete sich wieder auf. »Nacht«, sagte er leise, als er wieder zu seinem Zimmer ging.
»Michael?«
Er drehte sich zu ihr um.
»Sei nicht ganz so streng mit dir. Ein ganzes Jahr Hausarrest wäre wirklich zu viel.«
Als sie ein paar Minuten später ins Bett fiel, fühlte sich Katharine derart erschöpft, dass sie nicht einschlafen konnte. Nach einer Weile stand sie auf und öffnete alle Fenster, um frische Luft ins Haus zu lassen. Aber mittlerweile wehte ein Kona-Wind und brachte den leicht nach Säure riechenden Smog mit sich, der aus dem Vulkan von der Großen Insel kam.
Bevor sie wieder ins Bett ging, lauschte sie kurz an Michaels Tür. Sie selbst fand vor Erschöpfung keine Ruhe, aber ihr Sohn schlief tief und friedlich.