KAPITEL 22

Takeo Yoshihara erwachte, als die Morgendämmerung den Himmel im Osten erhellte. Er stand jeden Tag so früh auf. Ohne die geringste Spur von Müdigkeit schwang er sich aus seinem Bett und zog ein Aloha-Hemd, weiße Hose und Sandalen an, seine Uniform für Maui. Dann begab er sich in den kleinen Speisepavillon. Wie immer bestand sein Frühstück aus Miso-Suppe, Fisch und Tee.

Während des Essens informierte er sich über den Zustand der Finanzmärkte und überflog die zahllosen Berichte, die über Nacht aus aller Welt eingetroffen waren.

Er stellte fest, dass er um dreißig Millionen Dollar reicher geworden war, seit er gestern zu Bett gegangen war.

Er legte den letzten Bericht beiseite und trank seinen Tee aus. Dann ging er durch den Garten in sein Forschungszentrum. Einmal blieb er kurz stehen, um eine verwelkte Orchideenblüte aufzuheben, welche die Filipino-Gärtner offenbar übersehen hatten.

Durch die Haupttür trat er in den Forschungspavillon, nickte dem Wachmann zu, als er an dessen Tisch vorbeiging, stieß die Doppeltür zum Südflur auf und ging weiter, bis er am anderen Ende vor dem Fahrstuhl stand. Dort zog er seine Brieftasche hervor und führte sie an einer unscheinbaren grauen Platte vorbei, die über dem Rufknopf eingelassen war. Ein rotes Licht über der Platte verwandelte sich umgehend in ein grünes. Eine Sekunde später öffnete sich die Fahrstuhltür. Yoshihara betrat die Kabine, und die Tür schloß sich.

Kaum eine Minute darauf stand er in dem Labor, in das gestern nacht die längliche Holzkiste gebracht worden war. Die Kiste war mittlerweile verschwunden, ebenso wie das Trockeneis und die Plastikfolien, die als Verpackung gedient hatten.

Nur ein Körper lag auf dem Tisch, allerdings nicht mehr in seinem ursprünglichen Zustand.

Als sich die Labortür öffnete, blickte Stephen Jameson auf. Überrascht sah er auf die Uhr. Er wunderte sich, seinen Arbeitgeber zu sehen.

Fast halb sieben.

Mit einem Schlag spürte Jameson die Anstrengungen der nächtlichen Autopsie. Er nahm seine Brille ab, rieb sich die Augen und streckte sich.

Yoshihara nickte dem Arzt kurz zu und trat an den Tisch, um einen Blick auf die Überreste der Leiche zu werfen, die er hatte ausgraben und nach Maui schicken lassen. Falls der Anblick ihm Unbehagen bereitete, ließ er sich nichts anmerken.

Die Leiche war vom Unterleib bis zum Hals aufgeschnitten, und alle inneren Organe waren entnommen worden. Das Rippengitter war geöffnet und ausgebreitet worden, um leichten Zugriff auf Lunge und Herz zu ermöglichen. Übriggeblieben war nur eine große gähnende Höhle. Da sie vollkommen blutleer war, machte die Leiche den Eindruck, als wäre sie nie lebendig gewesen. Im Gegenteil, der Tote wirkte eher künstlich, als wäre das, was da auf dem Tisch lag, nicht aus Fleisch und Blut, sondern aus Wachs.

Aber Yoshihara wusste, dass es sich um einen Menschen handelte, der gelebt hatte. Er hatte Bilder gesehen, die den Jungen zeigten und erst vor wenigen Wochen aufgenommen worden waren. Ein männlicher Weißer, siebzehn Jahre alt, über einen Meter achtzig groß, mit den breiten Schultern und schmalen Hüften eines Athleten. Auf einem Bild zeigte der Junge ein breites Lächeln. Er hatte vollkommene weiße Zähne, Sommersprossen und ein Grübchen im Kinn. Zusammen mit den blauen Augen und den blonden Haaren sah er aus wie der typische kalifornische Surfer.

Auch als Leiche sah der Junge noch gut aus.

Sein blondes Haar war für die Beerdigungszeremonie ordentlich gekämmt und in Form gebracht worden. Durch die Verpackung war es etwas verrutscht, und noch bevor Yoshihara genau wusste, was er eigentlich tat, beugte er sich herab und strich ihm die störrischen Locken aus der Stirn.

Die Totenbleiche war fachmännisch überschminkt, und die Wangen des Jungen glühten so rosig, als würde er jeden Moment aufwachen.

Das Grübchen im Kinn war so deutlich wie auf dem Foto. Nur die Sommersprossen sah man auf dem ernsten Gesicht nicht mehr.

Yoshihara wandte sich an Jameson, der einen braunen Umschlag in der Hand hielt. »Haben Sie die genaue Todesursache schon feststellen können?«

Jameson öffnete den Umschlag und überflog die Laborergebnisse. Seine Mitarbeiter hatten die ganze Nacht über daran gearbeitet und die Proben analysiert, die Jameson bei der Autopsie jedem Organ entnommen hatte.

Fast alle Organe des Jungen hatten sich als gesund erwiesen, wie es der erste Eindruck hatte vermuten lassen. Die Testergebnisse enthielten keinerlei Hinweise auf Krankheiten oder toxische Substanzen.

Oder zumindest keinerlei Hinweise auf Substanzen, die einen Siebzehnjährigen hätten töten können.

Kein Strychnin, kein Zyanid oder andere Gifte.

Auch keine Drogen. Kein Heroin, kein Kokain, keine Aufputsch- oder Beruhigungsmittel.

Nicht einmal Alkohol oder Haschisch.

Dennoch zeigten die Laborberichte eindeutig, woran der Junge gestorben war.

»Die Todesursache«, sagte er, »war eine allergische Reaktion auf die betreffende Substanz.« Er lächelte Yoshihara zufrieden an. »Als der Krankenwagen kam, versuchte seine Mutter gerade, ihn aus seinem Wagen zu ziehen, der mit laufendem Motor in der geschlossenen Garage stand.«

Yoshihara nickte. »Also haben sie ihm Sauerstoff gegeben.«

»Und er ist gestorben«, sagte Jameson.

»Und das Wetter in Los Angeles an jenem Tag?« fragte Yoshihara.

Jameson lächelte dünn. »Fast perfekt. Santa-Anna-Bedingungen. Die Wetterberichte sprachen von kristallklarer Luft und einem Tag, wie ihn Los Angeles kaum noch erlebt.«

»Aber nicht gut für unseren Probanden«, lautete Yoshiharas Kommentar. »Was wäre geschehen, wenn er keinen Sauerstoff bekommen hätte?«

»Schwer zu sagen«, antwortete Jameson. »Aber es scheint, als würden sich unsere neuen Probanden besser machen. Von den Fünfen geht es bis jetzt vieren offensichtlich gut. Die Luft in Mexiko City ist natürlich in den vergangenen fünf Tagen sehr schlecht gewesen, aber in Chicago war sie ziemlich gut.«

»Und wie lange sind sie dort?«

»Nur zwei Tage«, sagte Jameson.

»Interessant. Was ist mit dem Jungen von hier, der gestorben ist? Wie hieß er doch noch?«

»Kioki Santoya«, sagte Jameson. »Er hat natürlich keinen Sauerstoff bekommen - er war ja bereits tot, als seine Mutter ihn fand. Aber unsere Untersuchungen haben gezeigt, dass seine Lunge in einem sehr ähnlichen Zustand wie die des Probanden ist.« Er wandte sich der Leiche auf dem Seziertisch zu.

Takeo Yoshihara überlegte. Schließlich sagte er: »Die beiden anderen Jungen von hier - ich will sie sehen, und zwar nicht nur auf den Monitoren, sondern direkt.«

Stephen Jameson zog die Augenbrauen zusammen. »Ich bin nicht sicher, ob das eine gute Idee ist«, sagte er. »Wenn einer der beiden sie erkennt ...«

»Das spielt keine Rolle«, unterbrach ihn Yoshihara. »Schließlich ist es recht unwahrscheinlich, dass sie uns verlassen werden, oder?«

Stephen Jameson schwieg. Er zog es vor, seinem Arbeitgeber nicht zu widersprechen. »Wie Sie wünschen«, sagte er schließlich und führte Takeo Yoshihara durch eine Tür. Sie kamen durch einen Raum, in dem Tanks mit Druckgas und eine große Pumpe standen. Dann betraten sie einen weiteren Raum, in dem sich lediglich ein großer Kasten aus Plexiglas befand.

In dem Kasten waberte bräunlicher Nebel.

In diesem Dunst zeichneten sich langsam die Gestalten zweier nackter Jungen ab, die schlafend auf dem Boden lagen, die Köpfe auf den Armen ruhend. Doch noch während Takeo Yoshihara sie betrachtete, öffnete der größere der beiden, der, wie Yoshihara feststellte, polynesischer Abstammung war, die Augen. Er hockte sich auf den Boden, als wolle er sie anspringen.

Wie ein Tier, dachte Yoshihara. Wie ein wildes Tier, das Gefahr wittert. Er trat näher an den Kasten, wie man sich im Zoo einem Affenkäfig nähert.

Der Junge sprang ihn mit ausgestreckten Armen an, als wolle er ihn packen und würgen, aber im nächsten Augenblick prallte er gegen die Plexiglaswand und stürzte mit einem Schmerzensschrei zu Boden.

Mittlerweile war auch das andere, kleinere Exemplar aufgewacht und starrte mit vor Wut funkelnden Augen durch das Plastik.

»Und wir wissen immer noch nicht, wie sie mit unserem Experiment in Berührung gekommen sind?« fragte Yoshihara und wandte sich wieder Jameson zu.

»Da sie es sicherlich selbst nicht wissen ...«, begann Jameson, aber Yoshihara unterbrach ihn ein weiteres Mal.

»Es ist mir egal, was sie wissen«, sagte er. »Ich will wissen, wie sie mit unserem Präparat in Verbindung kommen konnten. Finden Sie es heraus. Bis heute abend will ich eine Antwort haben. Ist das klar?«

Stephen Jameson schluckte nervös. Dann nickte er zustimmend. Er wusste, dass ihm gar keine andere Möglichkeit blieb.

»Gut«, sagte Yoshihara leise. Ohne die beiden Jungen in dem Plexiglaskasten eines weiteren Blickes zu würdigen, machte er sich auf den Rückweg. Als er in der Lobby ankam, entschloß er sich, eine Weile im Garten zu verbringen.

Er hatte noch eine Stunde Zeit bis zum Abflug. Abgesehen von dem kleinen Problem mit den Jungen lief alles ausgesprochen gut. Und selbst dieses Problem konnte unter Verschluß gehalten werden.

»Unter Verschluß halten«, sagte er leise vor sich hin. Es wäre besser gewesen, alle Probanden weit weg von Maui unter Verschluß zu halten. So war es ursprünglich auch geplant gewesen, aber da der Fehler nun einmal gemacht worden war - und er würde genau untersuchen, wie es dazu gekommen war -, sah er nicht ein, warum er den Fehler nicht zu seinem eigenen Vorteil nutzen sollte.

Solange sie lebten, waren die beiden jungen Männer dort unten im Labor wertvolle Versuchsobjekte.

Solange sie noch lebten.

Takeo Yoshihara bedeutete das Leben von Jeff Kina und Josh Malani überhaupt nichts. Weitaus wichtiger - das einzige, was zählte - waren die wissenschaftlichen Daten, die ihre Leichen hergeben würden.

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