KAPITEL 15

Katharina war sofort hellwach, und sie wusste im selben Augenblick, was sie aufgeschreckt hatte.

Schließlich war sie schon häufig so aus dem Schlaf gerissen worden.

Zu oft, als dass sie sich an all diese Male erinnern wollte.

Sie lag in der Dunkelheit und betete darum, dass sie sich irrte, dass es nicht wieder geschah. Sie lauschte.

Aber dann hörte sie es - das Geräusch, das sie geweckt hatte.

Es kam aus Michaels Zimmer, und es war das schreckliche, stoßweise Hecheln eines Menschen, der nicht genug Luft bekommt.

Sie schwang sich aus dem Bett, zog den Morgenmantel über, der auf einem Stuhl in der Ecke lag, und lief in Michaels Zimmer.

Ein silbriger Glanz umhüllte ihn. Er wusste, dass er wieder im Wasser war.

Er wusste auch, dass es Nacht war.

Und dass er allein war.

Voller Schrecken fiel ihm ein, dass man niemals allein tauchen sollte.

Er drehte sich im Wasser um und versuchte die Orientierung wiederzufinden.

Wo war der Grund? Er spähte in die Tiefe hinab, aber der Silberglanz schien alles zu umhüllen. Es gab keine Fische, keine Korallenbänke, keinen Sand, der von der Strömung geriffelt wurde.

Er drehte sich um und schaute nach oben. Aber auch dort sah er nichts als die endlose Silberschicht, die alles zu bedecken schien.

Er spürte, wie sein Herz schneller schlug, konnte es laut in der Stille der Tiefe hören.

Wie tief mochte es sein?

Er trug keinen Taucheranzug, nicht einmal einen Thermopenanzug.

Der Puls des Schreckens pochte laut in seinen Ohren, als ihm klar wurde, dass er nicht nur allein war, sondern auch nicht länger in der sicheren Umgebung der kleinen Bucht am Ende des Lavagesteins.

Er war allein in der Weite des Ozeans.

Nicht ganz allein.

In der Nähe spürte er die Präsenz eines anderen Wesens.

Er konnte es nicht sehen, aber es musste da sein.

Panik ergriff ihn, als packten ihn Tentakel auf der Suche nach Beute.

Er drehte sich im Wasser und versuchte einen Blick auf das Unbekannte zu erheischen. Dann sah er es: eine bleiche Gestalt, die ihn ansah.

Die Tentakel der Angst umschlangen ihn.

Erneut spürte er die Präsenz des Fremden, diesmal näher, und wirbelte im Wasser umher.

Dann sah er es kurz, doch es verschwand wieder.

Und dann sah er viele von diesen Gestalten. Geister im Wasser, fast formlos, fast konturlos, die auf ihn zustrebten.

Er musste ihnen entkommen.

Er begann zu schwimmen, aber das Wasser schien sich in Schleim verwandelt zu haben, so dass er Arme und Beine kaum bewegen konnte. Dann spürte er etwas Klammes an seinem Schenkel, spürte, wie eines der Wesen ihn berührte. Er versuchte sich loszureißen.

Jetzt waren sie alle um ihn herum und schmiegten sich so dicht an ihn, dass er sich nicht mehr bewegen, nicht mehr atmen konnte.

Luft!

Ihm ging die Luft aus!

Er verdoppelte seine Anstrengungen, um die Geister zu vertreiben, aber sie hatten sich bereits um seine Brust gewickelt und drückten so fest, dass er bald ersticken würde.

Er würde sterben, allein im Meer ertrinken.

Noch einmal holte er aus, und diesmal schaffte er es, sich selbst aus dem Alptraum zu reißen, in dem er gefangen gewesen war.

Er erwachte, rollte sich aus dem Bett und blieb eine Weile auf dem Boden liegen, nach Luft schnappend. Noch immer schienen ihn die Geister zu umklammern.

Seine Decke.

Er zerrte daran, machte sich schließlich frei und warf sie von sich, ohne jedoch besser Luft zu bekommen.

Der Alptraum schien ihn noch im Griff zu haben, obwohl er doch hellwach war.

Plötzlich erfüllte gleißendes Licht sein Zimmer, und in dem grellen Schein sah er einen der Geister aus dem Meer. Die Erscheinung beugte sich über ihn, fast unsichtbar in der Helligkeit, die sie umgab.

Mit einem schmerzhaften Aufbäumen gelang es Michael schließlich, Luft in seine zugeschnürte Lunge zu atmen. Er rappelte sich auf, stürzte auf das Fenster zu, riß es auf und floh in die Nacht hinaus.

»Michael!« schrie Katharine, als ihr Sohn aus dem Fenster sprang. »Michael, warte! Ich will dir helfen!«

Wenn er sie überhaupt hörte, reagierte er jedenfalls nicht, und als sie am Fenster stand, hatte ihn bereits die Dunkelheit verschluckt.

Katharine knotete ihren Morgenmantel fester zu, nahm ihre Taschenlampe aus einer Schublade und ging auf die Veranda hinaus. Sie schaltete das Außenlicht an, machte es aber sofort wieder aus, da es so sehr blendete, dass sie jenseits des Lichtscheins gar nichts erkennen konnte. Als ihre Augen sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, schaltete sie die Taschenlampe an und ließ den Strahl über die kleine Lichtung wandern, in deren Mitte das Haus stand.

Nichts.

Nur die Schatten der Eukalyptusbäume, der alten Bäume, die sie wie Riesen aus einem dunklen Märchen umringten. Als das Licht zwischen ihren knorrigen Zweigen hindurch huschte, schienen sie zum Leben zu erwachen. Sie bewegten sich und streckten ihre Glieder nach ihr aus.

Es sind doch nur Bäume, sagte sie sich.

»Michael!« rief sie. »Michael, komm zurück.«

Sie bekam auch diesmal keine Antwort, doch sie war sicher, dass er sie noch hören konnte. Aber warum hörte sie nicht, wie er durch den Eukalyptuswald lief?

Nun fiel ihr ein, dass er barfuß war und den Boden ein dichter Laubteppich bedeckte, der sich durch den Regen der letzten Tage so mit Wasser vollgesogen hatte, dass man selbst mit Schuhen fast lautlos darauf lief.

Sie ging um das Haus herum. Dann trat sie an den Rand der Lichtung und ging auch diese im Kreis ab. Sie leuchtete in das dichte Blattwerk und versuchte so weit wie möglich hineinzuspähen.

Schließlich ging sie zum Haus zurück. Sie stand auf der Veranda und überlegte, was sie tun sollte.

Den Wald absuchen?

Aber wenn sie in den Eukalyptuswald und den dahinter beginnenden Regenwald ging, dann verirrte sie sich womöglich selbst.

Sollte sie die Polizei rufen?

Aber was konnte sie den Polizisten erzählen? Dass ihr asthmatischer Sohn mitten in der Nacht davongelaufen sei? Wenn sie sein Alter erfuhren, würden sie ihr auf alle Fälle raten, am nächsten Morgen wieder anzurufen.

Doch was hatte Michael eigentlich dazu getrieben davonzulaufen?

Offenbar hatte er wieder einen Alptraum gehabt, einen weitaus schlimmeren als den ersten. Sie hatte ihn kaum richtig gesehen, bevor er durch das Fenster geklettert war, aber die Furcht in seinen Augen war ihr nicht entgangen.

Mit vor Angst aufgerissenem Mund hatte er sie angestarrt, als sei sie ein teuflischer Geist, der ihn angriff.

Und dann war er aus dem Fenster hinaus, hatte sich auf der Veranda abgerollt und war wieder aufgesprungen, über die Lichtung gerannt und schließlich in der Dunkelheit der Nacht und des Waldes verschwunden.

Falls der Wald sein Ziel war.

Er trug nichts außer Jockey-Shorts.

Zum erstenmal bereute sie es, ein freistehendes Haus gemietet zu haben. Warum hatte sie das nur getan? Wenn es hier Nachbarhäuser gäbe, wären rings herum auch Straßenlaternen, und dann hätte sie ihn sehen können und zumindest gewusst, in welche Richtung er gelaufen war.

Nachbarn hätten ihn vielleicht auch gesehen, hätten sich Sorgen um den Jungen gemacht, der halbnackt durch die Nacht lief.

Aber hier war nichts als die Dunkelheit, in der er sich verstecken konnte, und an den wenigen verstreuten Häusern konnte er leicht vorüberschleichen, ohne gesehen zu werden.

Vielleicht sollte sie einfach nur warten.

Vielleicht würde er einfach umkehren, wenn ihn der Terror seines Traumes schließlich losgelassen hatte.

Als sich Katharine umdrehte, um wieder ins Haus zu gehen, merkte sie, dass ihre Augen brannten. Als sie mit der Hand darüberrieb, merkte sie noch etwas anderes.

Der Wind hatte sich gelegt, die Blätter der Eukalyptusbäume raschelten nicht mehr. Bis auf das entfernte Quaken von Fröschen und das Zirpen der Insekten war alles still.

Die Luft war schwer von dem Staub und den Gasen, die der Vulkan auf der Großen Insel ausgespuckt hatte.

Wenn schon ihre Augen davon brannten, welche Wirkung hatte dieses Gemisch dann auf Michael? War es das? War er aufgewacht, weil ihm die verschmutzte Luft den Atem genommen hatte? Sie hatte es ja gerade selbst gespürt.

Sie ging ins Haus, schloß hinter sich die Tür und schaltete alle Lichter drinnen und auf der Veranda ein, bis das Haus wie ein Stern in der Dunkelheit strahlte.

So würde Michael das Haus auf jeden Fall auch von weitem sehen.

Dann setzte sie sich hin und wartete. Sie fragte sich, wie lange sie es wohl aushalten würde, allein auf ihn zu warten, und wen sie anrufen sollte, wenn sie es nicht länger aushielte.

Aber sie wusste natürlich, wen sie anrufen würde.

Rob Silver.

Er würde kommen und ihr helfen, und er würde Michael helfen.

Falls sie ihn finden würden.

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